Sonntag, 3. 6. 90


Liebe Nicoletta!

Ich hatte mich nicht weiter darüber gewundert, daß meine Mutter an jenem 9. Oktober bei uns aufgetaucht war. Nachdem Robert im Bett war, sagte sie:»Ich muß euch was erzählen. «Und nach einer kurzen Pause:»Ich bin verhaftet worden!«

Der Bericht meiner Mutter war weit weniger ausführlich als der von Michael. Auch sie war am Freitag abend, also am 6., vor dem Dresdner Hauptbahnhof festgenommen worden. Sie habe sich mit eigenen Augen von dem überzeugen wollen, was sie in der Klinik und im Radio gehört hatte; doch kaum aus der Straßenbahn gestiegen, noch bevor sie sich zwischen Demonstranten und Uniformierten so recht habe orientieren können, sei sie gepackt und auf einen LKW geworfen worden. Man habe sich geschlagen und beschimpft. Nach ihrer Entlassung am Sonntag morgen sei sie zu Gunda Lapin, ihrer Freundin, der Malerin, nach Laubegast gefahren. Bei ihr habe sie sich bis Montag morgen erholt. In der Poliklinik habe sie sich dann untersuchen und für eine Woche krank schreiben lassen. Wäre sie noch inhaftiert, sagte sie, wüßte niemand, wo sie sei.

Ihr zuzuhören war eine Qual. Michaela kämpfte mit den Tränen und versuchte, Mutters Hände in ihre zu nehmen. Ich fand das unpassend, weil es Mutter hemmte, und war froh, als Michaela zur Telephonzelle ging, um Thea anzurufen. Doch das Alleinsein mit meiner Mutter ertrug ich noch weniger. Ich schaltete den Fernseher an. Aber weder sie noch ich sahen hin. Wortlos räumten wir den Tisch ab und brachen unser Schweigen auch beim Beziehen ihres Bettes nicht. Mutter ging ins Bad, und ich hörte sie gurgeln und das Wasser ins Becken spucken. Ich saß vor dem ausgeschalteten Fernseher und betrachtete meine Silhouette auf dem Bildschirm. Ich atmete immer tiefer ein, bis das Heben und Senken der Schultern auch bei meinem Spiegelbild deutlich zu sehen war.

Plötzlich stand meine Mutter in Unterwäsche vor mir und bat mich, sie einzureiben. Ihr Rücken war voller Blutergüsse, sogar auf Schenkel und Waden hatte man sie geschlagen. Sie stützte sich auf den Tisch und krümmte ihren Rücken. Sie roch ein bißchen nach Schweiß. Die wenigsten Ärzte dächten, wenn sie solches Zeug verschrieben, daran, daß alte Menschen meist allein seien und sich gar nicht einreiben könnten, sagte sie. Wir gaben uns einen Gutenachtkuß. Meine Mutter hatte im Bad weder das Licht ausgemacht noch die Zahnpastatube zugeschraubt. Ihr Handtuch lag auf dem Klodeckel.

Michaela fragte, wonach es rieche, und sagte dann, Thomas habe Thea auch gerade mit Franzbranntwein eingerieben. Das klang irgendwie gemütlich, als sei nun alles überstanden.

Am Dienstag war das Verlesen der Dresdner Resolution von der Bühne herab nicht mehr zu verhindern. Bis auf Beate Sebastian, die nur mit Zustimmung der Partei an einer solchen Aktion teilnehmen wollte, war das ganze Schauspiel dafür.

Was die Resolution betraf, teilte ich die Begeisterung der anderen nicht. Als ich vorschlug, eine eigene Resolution zu schreiben, hieß es, das Orchester, die meisten Sänger und das Ballett hätten schon ihr Einverständnis erklärt, sie könnten jetzt nicht wieder von vorn beginnen.

