Donnerstag, 10. 5. 90


Liebe Nicoletta!

Ich stelle mir immer vor, Sie läsen meine Briefe im Stehen, im Stehen oder im Gehen. Kaum haben Sie die neueste Sendung aus dem Briefkasten gefischt, klemmen Sie Tasche und Zeitung unter den Arm, öffnen das Kuvert mit dem Zündschlüssel, entfalten die Seiten und beginnen zu lesen, ohne sich um etwas anderes zu kümmern. Sie merken gar nicht, wie Ihre Füße Sie Stufe um Stufe die Treppe hinauftragen, Sie die Tür aufschließen, Sie Tasche und Zeitung ablegen oder einfach zu Boden fallen lassen. Es ist gar nicht so wichtig, bei welchen Zeilen Sie lächeln oder sich Ihre Stirn kraust. Wichtig allein ist Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Erst zur zweiten Lektüre machen Sie es sich im Sessel oder auf der Couch bequem. Wer auch immer Sie beim Lesen sieht — wird er den Absender der Briefe nicht beneiden und sich an seine Stelle wünschen?

Träume wie dieser sind schuld, daß ich fortfahre.

Mitte Juni 87, knapp anderthalb Jahre nachdem Vera ihren Ausreiseantrag gestellt hatte, erhielt ich ein Telegramm. Ausreise heute, Neustädter Bahnhof, dann folgte die Abfahrtszeit und wie üblich: Gruß, Vera.

Das Telegramm war gegen elf gekommen. Sonst hatte ich spätestens um zehn das Haus verlassen. Und auch an jenem Dienstag wäre ich schon in der Bibliothek gewesen, hätte ich nicht nach dem Aufstehen vergeblich am Wasserhahn gedreht. Ein Zettel im Hausflur versprach ab elf Uhr wieder fließend Wasser. Ich hatte mich noch mal hingelegt und war erst vom Fauchen und Röhren der Leitung und der rostbraunen Sturzflut, die ins Waschbecken schoß, erwacht. Und hätte ich nicht im Weggehen den Boten, der mit auf die Stirn geschobener Brille das Klingelbrett inspizierte, gefragt, zu wem er denn wolle … ein Wunder also, daß ich das Telegramm rechtzeitig erhielt.

Es ist eine der wenigen Zugfahrten gewesen, auf die ich kein Buch und keine Arbeit mitnahm. Obwohl ich die ganze Zeit aus dem Fenster sah, nahm ich weder etwas vom Saaletal noch von Weinböhla wahr.

Vom Neustädter Bahnhof aus ging ich zu Veras Wohnung. Die Fenster waren zu, niemand öffnete. Ich schrieb einen Zettel und fuhr zu Mutters Wohnung. Auch dort niemand. Endlich, fast eine Stunde später, kamen beide.

Vera war den ganzen Tag von Amt zu Amt gerannt, Mutter hatte sich zum ersten Mal in ihrem Leben krank gemeldet und schleppte zwei Koffer voll neuer Schuhe, Bett- und Unterwäsche herein. Sie verstand nicht, warum Vera nur mit einer kleinen Reisetasche fahren wollte. Ohne ihre Photos und die gesammelten Taschentücher meines Vaters hätte sie nicht mal die gebraucht.

«Was soll ich denn damit machen?«rief Mutter, lief hinter Vera her, bis die sich im Bad einschloß und wir alle drei herumschrien. Mutter schluchzte zuerst.

Während ich Ihnen das schreibe, kommt es mir so vor, als erinnerte ich mich jetzt zum ersten Mal an diese Stunden.227

Vera ging noch einmal durch die Zimmer und öffnete jede Schublade, als wolle sie sich alles noch einmal einprägen. Am liebsten würde sie allein zum Bahnhof fahren, sagte sie. Kopfschüttelnd verfolgte sie, wie Mutter eine Doppelschnitte nach der anderen schmierte, als machten wir einen Familienausflug. Gemeinsam gingen wir zur Straßenbahn.

Mutter hatte eine Schachtel» Duett «gekauft und rauchte unaufhörlich. Wir fuhren zum Platz der Einheit. Vera und ich waren schon ein paar Schritte in Richtung Neustädter gegangen, da rief Mutter sie zurück.»Vera! Ich schaff das nicht!«Mutter stand noch genau dort, wo wir aus der Bahn gestiegen waren. Vera lief zurück, setzte die Tasche ab, und mir war, als sähe ich sie zum ersten Mal Mutter umarmen. Ich sah auch, wie Mutter Veras Wange streichelte. Dann beobachtete ich die Leute, die sich nach den beiden umdrehten.

