Freitag, 25. 5. 90


Liebe Nicoletta!

Damals fiel es mir schwer, über die Stunden in Leipzig zu sprechen, aber das Vergangene interessierte auch niemanden mehr. Michaela, die uns kaum im Vorraum geduldet hatte, wenn sie auf dem Klo saß, ließ nun sogar die Tür angelehnt, um weiter Radio hören zu können. Das nächste Radio kauften wir, nachdem die Grenze zur Tschechoslowakei geschlossen worden war.285 Daß die Falle zuschnappen würde, hatte ich erwartet, allerdings nicht vor dem 7. Oktober. Michaela triumphierte, der Bankrott konnte nicht offensichtlicher, die Fronten nicht klarer werden. Am meisten verachtete sie jene, die sich erst jetzt zu Kritik und Empörung entschlossen.

Es war nicht leicht, gegen Michaelas Euphorie anzureden. Nie, sagte ich, hätte man es ohne den Windschatten des 7. Oktober so weit treiben können. Die Demonstranten hatten genau jene Tage erspürt, in denen sie mit Schonung rechnen konnten. Einen anderen Grund als das Jubiläum gab es für diese Zurückhaltung nicht. Nun aber, früher als erwartet, hatte das Hase-und-Jäger-Spiel begonnen. Schritt um Schritt, Zug um Zug nahte das Ende.

Ich bat Michaela, sich zurückzuhalten. Spätestens in zehn Tagen lebten wir unter Kriegsrecht. Oder glaubte sie vielleicht, die würden sich von unseren Sprüchen beeindrucken lassen und freiwillig abdanken? Wofür hatten sie denn ihre Staatssicherheit, Polizei, Kampfgruppen, Armee?

Meine Argumente erschienen mir so zwingend, daß am Ende nicht nur Michaela eingeschüchtert war, sondern auch ich selbst Angst hatte.

Und doch, liebe Nicoletta, ist das bestenfalls die Hälfte der Wahrheit. Nur wenn Sie mir glauben, daß ich vor allem Erleichterung, ja sogar eine gewisse Heiterkeit empfand, sind diese Briefe nicht umsonst gewesen.

Mir wäre nichts lieber, als an dieser Stelle meine Beichte abbrechen zu können. Aber es geht noch tiefer hinab.

Am Theater hatte ich kaum etwas zu tun und saß deshalb oft in den Nestroy-Proben. Michaela spielte wie gesagt den Eberhard Ultra. Im Grunde war es keine Rolle mehr. Sie spielte von Tag zu Tag mehr sich selbst.

Allein die Beschreibung der Proben würde die damalige Zeit hinlänglich charakterisieren. Auch ohne Zutaten wie Demonstration und Polizeieinsatz entstünde eine Art Chronik: von den Vorgesprächen im Mai und Juni, als Norbert Maria Richter im Stück noch eine Persiflage auf die Funktionäre und ihr Revolutionspalaver gesehen hatte, zu der Aufregung Anfang September, als auf der Bühne gezeigt werden sollte, daß Revolution möglich sei, über den Oktober, als die Inszenierung von Tag zu Tag platter wurde, weil die Straße der Bühne mehr als zwei Schritte voraus war, bis hin — aber ich will nicht vorgreifen.

Michaela war nicht davon abzubringen, am Sonnabend286 — wie jedes Jahr — zu Theas Geburtstag nach Berlin zu fahren. Ich fand es absurd, sich ausgerechnet an jenem Wochenende zu trennen, da die Würfel fallen sollten. Sie könne Thea nicht absagen, gerade jetzt müsse man in Kontakt bleiben. Außerdem sei ich auch eingeladen. Dabei wollte sie gar nicht, daß ich mitkam. Am Sonnabend brachten Robert und ich Michaela zum Zug. Sie lehnte sich aus dem Fenster und winkte, als wäre es ein Abschied für Wochen. Dann schaffte ich Robert zu Michaelas Mutter nach Torgau, wo er über Nacht bleiben sollte.

Rückzu konnte ich in Borna ohne längeres Anstehen tanken. Zu Hause aber überfiel mich das Alleinsein wie ein Unglück. Ich fuhr zur Autobahn, von dort waren es nur noch 107 Kilometer bis Dresden.