Der ganze Tonfall war dem Ritual von Kritik und Selbstkritik entlehnt. Hinter jeder Zeile schaue ein besorgter Funktionär hervor, sagte ich. Michaela schüttelte den Kopf, ich täuschte mich. Wir gingen es Zeile für Zeile durch, und ich war selbst überrascht, wie leicht diese pseudorevolutionäre Rhetorik auszuhebeln war. Allein schon der Satz:»Eine Staatsführung, die mit ihrem Volk nicht spricht, ist unglaubwürdig.«

«Hörst du darin nicht das Winseln des enttäuschten Speichelleckers?«fragte ich.»Wer sagt denn, daß ich mit denen dort überhaupt noch reden will? Wieso denn Staatsführung, wenn sie durch Wahlbetrug an die Macht gekommen sind? Und was bedeutet: mit ihrem Volk? Warum zitieren sie nicht Brecht: Sollen sie doch ihr Volk auflösen und sich ein neues wählen …«

Michaela gab zu, daß man diese Zeile streichen könne, meinte aber, die Formulierung» Ein Volk, das zur Sprachlosigkeit gezwungen wurde, fängt an, gewalttätig zu werden «sei nicht nur mutig, sondern auch jetzt noch richtig. Warum, fragte ich, schreiben sie nicht: Ein Volk, das seit 28 Jahren eingesperrt und als Staatseigentum behandelt wird, das beim leisesten Widerspruch bestraft und eingeschüchtert wurde, erobert endlich die Straße! Weg mit der Verbrecherbande, die auf wehrlose Menschen einschlägt, sie verhöhnt und foltert?

Michaela schwieg.»Warum«, fragte ich,»sagen sie nicht einfach: Die Mauer muß weg, weg mit der SED, her mit den Menschenrechten, geht auf die Straßen, habt Mut, laßt euch nicht mehr einschüchtern!«

«Das geht zu weit«, sagte Michaela,»das stellt ja alles in Frage.«

«Natürlich«, rief ich,»stellt das alles in Frage! Leipzig stellt alles in Frage, was mit meiner Mutter, was mit Thea passiert ist, stellt alles in Frage. Wir müssen alles in Frage stellen!«Warum sie sich mit dem alten Käse aus der Feder von Apparatschiks zufriedengebe.»›Wir haben die Pflicht‹«, zitierte ich höhnisch,»›von unserer Staats- und Parteiführung zu verlangen, das Vertrauen zur Bevölkerung wiederherzustellen.‹ Ist das nicht widerwärtig? So ein Schlußsatz? Heißt das, bitte schlagt uns nicht, wir sind doch für den Sozialismus!? Das ist doch noch armseliger als der Wunsch nach Fürstenerziehung! Du kennst doch die Dresdner!«

«Und warum«, fragte Michaela,»sagst du es nicht?«

«Ich werde es sagen«, erwiderte ich.»Darauf kannst du dich verlassen!«

Ich muß ergänzen, daß wir nicht alleine waren. Wir standen vor dem kleinen runden Tisch in der Dramaturgie und hatten in denen, die dort saßen oder an den Schreibtischen lehnten, ein Publikum. Seit ihrem gestrigen Auftritt und unserer Rückkehr aus Leipzig war Michaela die Bärbel Bohley des Theaters und ich ihr Mann, dessen Mutter von Polizisten geschlagen, ja gefoltert worden war. Nach und nach waren die anderen verstummt. Die letzten Sätze hatten wir wie auf einer Bühne gesprochen.

Michaela machte einen mit Aufmerksamkeit verfolgten Gang zu ihrer Handtasche auf meinem Schreibtisch.»Es ist eben ein Unterschied«, sagte sie, zur Ausgangsposition zurückkehrend,»ob man im Theater etwas sagt oder auf der Straße. Im Theater ist man nicht anonym …«

«Das heißt nichts anderes«, unterbrach ich sie,»als daß die Straße das Theater aufklären muß! Keiner von denen, die verhaftet worden sind, war anonym, weiß Gott nicht. Die haben alle ihren Personalausweis vorlegen müssen!«

Für sie wäre es ein Erfolg, wenn es im Theater überhaupt so weit käme, daß die Resolution verlesen würde. Damit verließ Michaela die Dramaturgie. Von meinem Platz am Fenster aus sah ich sie zur Haltestelle gehen. Wieder war eine» Krähwinkel«-Probe ausgefallen.