Vera sagte nichts, warf nur einen Blick in ihren Handspiegel und hakte sich bei mir unter. Ich nahm ihre Reisetasche. Man hätte denken können, sie bringe mich zum Zug.

Weder auf dem Vorplatz noch in der Bahnhofshalle bemerkte ich etwas Ungewöhnliches. Es war wenige Tage vor Ferienbeginn, und an den Kartenschaltern warteten lange Schlangen. Langsam stiegen wir die Treppen hinauf. Ich hatte Angst, daß Freundinnen oder Freunde von Vera kommen und wir nicht allein bleiben würden.

Wir gingen den Bahnsteig entlang. Dicht an dicht standen die Grüppchen. Sekt- und Weinflaschen wurden herumgereicht. Fast immer waren Kinder dabei, die Campingbeutel auf dem Rücken trugen und irgendein Plüschtier an sich drückten. Ich dachte, daß die ganzen weißgesprenkelten Jeansmonturen nun wieder dorthin zurückkehrten, woher sie gekommen waren.

Unter freiem Himmel, schon am Ende des Bahnsteigs, packte Vera die Brote aus.

«Die Stasi hat nach dir gefragt«, sagte sie, ohne mich anzusehen.228 Viel zu laut rief ich:»Was?«, ja ich meine, ich krähte dieses» Was?«wie ein Vierzehnjähriger im Stimmbruch.

«So ist das eben«, sagte sie,»wenn man ein bißchen interessanter ist als der Rest. «Mit dem Daumen hob sie die obere Brotscheibe an und sagte, Mutter habe nach dreißig Jahren immer noch nicht kapiert, daß sie keine Blutwurst esse.

«Diese Idioten«, sagte ich.

«Wieso Idioten?«fragte Vera und warf den Tauben etwas Brot zu.

«Was denn sonst«, sagte ich. Vera lächelte. Als wären wir deshalb hierhergekommen, fütterte sie die Tauben. Die Blutwurst hing wie eine Zunge zwischen den Brotscheiben heraus und fiel ihr schließlich vor die Füße.

«Vielleicht sind es Idioten«, sagte Vera,»aber es gibt sie nun mal, und daran wird sich so schnell nichts ändern.«

Der Zug fuhr ohne Lautsprecheransage ein. Während die anderen die Wagen stürmten, verfütterte Vera das restliche Brot.»Mit diesen Idioten kann man aber reden«, sagte sie.»Fällt dir noch irgend etwas dazu ein?«

Ich hatte das Bedürfnis, mich hinzusetzen oder, lieber noch, mich hinzulegen. Fast hätte ich gesagt:»Das mußt du entscheiden. «Statt Vera nach dem Grund ihres Geredes zu fragen, schwieg ich, was vielleicht das schlimmste war. Ich sah auf den schwarzen Bahnsteig und zu den Tauben, die im Kampf um das Brot mit den Flügeln schlugen und übereinanderhüpften. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie es Vera gelang, mit dem kleinen Finger den Schnappverschluß ihrer Handtasche zu öffnen und eines der braun-weiß karierten Taschentücher herauszuziehen, eines dieser riesigen, stets gebügelten Taschentücher unseres Vaters, die nach Schrank rochen. In aller Ruhe wischte sie sich die Hände ab. Die Tauben wackelten umeinander herum und pickten nach jedem Dreck, sogar nach Kippen, so gierig hatte sie das Brot gemacht.

Plötzlich hielt Vera die Bestecktasche aus gelblichem Kunstleder in der Hand, die ich einmal im Werkunterricht hatte fertigen müssen, mein Geschenk zu ihrer Jugendweihe.»Hier«, sagte sie,»das ist der Rest meines Vermögens. «Die Bestecktasche war voller Geldscheine.

Vera war vor einer Wagentür stehengeblieben. Sie küßte mich zuerst auf die Wange, dann auf den Mund. Ich gab ihr die Reisetasche, und sie stieg ein, wahrscheinlich als letzte.

Die Leute im Gang drückten sich an die Scheiben, um sie durchzulassen. Ich begleitete Vera von Fenster zu Fenster. Ich sah, wie sich Vera unter dem Nichtraucherzeichen eine Zigarette anzündete. Sie hielt die Schachtel hoch, Mutters» Duett«. Dann wurden die Türen geschlossen, was den Kampf um die Fensterplätze neu entfachte.