Erinnern Sie sich an die Züge mit Prager Botschaftsflüchtlingen? Aus den Nachrichten wußte ich von den Tumulten, die es am Dresdner Hauptbahnhof gegeben hatte. Wer rauswollte, versuchte, diese Züge zu erreichen.

Meine Mutter hatte ich zuletzt am Mittwoch gesprochen und geglaubt, sie sei zu ängstlich oder zu vorsichtig, um am Klinik-Telephon darüber zu reden.

Am 7. Oktober aber drehte sich alles wieder um Berlin und Gorbatschow und darum, was am Montag in Leipzig passieren würde. Während der Fahrt hörte ich alte Musik, einen berühmten Neapolitaner, dessen Namen ich mir eigentlich merken wollte, selbst Bach hat ihn bearbeitet.287 Bei seinen Arien und Duetten hatte ich das Gefühl, das erste Mal seit Monaten wieder zur Ruhe zu kommen, als kehrten unter diesen Klängen die Welt und ich selbst in die vertrauten Bahnen zurück. Doch diese Stimmung war nicht von Dauer.

Nachdem ich an der Tür meiner Mutter geklingelt und gewartet hatte, schloß ich auf. Noch während ich den Vorhang, der den kleinen Vorraum des Eingangs von der Diele trennte, aufzog, nahm ich den Geruch meiner Kindheit wahr. Die Tasse in der Spüle war halb gefüllt mit Wasser, ihr Rand ohne die Spuren von Lippenstift. Auf dem Teller darunter schwammen Brotkrumen, am Messer war etwas Dunkles angetrocknet, Leberwurst oder Pflaumenmus. Der Topfputzer war voller Reiskörner und stank ein bißchen.

Ich ging zur Telephonzelle und rief in der Klinik an. Es meldete sich eine Schwester, die ich nicht kannte. Der Stimme nach mußte sie sehr jung sein. Frau Türmer sei zur Zeit nicht zu sprechen. Ich fragte, wie lang die OP dauern würde. Das könne sie nicht sagen. Ich bat sie, meiner Mutter auszurichten, daß ich sie in der Klinik besuchen werde. Zuerst dachte ich, die Schwester habe aufgelegt, dann erfuhr ich, meine Mutter habe dieses Wochenende keinen Dienst, sei also auch nicht in der Klinik.

Ich rief Geronimo an. Bei ihm war besetzt. Ich rief bei Thea an. Eines der Mädchen nahm den Hörer ab, rief, bevor ich überhaupt etwas sagen konnte,»Bei uns ist niemand da!«und legte auf. Geronimo sprach immer noch. Ich ging zu dem kleinen Parkrondell mit dem Theodor-Körner-Gedenkstein und versuchte es ein drittes Mal, wieder vergeblich.

Als ich zurückkam, sah ich unser Wohnzimmer erleuchtet. Ich stürmte hinauf, klingelte, schloß auf, rief, lief ins Wohnzimmer, wo ich eine Weile stehenblieb, auf das Ticken der Wanduhr hörte und schließlich das Licht wieder ausschaltete. Ich ging von Zimmer zu Zimmer, machte die Runde ein zweites Mal, schaltete die Heizung ein und setzte mich schließlich in die Küche. Ich hatte keinen Hunger, wußte aber in dem Moment nichts Besseres, als mir etwas zu essen zu machen. Das Brot war alt, und das wenige, das ich im Kühlschrank fand, stellte ich, nachdem ich es eine Weile in Händen gehalten hatte, wieder zurück. Nur die Westschokolade aus dem Butterfach aß ich Stück für Stück zum Tee.

Sie werden sich fragen, warum ich Ihnen diese Belanglosigkeiten zumute. Natürlich sind die Details unwichtig, aber die alte Musik, die vertraute Umgebung und die Abwesenheit meiner Mutter machten mich wieder zum Kind. Ich fuhr zu Franziska und Geronimo.

