Lieber Jo!
Vera ruft immer mal aus Beirut an. Sie hockt dann in einer winzigen Kabine, die Verbindung ging beim letzten Mal über New York. Ich stehe, den Hörer ans Ohr gepreßt, mitten in der Redaktion, selten allein. Die Geschichten, die Vera zu hören bekommt, das Elend, das sie sieht, die Verkrüppelten, die zerschossenen Häuser und Palmen, die Straßensperren und zu Hause ihre starrsinnige Schwiegermutter und der zaudernde Nicola, diese ganze Trostlosigkeit — ich weiß nicht, was ich zu alldem sagen soll. Meine Briefe erreichen sie nicht, weil die Post nicht funktioniert. Dafür ist es kein Problem, französischen Käse, Cognac oder andere Delikatessen zu kaufen. Ich hoffe, Vera kehrt bald zurück.
Michaela ist nach Berlin gefahren, zu ihrer berühmten Freundin Thea. Sie will auch Flieder im Krankenhaus besuchen. Hier ist es seltsam ruhig. Sogar die Kriminalitätsrate sinkt von Woche zu Woche.
Streit gibt es in der Redaktion nur gelegentlich wegen der Anzeigen. Mit Georg ist in diesen Dingen nicht zu reden. Durch die Anzeigen nehmen wir ungefähr jenen Betrag ein, den wir durch den Rückgang des Verkaufs verlieren. Aber Georg zufolge verlieren wir Leser, gerade weil wir Anzeigen drucken. Er redete sich in Rage, wir hielten unsere Absprachen nicht ein und würfen mir nichts, dir nichts unser eigentliches Anliegen über Bord.
Doch nachdem jeder das Seine gesagt hatte, war der Streit auch schon überstanden. Da aber steckte Ilona ihr Köpfchen herein und gemahnte uns daran, daß der Herr von Barrista bereits mehrfach angerufen und sich nach unseren Geburtsjahren erkundigt habe.
Er habe diesen Kerl noch nie zu Gesicht bekommen, rief Georg, ständig dieser Barrista, überall Barrista, Barrista! Der könne sich sein Geburtsjahr sonstwohin stecken! Jörg beruhigte ihn schnell, indem er an die Möglichkeiten erinnerte, die uns der Besuch des Erbprinzen eröffnen werde. Außerdem lerne er Barrista ja am Abend kennen.
Punkt acht betraten wir den» Wenzel«. Im Restaurant war alles besetzt, eine Reservierung habe Herr von Barrista nicht gemacht, sonst jeden Abend, aber für heute, nein, leider nicht. Die Bar war geschlossen. Uns blieben die Sessel im Foyer.
Nach einer Viertelstunde einigten wir uns darauf, ihm noch zehn Minuten zu geben. Da öffnete sich der Fahrstuhl, und Barrista trat vor uns. Er seufzte, schüttelte den Kopf, die erhobenen Hände bedeuteten Bedauern und Vorwurf. Alles sei längst fertig! Und wir säßen hier herum!
Er hatte gehofft, verriet uns Barrista im Fahrstuhl,»daß wir IHN hier wohnen lassen könnten: Fürstensuite! Das klingt doch nach was! Doch ausgeschlossen. Hier kann ER nicht bleiben. «Mir hingegen erschien die Suite, zu der uns Barrista die Tür aufhielt, prächtig. Eine Armada dreiarmiger Leuchter färbte den Raum honiggold. Honiggold schimmerten die Möbel, honiggold glänzten die Gedecke, ja selbst die Luft schien von diesem Farbton getränkt.»Bienenwachs?«fragte Georg.»Ausgezeichnet!«rief Barrista.»Und wissen Sie, woher ich die Kerzen beziehe? Aus Italien, Kirchenbedarf!«
Die Musikanlage war grandios; wir standen inmitten eines Orchesters, das Händel spielte.
«So ’n Mist!«sagte die Kellnerin, die offenbar schon die ganze Zeit vergeblich vor dem Spiegel an ihrer Frisur genestelt hatte und jetzt den Kopf ein paarmal hin und her warf, damit ihr das Haar über die Schultern fiel. Sie gab uns reihum die Hand, ihr Lächeln schob die Wangen zu Hügelchen zusammen, hinter denen die Augen blinzelten. Ihre weiße Bluse saß locker, doch konnte sie nicht verhüllen, wie sehr ihr der Rockbund ins Fleisch schnitt. Ich kannte sie, ich wußte nur nicht mehr, woher.