Die Schlüssigkeit meiner Argumente versetzte mich in Euphorie. Ich hatte meinem Widerwillen nachgegeben, ich war ihm gefolgt wie einer Wünschelrute und hatte dabei eine Logik entdeckt, die funktionierte. Verstehen Sie mich? Plötzlich konnte ich begründen, warum ich nicht mitmachen wollte.

Mit meiner Sichtweise glaubte ich eine Verteidigungslinie bezogen zu haben, die so schnell keiner überrennen würde und die es mir erlaubte, dem Theaterkleinklein mit einem abschätzigen Lächeln zu folgen. Natürlich gab man mir recht, schlug sich aber auf Michaelas Seite und sprach von Etappen, List und Geduld.

Punkt 14 Uhr fuhr ich nach Hause. Mutter hatte gekocht. Sie hatte Robert in das, was ihr widerfahren war, eingeweiht. Er genoß die» Großfamilie «und das Sonntagsessen. Je länger sie darüber nachdenke, sagte Mutter, desto klarer werde ihr, daß sie alle hinter Gitter gehörten, nicht nur die Prügelknaben und ihre Offiziere, sondern alle, Modrow, Berghofer, Honecker, Mielke, Hager und das ganze Gesocks.»Und wenn sie nichts davon gewußt haben, um so schlimmer!«Michaela sah nicht auf. Wäre ich nicht später gekommen, hätte sie glauben können, Mutter wäre von mir instruiert worden. Zum Kaffeetrinken fuhren wir nach Kohren-Sahlis. Es gab Mohnkuchen mit Schlagsahne. Mutter bestellte eine doppelte Portion und sagte, das habe sie sich verdient. Danach brachte ich Michaela ins Theater.»Die Csárdásfürstin «hatte als Rentnervorstellung bereits um 15 Uhr begonnen.

Während die Vorstellung lief, war hinter der Bühne der Kampf um die Resolution erneut entbrannt.

Orchester und Ballett hatten zugestimmt, auch die Solisten mit Ausnahme von einem, der Chor aber hatte sich zerstritten. Die Csárdásfürstin war nicht zu überreden gewesen, die Erklärung zu verlesen. Kleindienst, der Dirigent, weigerte sich ebenfalls. Schließlich meldete sich Oliver Jambo, der schwule Heldentenor (ich erwähne das, weil Jambo den schwulen Heldentenor auf Schritt und Tritt zelebriert). Für ihn sei es eine Ehre, das Schreiben zu verlesen. Danach fuhr ich nach Hause.

Abends erzählte Michaela, daß alles an Jonas gescheitert sei. Jonas habe in der Raucherecke gesessen und gelächelt. Wer immer sich in seine Nähe verlaufen habe, den habe er gebeten, mit» dieser Aktion «zu warten. Er habe nur um einen Tag gebeten. Einen Tag sollten sie noch warten. Auch sie, Michaela, habe er angesprochen. Selbst ihr sei es schwergefallen, sich gegen ihn zu behaupten. Ein Tag, habe er wieder und wieder gesagt, nur einen Tag. Gefragt, was das denn ändere, habe er von der Tagung des Politbüros gesprochen.

An dieser Stelle von Michaelas Erzählung mußte ich lachen. Ja, sagte sie, sie schäme sich dafür, aber schließlich habe sie nichts machen können. Die Sänger seien plötzlich auch dafür gewesen, es um einen Tag zu verschieben. Das Orchester, das nicht informiert worden sei, habe in der Kulisse gewartet. Schließlich waren sie von Kleindienst auf die Bühne gebeten worden, um, wie er gesagt habe, ihren verdienten Applaus in Empfang zu nehmen. Die Musiker seien so wütend abgezogen, daß man wohl mit ihnen nicht mehr rechnen könne.

Am Mittwoch jedoch kam Michaelas großer Tag. Mutter, Robert und ich setzten uns in die Vorstellung,»Emilia Galotti«. Michaela war nicht bei der Sache. Als Emilia zu ihrem Bericht ansetzte, wußte sie nicht weiter.