Im Auto hörte ich Nachrichten, in denen Dresden nicht vorkam, jedenfalls nichts, was auf das, was gerade geschah, schließen ließ. Hinter dem Dr.-Kurt-Fischer-Platz288 sah ich aus mehreren hundert Metern Entfernung die Straßenbahnen, die sich vom Platz der Einheit289 zurückstauten.

Ich kehrte um und fuhr über die Dr.-Kurt-Fischer-Allee290 zur Bautzner Straße, also direkt vorbei an den Gebäuden der Staatssicherheit, die» Festbeleuchtung «hatten. Außer auf einem Mannschaftswagen, der vor mir abbog, sah ich keine Uniformierten.

Um Gesine nicht zu wecken, warf ich Steinchen ans Fenster, immer wieder, bis ich aus dem dunklen Treppenhaus Schritte hörte. Geronimo erschien hinter der Türscheibe, öffnete und umarmte mich. Damit aber war seine Freude auch schon verpufft.»Was gibt’s?«

Ich solle mich nicht wundern, flüsterte er im Treppenhaus, er habe Besuch.

Geronimo ging voran, die Küche war leer. Er öffnete die Speisekammer.»Es ist Enrico«, sagte er und hielt die Tür auf, als wollte er mir seinen Golem präsentieren. Für ein paar Augenblicke geschah nichts. Ich setzte mich — und stand sofort wieder auf. Weil er sich ducken mußte, um durch die Tür zu kommen, sah ich zuerst nur den weißen Turban, einen Kopfverband. Heraus kam Mario, der rote Mario Gädtke aus unserer Klasse, der zur Armee wie in ein Ferienlager aufgebrochen war. Seine linke Gesichtshälfte war angeschwollen. Wir gaben uns die Hand.»Das trifft sich«, sagte er,»sind wir alle wieder beisammen. «Mario setzte sich aufs Sofa und holte unter seinem Pullover einen A4-Block hervor. Wir hatten uns sieben Jahre nicht gesehen. Ich wartete auf eine Erklärung, auch dafür, warum er in der Speisekammer verschwand, wenn jemand Steinchen ans Fenster warf.

«Er ist gerade entlassen worden«, sagte Geronimo. Mario verzog genauso wie früher die Lippen.

«Von wo entlassen worden?«

Mario lächelte vor sich hin.

«Von der Bereitschaftspolizei«, antwortete Geronimo für ihn. Sie hatten ihn am Vorabend einkassiert und erst vor zwei Stunden nach Hause geschickt.

«Das hat er von dort mitgebracht«, sagte Geronimo und deutete auf den Verband. Mario hob den Kopf. Ich fragte nach Franziska.

«Die ist nicht in Gefahr«, sagte Mario und lächelte wieder.

«Sie arbeitet für die Konferenz ›200 Jahre Französische Revolution‹ im Hygiene-Museum«, erklärte Geronimo. In dieser Situation verlasse immer nur einer von ihnen das Haus, der andere bleibe bei Gesine. Er wollte fortfahren, Mario aber hatte zu lesen begonnen, und zwar so laut, daß Geronimo aufstand und die Küchentür schloß.

Marios Bericht ist in Geronimos Buch291 nachzulesen, natürlich etwas anders, als ich ihn damals zu hören bekam. Im Vorwort beschreibt Geronimo, wie er Mario so zerschlagen, mit einem Verband um den Kopf, kaum wiedererkannt hatte. Mario habe ein Glas Wasser nach dem anderen getrunken, bevor er überhaupt fähig gewesen sei, ein Wort zu sagen. In diesem Moment, schreibt Geronimo, also bevor er von Mario irgend etwas erfahren habe, sei ihm zum ersten Mal der Gedanke gekommen, daß all das dokumentiert werden müsse. Danach ist viel die Rede vom Vergessen und Bewahren, von Schuld und Recht und Sühne und Vergebung. Außerdem gewinnt man den Eindruck, Mario sei zu ihm gekommen, weil Geronimo eben derjenige war, an den man sich in Not wandte, der Fels in der Brandung.

Bei der Beschreibung des Abends verschweigt Geronimo meinen Besuch. Ich habe damals tatsächlich kaum etwas gesagt. Aber wie Sie sehen werden, hätte es trotzdem nahegelegen, mich — wenn auch in einer Nebenrolle — zu erwähnen.