Barrista mahnte uns, nicht länger herumzustehen, wir hätten viel vor. So schlichen wir dann wie beim Stuhlwalzer77 um die altmodischen Sessel und versuchten die gekritzelten Namen auf den Tischkarten zu entziffern.
«Lassen Sie uns trinken, Champagner muß eisig genossen werden!«Nach einem kurzen Toast auf die gemeinsame Zukunft und das Gelingen unseres Vorhabens prostete er jedem zu. Als ich an die Reihe kam, sahen wir uns länger als gemeinhin üblich in die Augen, das heißt, ich sah in das, was groß und dunkel hinter seinen Brillengläsern schwamm.
Lieber! Wärst Du doch dabeigewesen! Allein der erste Schluck Champagner — wie lächerlich zu sagen: er perlte, er sprudelte. O nein, dieses Naß berührte Gaumen und Zunge kaum und verflüchtigte sich in noch Leichteres. Wie schade, dachte ich, vorbei — erst da spürte ich im Innersten die abgründige Kühle, ja, für Augenblicke war ich selbst nichts weiter als dieser eisige Genuß. Gestochen scharf, als betrachtete ich mich unterm Mikroskop, nahm ich wahr, wie dieses Elixier von Zelle zu Zelle diffundierte.
Es war still wie bei einer Andacht. Jede emporgezogene Augenbraue, jedes kennerhafte Schmatzen, jedes Lob wäre läppisch, wäre ein Sakrileg gewesen. Auch Barrista ergab sich dem Mysterium und lauschte in sich hinein. Und ich verstand zum ersten Mal, warum man ein Glas zerschmettert. Verzeih dieses Pathos, doch bereits der zweite Schluck besaß ein Gran Gewöhnlichkeit.
Früher hätte ich mir gewünscht, den Genuß in allen Nuancen und Farben beschreiben zu können. Heute reicht es mir, ihn erfahren zu haben.
Die Kellnerin stellte eine silberne Schale zwischen uns, in deren Mitte ein glänzender Delphin aufsprang, um ihn herum ein Meer aus Eis, auf dem — wie ich glaubte — zwölf schwarze verschrumpelte Muscheln lagen, dazu Zitronenschnitze und Schälchen mit Sauce. Die Kellnerin streifte mit ihrer Hand meine Schulter, als wäre sie die Gastgeberin.
Der Baron hielt uns einen Vortrag, bei dem seine flache Hand den Zeigestock ersetzte. Anfangs wirkte die Ernsthaftigkeit, mit der er die verschiedenen Sorten Austern beim Namen nannte, ihre Herkunft und Eigenschaften beschrieb, irgendwie rührend, beinah lächerlich. Doch dieser Eindruck verflog schnell. Es gab verschiedene Sorten — pazifische Austern, atlantische Austern, antarktische Austern, Austern aus Nordfrankreich.
«Und jetzt machen Sie es so!«Barrista hantierte mit einem merkwürdigen Gäbelchen.»Lösen — Zitrone — Sauce, nicht zuviel — schlürfen!«Er schlürfte sie tatsächlich. Das Wasser drum herum soll angeblich noch Ozean sein.
Kaum hatte ich das glitschige Zeug im Mund, rief er.»Kauen! Sie müssen kauen, kauen, merken Sie’s?«Es schmeckte seltsam, wie etwas, das eigentlich keine Speise ist, aber Geschmack besitzt, ein wenig wie Nüsse. Ich kümmerte mich nicht um die anderen (Jörg gestand später, seine am liebsten ausgespuckt zu haben) und griff mir eine zweite. Mit den Austern verhielt es sich genau umgekehrt wie mit dem Champagner. Die zweite genoß ich tatsächlich!
Barrista erhob wieder sein Glas. Der Weißwein klärte und vervielfachte den Geschmack. Ich schlürfte eine dritte.
«Er hat wohl Feuer gefangen?!«Barrista stieß mit mir an und teilte die restlichen Austern zwischen sich und mir auf.
Früh um sechs war er heute nach Westberlin gefahren und hatte» in ausgewiesenen Geschäften «eingekauft. Er beschenke damit vor allem sich selbst. Viel zu lange habe er pausiert und sei nun glücklich, in diesem Kreise wieder genießen zu dürfen. Wir sollten nicht denken, erstklassige Qualität sei einfach zu bekommen, da würden meistens die Wege lang. Verlaß sei nur auf die eigene Nase. Deshalb reise er mit nichts weiter als einem Köfferchen, den weitaus größten Teil des Gepäckraums füllten Kühlkisten und seine transportable Höllenmaschine. Die Kellnerin trat zur Seite und wies mit beiden Händen auf einen zweiflammigen Kocher.
