Sonnabend, 24. 2. 90


Lieber Jo!

Gestern kam Barrista die lange Treppe des katholischen Pfarramtes heruntergesprungen, als wären wir verabredet. Der Mann, mit dem er vor der Tür gesprochen hatte, beobachtete uns, ohne sich von der Stelle zu rühren. Deshalb glaubte ich, Barrista werde wieder zu ihm zurückkehren. Er aber bat, sich mir anschließen zu dürfen, und saß auch schon auf dem Sozius, der Wolf hinter uns in der Mitte. Er habe einen Fund gemacht,»eine Madonna«, sagte Barrista,»eine Madonna, Herr Türmer, eine Madonna … Und niemand weiß, woher sie stammt. «Er war nicht wiederzuerkennen, so lebendig sprach er, ganz ohne Akzent und Gespreiztheit.

Ihm sei es gleichgültig, wohin ich fahre, keinesfalls solle ich Rücksichten nehmen, notfalls werde er warten und den Hund ausführen. Als ich vor Anton Larschens Gehöft hielt, unterbrach ich Barrista in seiner Madonna-Schwärmerei. Er überhörte meine Worte und folgte mir samt Wolf. Ich mußte deutlicher werden und ihn bitten, mich ein paar Minuten zu entschuldigen. Prompt blieb er mitten auf dem Hof stehen, murmelte irgendetwas und schien erst jetzt zu bemerken, wohin er geraten war. Ein paar Hühner nahmen Reißaus, und nebenan kläffte ein Hofhund. Anton Larschen erschien, noch bevor ich die Klingel an der Haustür gefunden hatte. Er faßte mich am Ellbogen und führte mich zu einer niedrigen Tür, kommandierte Barrista heran und beharrte darauf, uns als Gäste bewirten zu dürfen.»Zehn Minuten!«rief er und kletterte vor uns eine steile Stiege hinauf, die ich aus freien Stücken nicht betreten hätte. Auch Barrista zögerte. Der niedrige Raum war völlig überheizt, das Bett, der einzige Gegenstand von normaler Größe, erschien riesig. Anton Larschen beeilte sich, ein drittes Gedeck aufzulegen, schloß den obersten Knopf seiner Jacke und zupfte an beiden Hosenbeinen. Er trug keine Strümpfe, bei jedem Schritt zeigte sich eine nackte Ferse in den Filzpantoffeln. Die Spitze seines weißen Haarturms streifte die Deckenbalken.»Bitte!«rief er. Wir nahmen an dem Tischlein Platz, er verschwand wieder nach unten.

«Bonfortionös!«flüsterte Barrista und hielt die Tasse gegen das Licht. Ich weiß nicht mehr den Namen, doch offenbar besaß Larschen chinesisches Porzellan. Das Zimmer wirkte wie ein Museum, so perfekt war die Ordnung. Nur auf dem Radio herrschte Chaos: ein ramponiertes Messemännlein, ein Karlsbader Trinkbecher, ein Flaschenschiff, ein Stopfpilz, eine Strohpuppe, ein paar gerahmte Photos und anderes mehr standen oder lagen dort durcheinander. Der Wolf hatte sich vor einem dunkelblau bezogenen Sessel ausgestreckt und blinzelte in die Lichtbalken, die Fenster waren kaum größer als Dachluken. Ich wollte Barrista gerade etwas über Larschen sagen, als dieser mit der Teekanne in der Hand schon wieder die Stiege erklomm. Er reichte uns einen Teller mit Anisplätzchen und Ingwergebäck (Barrista wußte Bescheid!). Dies, wie auch der Tee und der Krokantzucker, stammten von Verwandten aus Bremen, erklärte Larschen.

Barrista bat um Vergebung für sein Eindringen, wurde aber von Larschen, für den er zu leise gesprochen hatte, mit dem Ausruf unterbrochen, wie sehr er sich freue, gleich zwei Gäste in seinem bescheidenen Haus begrüßen zu dürfen. Ja, geehrt fühle er sich, und begann eine Rede, die er offenbar vorbereitet hatte. Dabei hielt er eine Mappe im Arm und strich unentwegt darüber, als müßte er sie säubern und ihre Ecken glattbügeln. Mit geradezu beängstigender Offenheit schilderte er dann, was er den dramatischen Höhepunkt seines» kleinen Werkes «nannte, nämlich die gescheiterte Flucht in den Westen. Sie sollte ihm nicht nur eine Landwirtschaft nach eigener Vorstellung verschaffen. Mit ihr war auch die Erfüllung seiner Liebe zu einer verheirateten Frau verbunden. Denn diese Frau war nicht bereit gewesen, sich scheiden zu lassen, wohl aber mit ihm zu fliehen. Sie wurden verraten, verhaftet, verhört. Im Gerichtssaal erkannte er seine Liebste nicht wieder. Ihr Haar war schlohweiß geworden. Er kenne die Leute, die sie verraten hatten, ein Wissen, das ihm keine Stunde der verlorenen Jahre zurückgebe. Er empfinde dieses Wissen als zusätzliche Strafe. Mehrmals gebrauchte Larschen den Ausdruck» meine Wenigkeit «und fragte zum Schluß, ob ich denn bereit sei, einen Blick auf» seine Memoiren «zu werfen. Ich erinnerte ihn daran, daß ich ja deshalb gekommen sei. Barristas Wolf, der anfangs mehrmals wegen Larschens Redeweise — kaum ein Satz, den er nicht mit Nachdruck spricht — aufgeschreckt war, bewegte im Traum seine Pfoten.