Was Mario vorlas, hörte sich anfangs an wie ein Unfallprotokoll, wie ein bereits amtlich gewordenes Papier, ein Beschwerdeschreiben an wen auch immer. Nach Datum, Uhrzeit (20.15) und der Angabe, sich zum Hauptbahnhof begeben zu haben, betont er,»in alkoholfreiem Zustand «gewesen zu sein, und zählt die» mitgeführten Gegenstände «auf: Personalausweis, Portemonnaie, Zigaretten, Streichhölzer, Haustürschlüssel, Taschentuch. Diese Bestandsaufnahme hat sich bis in die gedruckte Fassung erhalten. Dort heißt es:»Mein Ziel war, mich persönlich davon zu überzeugen, was an den Berichten von Freunden, Nachbarn und Kollegen der Wahrheit entspricht und was nicht. In der Nähe des Hauptbahnhofs und entlang der Prager Straße waren viele Tausende Menschen versammelt. Die Prager Straße und besonders das Terrain um das Rundkino waren durch Sicherheitskräfte abgeriegelt. Es waren mehrere Sperrzonen zu erkennen. Unmittelbar vor dem Rundkino war eine Hundestaffel postiert. Rowdyhafte Ausschreitungen konnte ich keine wahrnehmen. Soweit ich es überblicken konnte, setzten sich die Sicherheitskräfte aus Einheiten der Bereitschaftspolizei, Transportpolizei sowie der NVA zusammen. Vor dem Rundkino, auf der Höhe des Geschäftes für Musikinstrumente, waren Sprechchöre zu hören: ›Vater, schlag nicht! Bruder, schlag nicht!‹, ›Wir bleiben hier!‹, ›Ohne Gewalt!‹.«

Ich fragte, ob es nicht» Keine Gewalt!«heißen müsse, Mario aber beharrte auf» Ohne Gewalt!«. Was im Buch fehlt, ist sein Kommentar des» Wir bleiben hier!«. Er hatte es erklärungsbedürftig gefunden, diesen Ruf als Abgrenzung zu denen, die die DDR verlassen wollten, zu interpretieren, keinesfalls als Widerstand gegen die polizeiliche Aufforderung, die Straße zu räumen.

«Vor dem Exquisit-Bekleidungsgeschäft photographierte ein Passant den Absperriegel. Daraufhin stürzten 2 Uniformierte auf ihn zu; der Passant unternahm einen Fluchtversuch, schien aber bald zu resignieren, so daß er gegriffen wurde. Sehr grob führte man ihn hinter den Sperriegel, der Photoapparat wurde ihm entrissen. Dies alles geschah im Laufschritt. Die Sicherheitskräfte rückten weiter vor und räumten so die Prager Straße. Wer nicht schnell genug vor ihnen herlief, wurde schonungslos einkassiert. Zu Beginn einer jeden Phase des weiteren Vorrückens schlugen die Uniformierten mit ihren Gummiknüppeln im Takt auf ihre Schutzschilde, erst langsam, dann immer schneller, bis sie losliefen. Das steigerte sichtlich die Angst und das Entsetzen der Flüchtenden.«

Die Passage über das Geräusch der Schlagstöcke habe ich wesentlich länger in Erinnerung. Es gab auch Vergleiche. Bei einem verwechselte Mario römische Legionäre mit Gladiatoren. Sobald er schwieg, zog er wieder seine vorgestülpten Lippen zur Seite.

«So etwa gegen 22.30 Uhr formierten sich auf der Straße vor dem Hauptbahnhof, Höhe Busbahnhof, Armee-Einheiten. Sie henkelten sich fest in den Armen ein und verteilten sich auf die gesamte Straßenbreite. Hintereinander waren es ungefähr 10 bis 15 Reihen. Schnellen Schrittes und begleitet durch gemeinsames, lautstarkes ›Links, 2, 3, 4‹, begannen sie die Straße entlangzumarschieren, Richtung Zeitkino. Zu diesem Zeitpunkt befand sich jedoch nur ein geringer Teil der Bürger vor dem Hauptbahnhof, es war eher ein Zustand der relativen Ruhe an diesem Punkt zu verzeichnen, denn die Sprechchöre kamen aus Richtung Leningrader Straße.«

Etwa an dieser Stelle geschah etwas, was ich nicht im mindesten erwartet hatte. Mit einem Lächeln schob Mario die Blätter über den Tisch zu Geronimo. Nun sah ich, was mir längst hätte auffallen müssen: Es war Geronimos Schrift, nicht jene, um die ich Mario immer beneidet hatte wegen ihres gleichmäßigen Flusses, die wie eine Gravur die Seiten füllte.