«Weiter!«rief Barrista.»Gedünstete Jakobsmuscheln!«Jedem wurde eine serviert, angerichtet mit Kräutern und einer dunklen Sauce, ein chinesisches Gericht.
«Sie werden sich wundern«, kündigte Barrista den nächsten Gang an. Wir sollten keine Angst haben, das sei kein Dessert, sondern ein Nichts, wie er es am liebsten nenne, ein Nichts, das unseren Geschmacksnerven Erholung verschaffen werde, eine Art Pfefferminzeis — es hieß anders und war auch kein richtiges Eis. Dazu reichte er Zigaretten in einer Schachtel herum, die an unsere» Orient «erinnerten.
«Der Erbprinz«, begann der Baron,»läßt Sie herzlich grüßen. Sie sollten vielleicht wissen, daß der Erbprinz nur eine schmale Rente bezieht, die wiederum fast vollständig einbehalten wird, um die Kosten für seine Unterbringung zu begleichen. Sobald Sie ihn kennengelernt haben, werden Sie ihn sich zum Freunde wünschen.«
Außerhalb seines Zimmers verfüge Seine Hoheit, wie die richtige Anrede laute, über keinen Besitz und stelle keinerlei Ansprüche, zu denen er, nebenbei bemerkt, auch gar nicht berechtigt sei. Doch sei es immer sein Traum gewesen, noch einmal an jenen Ort zurückkehren zu dürfen, von dem er vor mehr als siebzig Jahren habe scheiden müssen. Er, Barrista, sage das weniger, um eventuellen Argwohn zu zerstreuen, vielmehr fürchte er, an die Person des Erbprinzen könnten sich Erwartungen und Hoffnungen knüpfen, die er in gar keiner Weise zu erfüllen in der Lage sei, sosehr Seine Hoheit das selbst möchte.»Wir haben also«, resümierte Barrista,»nur Geld zu verlieren. «Bei diesem Satz schlug wieder sein englischer Akzent durch.»Sie haben natürlich nichts zu verlieren«, sagte er und hob sein Glas.»Fürs Geldverlieren bin ich zuständig. Ihr Part ist es, mir dabei zu helfen.«
Er machte eine Pause und lächelte über seine Sentenz.»Sie bekommen die Exklusivrechte. Das ist alles.«
«Und was bedeutet das?«fragte Georg, der plötzlich ganz ruhig und gelassen wirkte. Barrista, offenbar froh, daß einer von uns den Mund aufmachte, drehte sich etwas, um Georg besser sehen zu können, und erläuterte in seiner übertriebenen Art: Durch uns, das» Altenburger Wochenblatt«, würden Stadt und Land Altenburg überhaupt erst von dem Besuch erfahren, zu uns müßten die Politiker kommen, wenn sie etwas darüber wissen wollten, bei uns könnten sich die Leute über das Programm seines Besuches informieren und sogar an einem Schnellkurs in Sachen Benehmen bei Hofe teilnehmen, auch wenn der Erbprinz keinen gesteigerten Wert darauf lege. Doch zumindest bemühen sollten sich die Leute. In diesem Moment brachte die Kellnerin vier kugelrunde Salatköpfe, Eisbergsalat, wie Barrista erklärte. Dazu gab es auf einer Platte in Scheiben geschnittene Ingwerente und zwei Schälchen mit einer speziellen chinesischen Sauce. Der Baron schälte ein Blatt vom grünen Eisberg, bestrich es dick mit der braunen Sauce — die sei sowieso das Allerbeste — und wickelte mit bloßen Fingern zwei Scheiben Ente in das Salatblatt.
«Wenn Sie wüßten, wie lange ich darauf gewartet habe! Es gibt nichts Besseres«, sagte er und biß ab.»Absolut nicht«, flüsterte er kauend. Sauce tropfte auf seine Serviette.