Nach der Pause verzog ich mich in die Dramaturgie. Die Intendanz war hell erleuchtet. Der technische Direktor, die Verwaltungschefin, die zugleich Parteisekretärin war (und nun In tendantin ist), saßen mit drei oder vier anderen zusammen, deren Stimmen ich nicht erkannte.

Ich hörte auch immer wieder Schritte und das Klappen der Eingangstür. Trotzdem war ich dann überrascht, wie viele gekommen waren. Jambo, der auf der untersten Stufe der kleinen Treppe stand, die zur Bühne führte, spielte gedankenverloren mit der Kordel seiner Brille. Eine Frauenstimme flüsterte:»Der Intendant!«

Ich hatte ihn nicht bemerkt. Er saß am Tisch, den Kopf auf den verschränkten Armen, als würde er schlafen, seine Schultern zuckten. Ich dachte zuerst an ein Unglück, einen Todesfall.

Nach dem Knacken des Lautsprechers bat Olaf, der Inspizient, den Darsteller des Odoardo auf die Bühne. Er ließ den Lautsprecher eingeschaltet, so daß wir von da an die Vorstellung mitverfolgen konnten.»Noch niemand hier? Gut, ich soll noch kälter werden«, schnarrte es aus dem Lautsprecher.

«Habt ihr denn nicht Radio gehört?«fragte Jonas mitten in den Satz hinein.»Wer kein Gesetz achtet, ist doch genauso mächtig wie der, der keins hat!«305

Jonas’ Augen, von Tränen schlierig, sahen in die Runde, ein Blick, der sich auf der Suche nach Barmherzigkeit von einem zum anderen schleppte.»Habt ihr denn nicht Radio gehört? Kriegt ihr denn nichts mehr mit? Könnt ihr nur noch in eine Richtung denken?«Er schüttelte den Kopf.»Sie wissen es nicht«, rief er,»sie wissen nichts von der wichtigsten Veränderung seit Jahrzehnten! Hat denn keiner gehört, was das Politbüro heute abend erklärt hat?«

«Huch!«rief Jambo.»Ist die Mauer weg?«

Jonas brüllte; seine Stimme explodierte in dem kahlen Raum. Michaela behauptete später, selbst durch die Stahltür habe man ihn gehört. Sein Kopf wurde derart rot, daß ich ihn bereits mit starren Augen und offenem Mund auf den Tisch fallen sah.

Die Bügel von Oliver Jambos Brille hatten sich in der Kordel verwickelt, so daß er eine Bewegung machte, als schüttelte er ein Fieberthermometer.»Könnten Sie das noch mal wiederholen?«fragte er leise.

Statt sich wie erwartet auf Jambo zu stürzen, begann Jonas zu predigen. Seine ganze Erklärung war so läppisch, daß ich mich an nichts erinnere, außer an zwei Formulierungen, die Jonas mehrmals wiederholte:»Es wird keine chinesische Lösung geben «und» Das Politbüro steht mit dem Gesicht zum Volk«.

Aus dem Lautsprecher kam der Schlußapplaus. Jonas redete weiter. Er setzte gerade wieder zu seinem» mit dem Gesicht zum Volk «an, als Michaela etwas atemlos aus dem Lautsprecher zu vernehmen war:»Los, es geht los!«»Meine Damen!«sagte Jambo und hielt die Stahltür auf. Ich folgte als letzter. Als ich mich noch einmal umdrehte, sah ich Jonas mit halb erhobenem Arm dastehen, ins Leere weisend.306

Michaela trat vor und begann. Ein Paar stand eilig auf und stürzte hinaus. Im halben Saallicht sah ich Mutter und Robert, die beide kerzengerade dasaßen und lauschten, als wäre die Galotti wiederauferstanden, um Rache an Marinelli zu nehmen. Auch der Tonfall, in dem sie sagte» Wir treten aus unseren Rollen heraus«, war derselbe wie der, mit dem sie gesagt hatte:»Aber alle solche Taten sind von ehedem!«

Mir war es unangenehm, einfach nur dazustehen, reduziert auf meine körperliche Präsenz.307