Mario lehnte sich auf dem Sofa zurück. Geronimo schob sich die Blätter zurecht.

«Als Zeugen für die Richtigkeit meiner Aussagen«, diktierte Mario,»kann ich meinen ehemaligen Klassenkameraden Johann Ziehlke nennen, den ich zufällig auf der Prager Straße getroffen hatte. Hast du was dagegen?«Geronimo schüttelte den Kopf, während er schrieb. Mario breitete die Arme auf der Sofalehne aus, den Kopf an die Wand gelehnt, und fuhr mit zur Decke gerichtetem Blick fort zu diktieren. Auch diese Passage habe ich anders in Erinnerung und glaube, die Lücke darin zu erkennen.

«Trotzdem setzten diese Uniformierten ihren Marsch unbeirrt fort und räumten ohne erkennbare Notwendigkeit die Straße (einschließlich Kreuzung) vor dem Hauptbahnhof. Dahinter fuhr ein Armeefahrzeug des Typs Ural. Aus diesem kamen qualmende Gegenstände auf die Menschen geflogen. Ich merkte schnell, daß es sich um Reizgas handelte. Ich konnte ca. 10 Minuten lang nicht mehr richtig sehen, die Augen brannten sehr, die Schleimhäute waren angegriffen! Das alles, obwohl ich mein Taschentuch sofort als Gesichtsschutz benutzte. In diesem Augenblick wurde mir bewußt, daß ich schon bei meinem Eintreffen an diesem Abend umgehängte Schutzmaskentaschen an den Uniformierten bemerkt, diesem Fakt aber bis dahin keine größere Beachtung geschenkt hatte. Einige Zeit später rückten die Uniformierten von der Prager Straße her weiter vor. Dabei umzingelten sie auch die große Rasenfläche gegenüber dem Busbahnhof. Zu dieser Fläche hatte ich mich nämlich zuvor begeben, weil sich dort nur vereinzelt und sehr verstreut Bürger aufgehalten hatten.«

Haben Sie es bemerkt? In den Minuten, als Mario nichts oder kaum etwas sehen konnte, bleibt die Szene leer. Aber so ist es nicht gewesen. Zudem verlor sich gerade mit dieser Stelle sein halbamtlicher Tonfall. Er und Geronimo hatten sich untergehakt, weil sie fürchteten, sonst» abgesammelt zu werden wie Marienkäfer mit verklebten Flügeln«. Es gab zwei, drei humorig groteske Sätze, in denen er beschrieb, wie sie beide blind umhergelaufen waren, von betrunkenen Hühnern war die Rede und dem Gestank von fauligen Eiern. Plötzlich war ihm Geronimos Arm entglitten, er hatte nach ihm getastet, ihn gerufen und schließlich geglaubt, sie seien aus der Tränengaswolke raus und in Sicherheit. Schließlich war er in der Annahme, Geronimo sei zurückgeblieben, umgekehrt, um ihn zu suchen.

Geronimo hatte nicht einmal aufgesehen, als Mario die Arme von der Lehne genommen, ihn angeblickt und gesagt hatte:»Du warst wie vom Erdboden verschwunden. «Ich glaubte, Geronimo beende nur den Abschnitt, bevor er sich erklären würde. Doch Mario nahm schon wieder seine vorherige Position ein, lehnte den Kopf an die Wand und diktierte weiter.