Es zähle zu den schönsten Überraschungen seiner Expedition, im Osten noch ordentliche Fleischwaren vorzufinden, unter denen der» Mutzbraten«— er sprach die erste Silbe fälschlicherweise kurz — eine Delikatesse ersten Ranges sei. Und wer weiß, was man daraus noch alles machen könne, denn was einem in den Gourmettempeln von Monaco bis Las Vegas angeboten werde, sei meist einfacher Bauernfraß, nur raffiniert veredelt. Daraufhin kostete er den ersten Schluck aus einer neuen Flasche Weißwein — sog ihn zischelnd durch die Zähne, spitzte die Lippen, ließ sie wie einen kleinen Rüssel hin und her wandern, abschließend ein kurzes Schmatzen. Wir stießen an auf die Hausmannskost.
Das Schweigen, in dem wir die Gläser abstellten, nutzte ich, um ihn endlich nach seinem Beruf zu fragen. Ich hatte ja keine Ahnung, was ich da tat. Sein ganzer Körper wich vor mir zurück. Es war kein Scherz, als er sagte:»Aber meine Steuererklärung möchten Sie nicht sehen!?«Ich versicherte, daß ich ihm weiß Gott nicht zu nahe treten wolle —»Lassen Sie Gott aus dem Spiel!«fuhr er mich in noch schärferem Ton an.
«Ist das üblich?«wandte er sich an Georg, dann an Jörg und schließlich wieder an mich.»Fragt man sich bei Ihnen die Berufe ab?«
Ratlos bejahte ich.
Er habe sich nie herausgenommen, derartiges zu fragen, es sei denn in Vorstellungsgesprächen. Natürlich interessiere ihn das, wir sollten ihn nicht falsch verstehen, brennend interessiere ihn, wie jemand sein Geld verdiene, denn der» Job «sei ja leider oft die einzige nicht lächerliche Seite eines Menschen.»Dann darf ich wohl später die Frage an Sie zurückgeben?«
Man könne ihn» schlicht und ergreifend «als Unternehmensberater bezeichnen, was die einfachste Umschreibung für sein Tun und Lassen sei. Doch» interpretiere «er diesen Beruf etwas anders als gemeinhin üblich. Er investiere hier und da schon mal selbst, da es in seinen Augen» Sinn mache«, durch den Zuschuß eigenen Kapitals den Klienten nicht nur das nötige Vertrauen in seine Vorschläge zu geben — etwas anderes als Vorschläge könne er ja nie unterbreiten. Für ihn sei es unmoralisch, unabhängig von Erfolg oder Mißerfolg zu kassieren, wie es mit Vorliebe die Banken oder seine speziellen Freunde, die Rechtsanwälte, täten. Über den eigenen Berufsstand äußere er sich lieber nicht, denn da werde zu oft der Bock zum Gärtner gemacht. Für einige Augenblicke verfiel er in ein Sinnen, murmelte etwas und entschuldigte sich für seine Absenz. Alle Berufsstände, fuhr er fort, auch und vor allem Ärzte, würde er gern diesem Erfolgsgesetz unterwerfen. Er könne nur sagen: Das eigene Interesse sei noch immer der beste Ratgeber, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Gemeinschaft, ja für die Menschheit. Davon sei er zutiefst überzeugt.
Auf einem goldschimmernden Tablett wurden uns Zahnstocher gereicht. Barrista bediente sich großzügig, lehnte sich zurück und brachte seinen Sessel in eine Kippelstellung. Wie in einem Schaukelstuhl vor- und zurückwippend, sprach er weiter.
Wenn er etwas in dieser Welt nicht verstehe, dann die bedauerliche Tatsache, daß es kaum Leute seines Schlages gebe. Warum ließen sich die Menschen fortwährend mit Ganoven ein — das sei die Frage, die er der Welt stelle. Darüber habe er vor Jahren ein kleines Büchlein78 geschrieben und gehofft, einige Anhänger für seine Methode zu finden, ja ganz insgeheim — er stocherte hinter vorgehaltener Hand in seinem Mund — habe er sogar von einer Berufung geträumt, als Dozent an eine Hochschule. Wenn wir uns mal anschauten, für welch abenteuerliche Wirtschaftstheorien es Nobelpreise gebe! Nobelpreise für Theorien, deren Umsetzung ganze Länder in den Ruin geführt habe. Professor an einer Universität zu werden sei einer der wenigen Träume, die er noch nicht verwirklicht habe.
«Ach«, rief er,»ein Lehrstuhl für Poesie!«
Als habe er unsere Verblüffung nicht bemerkt, nahm er uns wie ein richtiger Professor in die Mangel.
«Was fällt Ihnen bei der Jahreszahl 1797 ein?«fragte er.
«Balladenjahr«, sagte ich.