Das Publikum applaudierte, die meisten erhoben sich, auch Mutter und Robert. An Michaela sah ich den Reflex, sich bei Applaus zu verbeugen. Sie bekam ihn gerade noch unter Kontrolle, breitete aber die Arme aus, als wollte sie sagen, wir alle hier denken so, und trat zurück. Die Leute klatschten weiter und schienen auf etwas zu warten, ein Lied oder ein Nachspiel. Ein paar folgten Michaelas Beispiel und spendeten mit ausgestreckten Armen den Zuschauern Beifall. Statt eines geordneten Abgangs begannen wir einzeln von der Bühne zu bröckeln. Die letzten, unter ihnen die Galotti, flohen dann regelrecht. Das Publikum, 124 verkaufte Karten, klatschte, wie um eine Zugabe zu erzwingen.

Als wir am nächsten Tag ins Theater kamen, wartete bereits ein Emissär der Umweltbibliothek an der Pforte.»Die ganze Stadt spricht von eurer Aktion«, sagte er, nickte ernst und lud uns für den Abend in die Martin-Luther-Kirche ein, um über unseren Aufruf zu informieren. Da ich von keiner Umweltbibliothek in Altenburg wußte, glaubte ich zuerst, er sei aus Berlin gekommen.

Die Einladung an uns galt einer» Fürbittandacht«.

Über Mittag residierte Michaela in der Kantine und empfing die Huldigungen selbst von Orchester und Chor. So war es ihr noch nach keiner Premiere ergangen. Michaela bestimmte, wer abends die Resolution im Theater vorlesen solle, weil sie selbst beabsichtigte, in der Kirche aufzutreten.

Die Martin-Luther-Kirche, jener neogotische Zeigefinger an der Stirnseite des Marktes, war überfüllt. Ich folgte Michaela durch den Mittelgang nach vorn, wo uns der Emissär empfing. Wie lange hatte ich keine Kirche mehr betreten!

«Schrecklich, ganz schrecklich«, sagte immer wieder eine Frau mit kurzen Haaren und einer langen schmalen Narbe, die ihre rechte Augenbraue kreuzte.»Ganz, ganz schrecklich!«Sie meinte Bodin, den Pfarrer der Kirche, der sie aufgefordert hatte, statt weiter große Reden zu schwingen, lieber einen Dankgottesdienst zu veranstalten. Gedankt werden sollte Gott für die um Verständnis bemühte Erklärung des Politbüros. Im übrigen gebe es starke Kräfte in seiner Gemeinde, die überhaupt kein Verständnis für diese Veranstaltung hätten. Wenn sie und ihre Freundinnen das nicht begriffen, sehe er keine andere Möglichkeit, als jenen Gemeindemitgliedern nachzugeben und seine Kirche für diese Krawallveranstaltung zu schließen.

Irgendwie verstand ich den Pfarrer Bodin, diesen älteren, vollkommen kahlköpfigen Mann, der sich im Talar auf einen Stuhl an der Wand gesetzt hatte und in Gedanken oder in ein Gebet vertieft war.

Michaela und ich wurden mehrfach begrüßt. Der Gründer des» Neuen Forums Altenburg«(jede Stadt hatte ihr eigenes Neues Forum) schnappte nach Luft, als er uns erzählte, daß heute früh die Radmuttern an seinem Trabi locker gewesen seien. Ein dürrer Langhaariger mit einem Chinesenlächeln trug ein zusammengerolltes Transparent wie eine große Puppe im Arm. Immer wieder stellten sich junge Frauen als Mitglieder oder Sprecherinnen von Umwelt- und Friedensgruppen vor.

Auch bei denen, die sich in den Gängen und auf den Emporen drängten, waren mehr Frauen als Männer.»Heute muß was passieren!«sagte die Frau mit der Narbe und hockte sich vor uns hin.

«Was soll denn passieren?«fragte ich.

«Na, Demonstration!«rief sie.»Es muß doch hier mal losgehen! Einer muß heute mal den Mund aufmachen!«

Der Langhaarige kam dazu und mischte sich ein:»Es ist besser, wenn jemand redet, den sie hier noch nicht so kennen. «Merkwürdigerweise leuchtete mir das damals ein. Ich spürte zu spät, wie prekär die Situation durch mein Nicken für mich geworden war. Der vom Neuen Forum kam wieder mit seiner Radgeschichte und daß er seiner Familie sowieso schon viel zuviel zumute. Michaela rührte sich nicht.»Kannst du das nicht machen?«fragte die Frau mit der Narbe und sah mich an. Ich saß in der Falle.