«Doch sehr bald schon mußte ich feststellen, daß die Uniformierten, mit den Knüppeln auf ihre Schilde schlagend, immer weiter vordrangen. Dabei kamen sie nun auch vom Busbahnhof aus in breiter Front die Straße entlang, so daß es kein Entrinnen gab. Drei oder vier Jugendliche wollten sich seitwärts entfernen. Auf einen stürzte ein Uniformierter zu und rannte ihn zielgerichtet aus vollem Lauf brutal um. Anschließend schlug er auf den sich nicht wehrenden Bürger erbarmungslos mit dem Gummiknüppel ein. Ein weiterer Uniformierter eilte ihm zu Hilfe. Gemeinsam schleppten sie das Bündel nach hinten. «Mario beschrieb die Aktionen der Uniformierten, das Hin und Her. Schließlich kam die Reihe an ihn.»Sturmtrupps begannen, die letzten verstreut umherstehenden Bürger zu jagen, einzufangen, zusammenzuschlagen und in die Einkreisung zu schleppen. Ich vernahm, wie jemand rief: ›Da ist noch einer!‹ Erst spät bemerkte ich, daß 3 Armisten auf mich zustürmten. Ich drehte mich um, sah um mich — keiner in meiner Nähe. Ich begriff — die jagten mich! Ich begann zu flüchten. Aufgrund meiner geistigen Schaltpause waren sie jedoch schneller heran, als ich weg war. Und so blieb ich stehen, hob die Arme und rief: ›Ich komme freiwillig mit, ich wehre mich nicht!‹ Zwei Uniformierte packten mich, einer nahm mich in den Schwitzkasten und drückte sehr fest zu. Der andere drehte mir meinen rechten Arm sehr schmerzhaft auf den Rücken. Dabei schlugen sie 4–5mal auf meinen Rücken ein und brüllten: ›Halt deine dreckige Schnauze! Noch ein Wort, und du sprichst tagelang nicht mehr!‹ Sie schleppten mich in die Einkreisung. ›Nicht so zaghaft! Sonst helfe ich nach!‹ schrie ein Uniformierter. Ich wurde auf die Straße geworfen, ein Stiefeltritt in den Rücken half nach. Dort lagen schon andere Bürger, etwa 10 Personen. Jemand brüllte: ›Gesicht auf die Erde, Arme breit und nach vorn, Beine breit, Arsch runter!‹ Ein Uniformierter trat mir kräftig auf das Hinterteil und rief dabei: ›Weiter runter, flacher!‹ Ich konnte dann auf die Uhr sehen. Es war 0.25 Uhr. Die Kälte des Erdbodens durchdrang langsam meine Kleidung, ich fror. Nach einer Weile fuhren LKWs (W50) vor. Eine Leibesvisitation erfolgte, bei der wir in der beschriebenen Stellung verharren mußten. Zu meiner rechten Seite warf ein Uniformierter nacheinander 2 Flaschen auf den Erdboden. Einzelne Splitter gingen bedenklich nahe unseren Köpfen nieder. Bald wurde von rechts her begonnen, jeden Liegenden einzeln hochzuzerren.«

Bisher hatte Mario monoton gesprochen und nur am Satzende die Stimme gesenkt. Bei allem Merkwürdigen, das diese Situation ohnehin schon besaß, fragte ich mich, warum die beiden einander nie ansahen. Als Mario die Torturen beschrieb, wurde seine Stimme lebhafter. Mitunter, etwa beim Tritt auf sein Hinterteil, lachte er sogar auf. Geronimo hingegen beugte sich dann wie ein schlechter Schüler tiefer über das Blatt. Ich habe Marios Erzählung, vor allem die folgenden Teile, weit weniger ungelenk in Erinnerung, als sie jetzt nachzulesen sind:

