Mittwoch, 18. 4. 90


Da ich zwei Monate lang beinah täglich über den Tag meiner Einberufung geschrieben hatte, war mir der vierte November vertraut wie ein lang erwarteter Brieffreund, dessen Besuch ich mit Neugier entgegensah. Allerdings blieb dann kaum Zeit, meine Vorstellung mit der Wirklichkeit zu vergleichen.

Ich hatte erwartungsgemäß schlecht geschlafen, das Verhalten meiner Mutter jedoch ähnelte nur entfernt der Beschreibung. Wir gossen viel Milch in den Kaffee, um ihn schneller trinken zu können, und schwiegen. Mich ärgerte, daß sie viel zu früh zum Aufbruch drängte, erst beim Abschied waren ihre Augen etwas feucht.

«Morgen«, zitierte ich aus dem Manuskript,»ist alles nur noch halb so schlimm«(der erste Tag sollte in meinem Roman nicht schlimm werden, jedoch alle folgenden). Meine Mutter umarmte mich und küßte mir zum Abschied die Stirn, was ich als überaus ausdrucksstark empfand. Ich beschloß sofort, diese Geste in meine Abschiedsszene aufzunehmen.

Der Weg in den großen, etwas zurückgelegenen Mitroparaum des Neustädter Bahnhofs, wo wir uns einzufinden hatten, erinnerte mich an die Abende, da wir auf die Rückkehr der Großeltern aus dem Westen gewartet hatten.

Ganz gegenwärtig stand plötzlich unser Nachbar, Herr Kaspareck, vor mir. Offenbar führte Herr Kaspareck hier als Offizier die Oberaufsicht und patrouillierte zwischen den Stühlen. Ständig stieß er an schwarze Taschen, die ihm aus dem Weg geräumt werden mußten. Trotz unserer Zivilkleidung waren wir bereits seine Gefangenen.

Als Sensation empfand ich die Pistole an Kasparecks Koppel. Vor Jahren war er einmal hinter mir hergerannt, weil wir sonntags vor seinen Fenstern Fußball gespielt hatten. Nun konnte er sich an mir rächen.

Herr Kaspareck erhielt von mir die Rolle eines Vorboten des Bösen. Er hatte mich nicht gegrüßt, er war über die ausgestreckten Beine eines Schlafenden gestolpert und hatte diesen mit einem gut gezielten Schlag in die Waden fast vom Stuhl gerissen.

Hier war jede Beobachtung brauchbar, Material für die Verbesserung meines Entwurfs.

Ein Streifenkommando, dessen weiße Lackgürtel und — riemen dem Zaumzeug von Zirkuspferden ähnelten, ein Vergleich, der mir in Erinnerung an die» Farm der Tiere «gefiel, schleppte einen Betrunkenen herbei — einen Verzweifelten, der den Namen seiner Frau schluchzte. Oder rief er nach seiner Mutter? Hunden gleich, die einen Knüppel apportieren, ließen sie ihn zwischen die Stühle fallen. Wimmernd blieb er liegen. Zwei der Streifensoldaten zogen ihn an den Schultern hüfthoch — wollten sie sein Gesicht sehen? — , zerrten ihn etwas weiter nach rechts, zählten unhörbar bis drei und ließen ihn fallen. Sie hatten gut gezielt. An der Stuhlkante schlug er sich die Vorderzähne aus. Sogleich rissen sie ihn wieder vom Boden und begutachteten ihr Werk. Einer rief, da sei ihnen wohl ein kleiner Dracula ins Netz gegangen. Die vier anderen feixten. Die Stille in dem Mitropasaal war undurchdringlich. So wie alle Einberufenen nach Kasparecks Attacke die Beine ausgestreckt hatten, so daß er nun wie ein Storch durchs Unterholz stakste, so eng zog sich jetzt das Schweigen um die Verräter zusammen und würde sie erstickt haben …

Derartiges entstand in meinem Kopf wie von selbst, als hätte ich endlich die Stange gefunden, an der sich meine Phantasie emporranken konnte. Aber Sie wissen ja: Die Erfindungen sind nie brutal und perfid genug, die Übertreibung liegt allemal in der Realität, und irgendwo, da war und bin ich mir sicher, hatte sich diese oder eine ähnliche Szene zugetragen.

Sie sehen, ich fühlte mich vom ersten Augenblick an am richtigen Ort. Hier gab es genau jene Dosis Härte und Notwendigkeit, die mir bisher gefehlt hatte.

Während wir die Treppen zum Bahnsteig hinaufgetrieben wurden, bewacht wie Sträflinge, lauschte ich den Befehlen, die es nach Klangfarbe, Höhe und Schärfe zu entschlüsseln galt.

Unsere Waggons wurden mehrmals auf der Marienbrücke hinund hergeschoben. Das Canaletto-Panorama mit Hofkirche und Brühlscher Terrasse171 war das letzte, was ich jetzt sehen wollte.

Natürlich wäre ich lieber, eskortiert von Uniformierten, abgeschottet durch ein Heer von Spitzeln, in einen Zug nach Westberlin gestiegen, wo ich, umringt von Kameraleuten und Photographen, ein neues Leben begonnen hätte. Doch die Voraussetzung für diesen Triumph war ja gerade, daß ich hier und jetzt kurzgeschoren antrat. Bevor ich meine Fundstücke präsentieren konnte, mußte ich hinab in die Unterwelt und mich umsehen.