«Und was soll ich sagen?«fragte ich.»Klasse«, rief sie,»das ist echt klasse!«Der mit den langen Haaren beugte sich über mich und berührte meine Schulter.»Gut, Enrico, sehr gut!«Ich war so verunsichert, daß ich ihn fragte, woher er denn meinen Namen kenne308. In diesem Moment begann die Kirchenband zu spielen. Der Bassist, der den Einsatz gegeben hatte, nickte wie einer dieser Plastedackel, die eine Zeitlang hinter jeder Heckscheibe zu sehen gewesen waren.

Nach den ersten Takten bereute ich alles, nach der ersten Strophe war ich verzweifelt. Hatte ich mich nicht bislang wohlweislich von solchen Kreisen ferngehalten? Ich verstand immer mehr den Pfarrer Bodin, der schwer atmend dasaß. Seine vorgestülpte Unterlippe hing herab, eine zitternde rotblaue Tülle, über die schon viel zu viele Worte geflossen waren.

Während jemand von der Menschenrechtsgruppe sprach, wurde mir ein Zettelchen gereicht.»Stelle Dich bitte kurz vor. Danke!«

Michaela, die anfangs mit viel Applaus begrüßt worden war, beging den Fehler, die Dresdner Resolution mit dem gleichen Gestus vorzutragen wie im Theater. Ich hörte die Galotti. Sie spürte selbst, wie sie von Zeile zu Zeile an Kraft verlor und wie schließlich nur das Gekünstelte und die Theaterpose übrigblieben. Zum Ende wurde sie immer schneller, eine Todsünde für eine Schauspielerin.

«Ich war nicht gut«, flüsterte sie, ich nahm ihre kalte Hand und hielt sie eine Weile fest.»Macht nichts«, sagte ich, während das Kopfnicken des Bassisten der unseligen Band den Einsatz gab.

Hundertmal, tausendmal hatte ich mir vorgestellt, eine Revolutionsrede zu halten, als liefe mein Leben auf diesen Augenblick hinaus, mein Wunschtraum, zu dessen Erfüllung ich nun verdammt war.

Mit der Linken zerknüllte ich das Zettelchen, mit der Rechten umfaßte ich den Rand der kleinen Kanzel309 und kämpfte gegen einen Lachreiz an.

Ich sah auf. Kein Hüsteln, kein Räuspern, kein Scharren. In diese vollkommene Stille hinein sagte ich:»Ich heiße Enrico Türmer, wohne seit anderthalb Jahren mit Frau und Sohn in der Georg-Schumann-Str. 104, arbeite am Theater und bin parteilos.«

Ich sah über die Köpfe der Leute hinweg den Mittelgang entlang und begann.

«Wir haben Fehler gemacht, wir legen ein Geständnis ab, wir klagen uns an.

Wir haben uns das Pionierhalstuch umgebunden und das Lied von der Friedenstaube gesungen, als Panzer durch Budapest fuhren.

Wir haben geweint und die Hände in den Schoß gelegt, als man uns einmauerte.

Wir haben geschwiegen, als der Prager Frühling von sowjetischen Panzern niedergewalzt wurde.

Wir bezahlten den Solidaritätsbeitrag, während in Danzig Arbeiter erschossen wurden.«

Die atemlose Stille verlieh meinen Worten eine Kraft, die nichts mit mir zu tun hatte, es waren nicht mehr meine Worte.

«Wir demonstrierten am 1. Mai die unverbrüchliche Treue zur Sowjetunion, als ihre Truppen in Afghanistan mordeten.

Wir rissen Witze über faule Polacken, während die Polen für freie Gewerkschaften stritten, und schworen den Fahneneid, als die NVA an Oder und Neiße in Stellung ging.