«Wir wurden zum LKW geführt und mußten aufsteigen. Dabei bekam ich abermals Schläge. Neben mir wurden weitere 4 Bürger plaziert. Uns gegenüber nahmen knüppelschwingend 2 Uniformierte Platz. Draußen brüllte ein Uniformierter: ›Euch Dreckschweinen werden wir’s zeigen!‹ Während der Fahrt durften wir nicht nach hinten hinaussehen und hatten die befohlene Haltung beizubehalten. Die Fahrt dauerte ca. 15 Minuten und war sehr kurvenreich. Warnend schlugen die 2 Bewacher mit ihren Knüppeln auf die Sitzbänke. Das Fahrzeug hielt. Wir mußten runter vom LKW. Dies sollte einzeln und nacheinander geschehen. Doch auf der anderen Seite ging es den Uniformierten nicht schnell genug, sie halfen nach. Wir befanden uns auf Kasernengelände. Es regnete. Wir 5 mußten uns in einer Reihe hintereinanderstellen, die Hände im Genick verschränkt, Beine auseinander. Wie lange wir so standen, weiß ich nicht. Dann mußten wir eine Treppe hinaufrennen in ein Gebäude, auch dabei die Hände im Nacken. Wir kamen in einen Raum. Jeder mußte sich mit der Stirn an die Wand lehnen, Beine weit weg von der Wand und breit gespreizt, Hände im Nacken. Zweite Leibesvisitation. Dabei nutzten die hinter uns stehenden Uniformierten lebhaft die Möglichkeit, der mit dem Körpergewicht belasteten Stirn Schmerzen zu bereiten. Taschenentleerung. Danach hatte jeder an einen Tisch zu treten und seine Personalangaben zu machen. Dann ging es in einen großen Raum (Klubsaal?) mit Parkettfußboden. Aufstellung: Beine breit, Gesicht zur Wand, Hände im Nacken. Der Saal füllte sich immer mehr. Ich konnte wieder auf die Uhr sehen. Es war 1.45 Uhr (7. 10. ›Tag der Republik‹). Wir wurden durch 2 Mann bewacht. Einer belehrte uns aus dem Hintergrund: ›Sie befinden sich in einem militärisch gesicherten Objekt. Bei Fluchtversuch wird geschossen!‹«

Bei den Zitaten entwickelte Mario nach und nach schauspielerische Qualitäten. Besonders schien ihn das» geschossen «zu reizen, das er mehrfach wiederholte. Von da an hatte ich den Eindruck, er wende sich zunehmend an mich.

«Regelmäßig wurden wir während der Stehzeit schikaniert und mißhandelt. Links von mir wurden einem Stehenden von hinten die Beine weggerissen, er fiel mit dem Gesicht auf das Parkett. Jede Bewegung wurde mit Schlägen eines Gummiknüppels beantwortet. Ein vierzehnjähriger junger Mann meldete sich, daß man bitte seine Eltern informieren möchte, und wies darauf hin, daß er nierenkrank sei, Medikamente einnehmen müsse. Daraufhin wurde er geschlagen und weggeführt. Wenn man nicht mehr konnte, mußte man sich mit den Knien auf die eigenen Handrücken knien, bis die Hände geschwollen waren. Einmal mußte ich hören: ›Das sind alles Rädelsführer, die gucken wir uns mal ’n bißchen genauer an!‹ Und: ›Das wär nicht der erste, dem ich den Schädel aufklatsche, und ooch nicht der letzte!‹ Wir wurden ›Nazischweine‹ genannt, und es fielen Worte wie ›Jetzt machen wir Chile mit euch!‹. Gegen ca. 5 Uhr, meine Uhr war durch die Schläge kaputtgegangen, wurden wir mehrmals umsortiert. Das große Fenster war geöffnet. Es zog. In den Armen und Beinen hatte ich kein Gefühl mehr. Einmal brach ich zusammen. Danach bekam ich einen Verband um den Kopf, mußte mich aber nach kurzer Zeit wieder in die Reihe stellen. Nach erneuter Umsortierung wurde meine Reihe in einen anderen Raum getrieben. Es gab einen Kübel Tee. Einer von uns mußte dann den verschmutzten Erdboden auf den Knien rutschend wischen. Danach bekamen wir eine Schmalzschnitte. Dann wurde umsortiert. Wir standen anschließend sehr lange auf dem Flur, nahe der Küche. Erneute Erfassung der Personalien. Dann Aussortierung einzelner Personen. Auch mein Name war dabei, mein richtiger Name. Sonst riefen sie mich nur Inder. ›Was denn, Inder hammer wohl ooch schon hier?‹ Ein auswärtiger Leutnant der Kriminalpolizei in Zivil nahm die Befragung vor. Dann ging es wieder runter in den Raum. Im Türeingang des Raumes standen wie zuvor 1–2 Bewacher. Sie achteten besonders auf die Einhaltung des Schlafverbotes. Wer irgendein Anzeichen dafür zeigte, auch nur im geringsten Ansatz, wurde hochgerissen und munter gemacht, das heißt, er bekam Sonderbehandlung auf dem Flur. ›Sind Sie müde? Na, dann aber auf!‹ Draußen ging es dann lautstark zur Sache. Von den Sonderbehandlungen kamen sie immer mit blutleeren Fingern zurück und waren minutenlang nicht in der Lage, einen Becher Tee zu halten. Ein gutgekleideter grauhaariger Herr saß bewegungslos auf seinem Stuhl und starrte apathisch geradeaus. Bei einem anderen war die eine Gesichtshälfte völlig zerschlagen, verquollen und blutunterlaufen. Ein älterer, einfach gekleideter Mann hatte total zerschundene Hände. Ich habe auch ein Protokoll unterschrieben, nach dem Verhör. Eine weibliche Uniformierte, sie war Hauptmann, gab mir meinen Ausweis zurück, händigte mir die Eröffnung eines Ordnungsverfahrens zur Unterschrift und Stellungnahme aus und erfragte die Vollständigkeit der persönlichen Dinge. Mit der Empfehlung, den Hauptbahnhof weiträumig zu umfahren, wurde ich gegen 18.30 Uhr entlassen.«