Als wir endlich losfuhren und Radebeul vorüberzog — durch diese Weinberge waren wir schon mit Mutter und Vater gewandert, später hatte ich sie mit Vera und einmal auch mit Geronimo durchstreift —, wurde ich für Augenblicke zu jenem Schriftstellerdissidenten, den die Regierung abschob, der nie wieder in seine Heimatstadt zurückkehren durfte, getröstet durch eine Laudatio von Heinrich Böll172 oder Willy Brandt. Ich sah aus dem Fenster und formulierte die ersten Sätze meiner Dankrede, einer Anklage, bei der auch der letzte Genosse begreifen mußte, welch großen Fehler sie mit meiner Ausbürgerung gemacht hatten.

Es begann eine schier endlose Irrfahrt. Ein Bauernjunge aus der Oberlausitz versorgte unser Abteil mit seinen Hausschlachterwürsten, weil er fürchtete — das hatten wir der Bemerkung eines Unteroffiziers zu verdanken —, der Proviant würde ihm bald abgenommen. Er selbst aß Leberwurst pur. Zum Helden wurde er, als er die Unterwäsche aus seiner Tasche nahm und eine Flasche Doppelkorn herausschälte.

Meine neuen Kameraden verhöhnten die brandenburgische Landschaft, die mein Arkadien gewesen war, als Sand- und Kiefernwüste. Am späten Nachmittag erreichten wir, nüchtern und vertraut miteinander, das an den Norden Westberlins grenzende Oranienburg.

Auf dem Weg vom Bahnhof zur Kaserne irritierte mich, daß sich niemand nach uns umdrehte.

Wie auf Befehl stießen plötzlich Hunderte Füße in die Laubhaufen am Wegrand, schlurften hinein, wirbelten die Blätter auf, trieben sie vor sich her, schaufelten sie dem Vordermann auf die Hacken, dem Nebenmann vor den Schuh und verstreuten sie in alle Winde. Kein Befehl, kein Bellen gebot uns Einhalt. Erst als es keine Laubhaufen mehr gab, endete die Rebellion. Dagegen wirkte das Johlen der höheren Diensthalbjahre lächerlich. Sie rissen die Fenster auf und brüllten die Zahl der ihnen verbleibenden Tage heraus, als gäbe es in diesem Staat ein Ende der Armeezeit, als wüßten sie nicht, daß sie jederzeit wieder in Uniform gesteckt und in Kasernen festgehalten werden konnten. Mit Wucht knallte das Tor hinter uns zu …

An der Rückseite des Kasernenareals, zwischen einem Holzgebäude und dem Kulturhaus, war das Torgebäude des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen zu sehen.

Ich habe später eine lange Passage darüber geschrieben, wie wir mit unseren Taschen im Nieselregen standen, eine Kompanie nach der anderen vor uns zum Abendbrot in die Kantine einrückte, wie wir geimpft wurden, Fragebögen ausfüllen und warten mußten, bis wir völlig durchnäßt waren. Erst gegen neun, eine Stunde vor der Nachtruhe, wurde ich zusammen mit anderen in das dem Lagerturm am nächsten liegende Gebäude geschickt.

Obwohl wir dort eine weitere Stunde wie am Pranger auf dem Flur standen, wirkten dessen spiegelblanker roter Fußbodenbelag und die frisch gestrichenen Wände beruhigend auf mich. Ich wollte endlich meine nassen Sachen loswerden und, ja, freute mich auf eine trockene Uniform! Die mir zugewiesene nur mit zwei Doppelstockbetten bestückte Stube empfand ich als komfortabel. An dem rechten oberen Gestell klebte ein Zettel, darauf stand in Maschinenschrift: Soldat Türmer.

Meine einzige Angst war, nicht alles notieren zu können, was ich sah, hörte und roch. Nichts durfte verlorengehen.

Nach dem Weckpfiff am nächsten Morgen sprang ich aus dem Bett, als ginge es zu einer Expedition. Frühsport und Frühstück fielen für uns Nachzügler aus. Statt dessen warf man uns Stoffplanen vor die Füße, die sich zu Säcken knöpfen ließen. Damit zogen wir durch die Kleiderkammern. Stahlhelm, ein neues und ein altes Paar Stiefel, Dienst-, Ausgeh- und Felduniform, Schutzanzug, Gasmaske, Sportschuhe, Trainingsanzug, all das nahm ich entgegen wie ein Bergmann seine Ausrüstung. Ich fuhr unter Tage, um nach verborgenen Schätzen zu schürfen.

Beim Mittagessen, ich verschlang die Königsberger Klopse mit Appetit, erhob sich aus unserer langen Tischreihe ein vierschrötiger Kerl und rief, daß er diesen Fraß nur deshalb runterwürge, weil es überhaupt das erste sei, was es hier zu fressen gebe. Morgen werde er ihm, dem am Tischende wartenden Spieß, diesen Fraß um die Ohren hauen.

Ich drückte meine letzte Kartoffel in die Soße und war begeistert. Soeben hatte sich mir meine erste Figur gezeigt, Thersites und Ajax173 zugleich. Ich wollte ihn nicht mehr aus den Augen lassen.

Am Nachmittag, als wir die Pakete mit unserer eigenen Kleidung verpackten, legte ich zu den klammen Sachen und dem Gruß an meine Mutter noch ein Kuvert mit der Anschrift von Geronimo. Darin befanden sich drei Seiten Stichworte, an deren oberen Rand hinter einer 1 und dem Schrägstrich die Seitenzahl eingetragen war. Ich bat ihn, meine Aufzeichnungen zu sammeln und zu bewahren. Umgehend begann ich mit Nummer 2.

Meine Mutter spricht noch heute von dem Moment, in dem sie das Paket öffnete und meine Kleidung darin fand,»als wärst du gestorben«.

Soviel für heute. Wie immer grüßt Sie sehr herzlich

Ihr Enrico T.

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