Als wir die Stiege hinunterkletterten, schlug die Standuhr elf Mal. Seit unserer Ankunft waren genau zwanzig Minuten vergangen.

Barrista hatte für Larschen erneut zu leise gesprochen und war deshalb ohne Antwort auf seine Frage geblieben, ob er, Barrista, das Manuskript ebenfalls lesen dürfe.»Wenn es nur halb so gut ist wie seine Erzählung«, sagte er,»müssen Sie es drucken!«Er meinte sogar, wir sollten ein Buch daraus machen. Barrista dankte mir überschwenglich. Ich könne mir gar nicht vorstellen, wieviel ihm diese Begegnung bedeute. Und ob ich den Stopfpilz gesehen habe? Der habe ihn regelrecht gerührt. Er selbst habe auch immer Stopfzeug dabei, nicht weil er sich keine neuen Socken leisten könne, sondern weil ihn Stopfen beruhige, ihn an die Abende seiner Kindheit erinnere und ihm die besten Ideen beschere. Er schilderte mir ausgiebig seine vergebliche Suche nach einem Stopfpilz. Weder in Kaufhäusern, Kurzwarenläden, ja nicht mal im Trödelladen habe man ihm helfen können, bis sich eine Verkäuferin seiner erbarmt und ihm einen Stopfpilz von zu Hause mitgebracht habe.

Als ich Barrista in Altenburg absetzen wollte, fragte er, ob etwas dagegen spreche, daß er mich weiterhin begleite. Für ihn sei alles interessant, was ich zu tun habe, sagte er, ausnahmslos alles! Und so tauchte ich nun überall mit meiner kleinen Gesellschaft auf, im Rat der Gemeinde von Rositz, im Rathaus von Meuselwitz, ich stellte Barrista den Sekretärinnen vor und machte ihn in Wintersdorf sogar mit dem Bürgermeister bekannt. Der Wolf blieb im Auto, und ich genoß die Freiheit — durch Barrista dazu ermuntert —, den Zündschlüssel steckenzulassen. Er hat recht. Man bewegt sich tatsächlich anders.

Auf der Rückfahrt drängte mich Barrista, hinter Rositz rechts abzubiegen, er wollte mir eine Entdeckung zeigen.

Was ich zu sehen bekam, war trostlos: ein von Unkraut überwucherter Fußballplatz, daneben eine Baracke mit dem Schild» Schiedsrichterklause«, vor Fenster und Türen weiße Gitter, weit und breit keine Menschenseele. Barrista schritt in seinen altmodisch spitzen Stiefeln voran, und obwohl ihm sein linkes Knie weiterhin zu schaffen machte, übersprang er behend die wenigen Stufen der kleinen Veranda, öffnete die Gittertür und trat ein. Ich traute meinen Augen nicht. Das Innere war als Waldschenke hergerichtet, weder die Holztäfelung noch die zahlreichen Gäste paßten zu dem armseligen Äußeren. Barrista zog den Mantel aus, klopfte leutselig auf jeden Tisch, grüßte zum Tresen und schob sich auf die Eckbank des Stammtischs. Kaum daß ich saß, stand ein Bier vor mir. Am merkwürdigsten aber war, daß der Wirt, ein Kahlkopf, den Wolf» Astrid «rief. Und Astrid trottete, ohne nach links oder rechts zu schauen, durch die aufgehaltene Küchentür. Barrista rieb sich die Hände.»Ist es hier nicht wundervoll?«

Wir aßen Mutzbraten63. Der war so zart und gut gewürzt, daß ich mir am liebsten eine zweite Portion bestellt hätte.

Barrista war in seinem Element. Ich erzählte ihm, wie wir alle zusammen die Einnahmen der ersten Ausgabe gezählt und gerollt hatten und mit dem Ergebnis auch halbwegs zufrieden gewesen waren — bis Georg einfiel, daß die Scheine ja noch im Safe lagen. Von solchen Geschichten kann Barrista nicht genug bekommen.

Während der ganzen Zeit beobachtete ich den Wirt. Irgend etwas an ihm war eigenartig. Die Erkenntnis, daß seinen Lidern nur die Wimpern fehlten, beruhigte mich irgendwie.

Laß von Dir hören! E.

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