Ich bin, das will ich nicht verhehlen, gegen Ende etwas von der Vorlage abgewichen und meiner Erinnerung gefolgt. Aber auch mein Eingriff kann das Gespenstische dieser Szene nicht wiedergeben. Es steigerte sich von Satz zu Satz, beinah von Wort zu Wort. Mario schwitzte. Zum Schluß hatte er beinah jeden Satz mit einem Auflachen begonnen und beendet. Den kalt gewordenen Tee trank er in einem Zug aus.

Geronimo starrte erschöpft vor sich hin. Mario drängte zum Aufbruch. Ich weiß nicht, warum ich nicht bei Geronimo blieb und wenigstens Franziskas Rückkehr abwartete. Wir hatten keine zwei Sätze miteinander gesprochen. Ich ging voran die Treppe hinunter und hörte, wie Geronimo die Wohnungstür schloß.

Mario bat mich, ihn in die Innenstadt zu fahren. Gerade als ich dachte, er sei neben mir eingeschlafen, schlug er die Augen auf und fragte, ob ich immer noch Gedichte schriebe.

An der Kreuzung zwischen Fučík-Platz292 und Kupferstichkabinett erreichten wir den Demonstrationszug. Ich hielt und ließ Mario aussteigen. Unser Abschied war kurz. Der Zufall aber wollte es, daß ich auf ein Photo geriet und auf diese Art und Weise in Geronimos Buch. Nur weiß das niemand außer mir. Ich bin jener Fahrer auf dem oberen Photo von S. 45, der neben der offenen Tür seines Wartburg steht.

Ich hatte gerade Mario zugewinkt, der mir über die Köpfe der Leute hinweg etwas zurief. Mein Blick folgte seinem weißen Turban. Dann hörte ich hinter mir meinen Namen. Als ich mich umdrehte, kam er mit hochgezogenen Schultern, einem schiefen Lächeln und Rabenschritten auf mich zu und streckte mir seine Hand entgegen. Seine Füße schienen immer noch in den Arbeitsschuhen seines Vaters zu stecken. Ich schüttelte Hendrik die Hand.»Ich suche meine Mutter«, sagte ich. Wir sollten uns mal wiedersehen, sagte er. Ich fragte, ob er mit mir nach Hause fahren wolle. Er wohne nicht mehr in Klotzsche, sagte er. Kurz darauf verlor ich auch ihn aus den Augen.

Wie früher, wenn ich allein war, legte ich mich ins Bett meiner Mutter und schlief mit ihrem Nachthemd unterm Kopfkissen schnell ein.293

Ihr Enrico

Загрузка...