«Hyperion«79, sagte Georg.
«Sehr gut«, sagte der Baron,»aber wir sind hier nicht im Literaturunterricht.«
«Napoleon«, rief Jörg.
«Napoleon stimmt immer. Aber es geht um England, eine Leistung, für die die gesamte zivilisierte Welt dem Empire Dank schuldet. Am 24. Februar 1797 erging ein Gesetz, das die Bank of England ermächtigte, den Umtausch von Papiergeld in Münzen zu verweigern.«
Wir sahen ihn an.
«Und, meine Herren? Was geschah?«
«Eine Inflation?«fragte Jörg.
«Nein!«schrie Barrista.»Eben nicht! Die Kurse stiegen! Wie fragwürdig Napoleon ist, sieht man unter anderem daran, daß er glaubte, dies sei das Ende der britischen Stabilität. Napoleon, diese dumme Elster, häufte ja Edelmetall an, wo er nur konnte. Die französischen Assignaten aber hatten bereits im April 1797 nur noch einen Wert von 0,5 Prozent! Das müssen Sie sich einmal vorstellen! Dabei gab es ja all die Kirchengüter noch als Gegenwert! Was also folgt daraus?«Wir schwiegen.
«Wo etwas ist, wird nichts sein!«triumphierte er.»Und wo nichts ist, wird etwas sein! Wenn das keine Poesie ist, weiß ich auch nicht, was Poesie sein soll!«Seine Schlußkonfession, er beschäftige sich so gerne mit Geld, weil nichts poetischer sei als eine Hundert-Dollar-Note, erschien mir dann sogar plausibel.
Der Baron80 kippte zurück an den Tisch und schüttelte den Kopf.
Er habe sich damit abgefunden, ein Prediger in der Wüste zu sein, und nehme die anderen Geschenke, die ihm das Schicksal anstelle des Ruhmes gewähre, dankbar an.»Es ist so einfach, gute Geschäfte zu machen! Heute jedoch«, seine Rechte beschrieb einen Halbkreis, als müsse er uns zur Ruhe mahnen,»heute haben wir anderes zu besprechen.«
Der Baron rief nach der Kellnerin. Die kniete neben Astrid, dem Wolf, und streichelte dessen Fell, das im Kontrast zu dem allgemeinen Honiggold geradezu räudig wirkte. Die Kellnerin eilte herbei und begann,81 den Tisch abzuräumen. Der Baron hatte sich die Serviette aus dem Hemdkragen gerissen, war aufgestanden und sah sich suchend im Zimmer um. Ihm wurde ein Korb gereicht. Den Inhalt verhüllte ein weißes Tuch.
«Meine Herren«, sagte er.»Ich habe mir erlaubt, Ihnen ein kleines Präsent mitzubringen. Es ist nicht leicht gewesen«— als meinte er das Gewicht des Korbes, hob er ihn kurz an —,»doch hoffe ich, daß meine Erkundigungen mich nicht in die Irre geführt haben. «Er trat ein Stück zurück — ich glaubte schon, im Korb habe sich etwas bewegt — und riß das Tuch weg. Es staubte. Zum Vorschein kamen dunkle Flaschen mit fleckigen, eingerissenen Etiketten.
Wir könnten sehen, dozierte der Baron, die authentischen Zeichen des Alters seien bewahrt worden. Mit seinem Geschenk verbinde er die bescheidene Bitte, von uns zu jeweils einem halben Glas eingeladen zu werden.
Ach, Jo! Seine Nase berührte fast das Etikett; wie ein Neugeborenes, das aus dem Bad gehoben, getrocknet und umhüllt wird, nahm er die erste Flasche aus dem Korb.
«Beginnen wir mit dem Jüngsten, mit Ihnen, Herr Türmer — ein 61er Château Ducru-Beaucaillon.«
Ich hatte mich erhoben, er bedeutete mir, sitzen zu bleiben, und tat so, als könnte er mich über den Brillenrand hinweg sehen. Nie habe er ohne Befangenheit, ja Bangigkeit eine alte Flasche geöffnet, offenbare sich doch dabei in einem einzigen Augenblick das Werk von Jahrzehnten. Der Baron kratzte mit seinen viel zu kurzen Fingernägeln — ich glaube, er knaupelt — am Lack, mit dem der Korken versiegelt war. Gegen das Wirken von Zeit und Chemie, schloß der Baron, sei selbst er machtlos.
Natürlich weiß jedes Kind, daß Wein zu Essig werden kann. Aber die Tragweite dieser Warnung begriff niemand von uns.