In der Friedhofsruhe, die seit Monaten auf dem Platz des Himmlischen Friedens herrscht, hören wir noch immer, wie Honecker und Krenz den Mördern Beifall klatschen.«

Ich spürte, wie die Worte um mich wirbelten, ich spürte, wie sie mich losrissen, ich spürte, wie sie mich mit sich fortschwemmten.

«Wir zogen unsere besten Sachen an, wenn wir ins Wahllokal gingen.

Wir lernten, von diesem Land zu reden, ohne das Wort Mauer zu benutzen.

Wir ließen uns als lebende Girlanden an den Straßenrand stellen.

Wir gingen zur Jugendweihe und gelobten dem Staat Treue.

Wir übten Handgranatenwurf und Luftgewehrschießen, während die besten Schriftsteller, Schauspieler und Musiker das Land verlassen mußten.

Wir ließen uns zur Neubauwohnung beglückwünschen, während die alten Stadtkerne abgerissen wurden.

Wir zählten die olympischen Goldmedaillen, aber der Zahnarzt wußte nicht, womit er unsere Zähne sanieren sollte.

Wir hängten Fahnen aus dem Fenster, obwohl wir uns in Prag und Budapest schämten, als DDR-Bürger erkannt zu werden. Wir erhoben uns zur Nationalhymne, obwohl wir am liebsten im Boden versunken wären.«

Ich richtete meinen Blick in die Ferne.

«Wir wollen nicht länger Schuld auf uns laden! Unsere Geduld ist zu Ende! Man wird uns sehen können, auf den Straßen, auf den Marktplätzen, in Kirchen und Theatern, im Rathaus, vor den Häusern der Kreisleitung, vor den Villen der Staatssicherheit. Wir haben nichts zu verbergen, wir zeigen unsere Gesichter! Wir haben nichts zu verschweigen, wir nennen unsere Namen! Die Zeit der Bitten ist vorbei! Weg mit der Mauer, weg mit der Staatssicherheit, weg mit der SED! Her mit freien Wahlen, freien Medien, her mit der Demokratie! Wir brauchen keine Genehmigungen! Wir gehen jetzt auf die Straße! Das ist unser Land!«

Die Stille zerbarst. Der ganze Raum war in Aufruhr, Poltern, Klatschen, Pfiffe. Wenn es nicht zu unsinnig klingt: Ich starrte auf den Lärm und klammerte mich an die Kanzel, weil mir von meinen Worten schwindelte. Die Leute drängten hinaus.»Klasse«, rief die Frau mit der Narbe,»echt klasse!«Michaela hielt die Arme verschränkt, die Hände um die Ellbogen gelegt. Später sagte sie, der Pfarrer habe mich beiseite geschoben, um ans Mikrophon zu gelangen. Aber die Orgel habe ihn übertönt.

Je näher wir dem Ausgang kamen, desto deutlicher hörten wir die Sprechchöre.

Die Demonstration zog sich vorbei an der Polizei, vorbei am Rathaus über den gesamten Markt und bog am anderen Ende links in die Sporenstraße. Wir folgten als Nachhut. Plötzlich öffnete sich die Tür des Polizeigebäudes, zwei Uniformierte eilten auf uns zu und fragten, wo es denn langgehe. Woher wir das wissen sollten, rief der Langhaarige, der gerade sein Transparent (Freie Wahlen!) entrollte. Die Frau mit der Narbe beschrieb ihnen die wahrscheinliche Route, vorbei an der Staatssicherheit und dem Rat des Kreises und hinauf zur Kreisleitung. Sie sollten die Zeitzer Straße sperren und die Puschkinstraße.

Als wir über die Ebertstraße liefen, hörten wir das Pfeifkonzert, das nur der Stasivilla gelten konnte.»Hoffentlich machen sie keine Dummheiten! Hoffentlich, hoffentlich«, flüsterte Michaela.

Nachts gegen halb zwei wurden unmittelbar vor unserem Fenster Autotüren zugeschlagen, ich lauschte auf die Schritte, ich glaubte bereits, das Klingeln zu hören. Aber wieder geschah nichts. Und das beunruhigte mich fast noch mehr.

Ihr Enrico T.

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