Der Baron ließ ein keckerndes Lachen hören. Beinah lautlos zog er den Korken aus meiner Flasche und beschnüffelte ihn eingehend.»Darf gratulieren!«sagte er und schenkte mir ein, nicht viel, kaum fingerbreit. Gleichzeitig griffen er und ich nach dem Glas, ich zuckte zurück. Der Baron bewegte es endlos in der Art, wie Jan Steen seinen Weinbrand geschwenkt hatte, und hielt es sich unter die Nase.»Wohl bekomm’s«, sagte er und kredenzte es mir. Ich kam mir vor wie ein Scharlatan, als ich, mich zur Bedächtigkeit zwingend, den Kelch schwenkte, daran roch und ihn, nach dem Vorbild des Barons, an die Lippen führte. Ich spülte meine Mundhöhle ordentlich und schluckte, als sich die Schleimhäute irgendwie stumpf anzufühlen begannen. Das war’s, dachte ich. Der Baron sah mich unverwandt an, niemand sprach.
Allmählich stieg etwas Erdiges in mir auf — fremd und angenehm, der Vorbote einer Erinnerung an ein anderes Dasein.
Langweile ich Dich? In Dir rufen diese Worte keine Erinnerung wach. Es ist schon sechs, heute bin ich dran mit Korrekturlesen in Leipzig! Ich kürze ein bißchen ab.
Was folgte, war bedrückend, obwohl wir uns das nicht eingestehen wollten.
Der Baron ließ Weißbrot herumgehen, bevor er Jörgs Flasche nahm und verkündete:»Jahrgang 53!«Ich war nicht ganz bei der Sache, als der Baron den 53er Beaujolais beschrieb. Als ich aufsah, kämpfte er, hochrot, mit dem Korken. Plötzlich erschlafften seine Wangen, die schon ein Lächeln erfaßt hatte. Er urteilte allein nach dem Geruch des Korkens. Wir konnten ihn nicht mal dazu bewegen, uns auf eigene Gefahr kosten zu lassen. Barrista, noch immer mit rotem Kopf, stellte sich taub. Ich war überrascht, wie schnell er die Fassung verlor.
Georg murmelte, bei solchen Dingen sei eigentlich immer er der Pechvogel, Jörg versuchte zu lachen. Er habe seinen Jahrgang nie gemocht, deshalb überrasche es ihn nicht weiter. Ich fürchte, Jörg hat es mehr getroffen, als er sich selbst eingestand. Und das lag, ohne ihm einen Vorwurf machen zu wollen, an Barrista. Vielleicht fühlte Barrista sich betrogen, so eine Flasche wird nicht billig sein.
Georg, unser 56er, kostete den ihm zugedachten Barolo. Es dauerte eine Weile, dann sagte er:»Vielen Dank. Das war großartig!«
Es folgte ein über alle Maßen edles» Chateaubriand«, und zum Nachtisch gab es eine Schokoladencreme und einen italienischen Schnaps82.
Der Baron sprach ununterbrochen vom Erbprinzen, aber es gelang ihm nicht, seine Enttäuschung zu überspielen. Der Fehlschlag hatte die Atmosphäre verdorben.
Kurz vor zwölf verließen wir die honiggoldene Fürstensuite. Die Kellnerin begleitete uns mit dem Wolf, der ausgeführt werden mußte, nach unten. Auf der Straße fragte Jörg, was Barrista eigentlich von uns gewollt habe. Ich hingegen fragte mich mit Blick auf den vertrauten Bahnhof, wo wir eigentlich gewesen sind. Was sollte Barrista schon gewollt haben? Herausfinden, mit wem er es zu tun hat! Wenn sich nur jeder halb soviel Mühe dabei gäbe wie er!
Wir hatten uns schon getrennt, als mir einfiel, woher ich die Kellnerin kannte. Es war jene üppige Blondine, die uns im Januar aus der Bar entgegengestolpert war.
Dein E.
PS: Was ich Dir immer vergessen habe zu schreiben: Gesines musikalische Vorführung hat bei Robert so viel bewirkt, daß wir Tante Trockels Klavier nicht verkauft, sondern in sein Zimmer bugsiert haben. Robert nimmt tatsächlich Unterricht. Was die arme Tante Trockel nie geschafft hat, ist Gesine gelungen. Mal sehen, was daraus wird. Immerhin hat er schon ein paar Noten gelernt.