Wenn sich unsere Blicke trafen, lächelte Vera.

Ohne Ansage, ohne Pfiff ruckte der Zug plötzlich an und fuhr los. Der Aufschrei auf dem Bahnsteig war ohrenbetäubend. Wer konnte, griff nach einer aus dem Fenster gestreckten Hand. Selbst Vera ließ sich von der Hysterie anstecken. Ich sah ihre Hand im oberen Fensterwinkel, als wollte sie mir ihre halbe Zigarette geben. Sie preßte die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf, bis ich sie nicht mehr sah.

Viel zu viele liefen neben dem Zug her, um die Hand, die sie umklammerten, noch ein paar Sekunden länger festzuhalten. So idiotisch ich das fand, so grandios war das Schauspiel, als alle diese Hände einander im selben Augenblick losließen.

Vom Ende des Bahnsteigs her schwammen mir bereits rote verheulte Gesichter entgegen. Eine Frau fiel mir um den Hals und wurde weggezogen. Der letzte Wagen donnerte vorbei, einen Augenblick später war jeder wieder für sich, man sprach leise, nur ab und an ein Schluchzen. Einzeln, als hielten wir uns an eine Abmachung, verließen wir den Bahnsteig.

Ich lief zur Elbe und am Ufer entlang stromaufwärts bis zum Blauen Wunder und dann hinauf, bis ich vor der großen Villa mit den runden Blumenbeeten stand.

Franziska öffnete, als hätte sie mich erwartet. Sie begrüßte mich so herzlich, ja stürmisch, wie ich es mir früher erträumt hatte. Aus dem Keller hörte ich die Musik von Johanns Band, ein paar Takte nur, die immer an derselben Stelle abbrachen.»Sie streiten sich nur noch«, sagte Franziska. Ich hielt inne, weil jetzt Gesang zu hören war. Ich verstand kaum etwas, und der Sänger — es war nicht Johanns Stimme — verstummte auch bald wieder. Wie verachtete ich plötzlich diese Bagage, diese Kirchenmäuse, die nichts riskierten! War es denn nicht egal, wo und welchen Glauben man heuchelte? Hätte Johann denn Theologie studieren dürfen, wenn er bekannt hätte, ein Ungläubiger zu sein? Mein Widerwillen überraschte mich selbst. Statt mich gleich wieder zu verabschieden, folgte ich Franziska nach oben. Auf dem Treppenabsatz unter ihrer Dachwohnung ging das Licht aus. Franziska kam die Stufen herunter, um, wie ich glaubte, nach dem Lichtschalter zu tasten. Im Schein der Straßenlampe sah ich noch, wie Franziska ihre Brille ins Haar schob, dann drückte sie sich an mich, und wir küßten uns.

Die ganze Zeit über bewegten wir uns kaum von der Stelle, nur ab und an knarrten die Dielen unter unseren Füßen. Natürlich hatte ich gemerkt, daß Franziska etwas getrunken hatte. Aber daß sie richtig betrunken war, wurde mir erst klar, als sie plötzlich in sich zusammensackte. Ich konnte nicht verhindern, daß sie zu Boden rutschte. Ich versuchte, sie auf eine Stufe zu setzen, und wäre dabei fast auf sie gefallen. Franziska hielt mich fest.»Stimmt’s«, flüsterte sie,»du liebst mich doch, oder?«Ich bejahte.229

Das Licht ging an, Johann verabschiedete sich von seinen Leuten.

Ich befreite mich halbwegs lautlos von Franziska und schob ihr die Brille wieder auf die Nase. Doch weder meine Anwesenheit noch Franziskas Zustand schienen Johann zu überraschen.

«Er liebt mich«, sagte Franziska,»er liebt mich!«Aber da sie zwischen Johann und mir hin und her sah, war nicht klar, wen sie meinte.

Ich wartete dann in der Küche, während Johann versuchte, Franziska ins Bett zu bringen. Als er wieder in der Küche erschien, suchte er nur nach einem Eimer, ließ Wasser einlaufen und verschwand erneut im Schlafzimmer.

«Das wird schon wieder«, sagte er später, nachdem er sich ein Glas Leitungswasser genommen und sich zu mir gesetzt hatte. Er sah todmüde aus.

«Ich habe Vera zum Zug gebracht«, sagte ich.»Sie läßt dich grüßen. «Ich weiß nicht, warum ich das erfand. Johann reagierte erfreut.

Der Reihe nach erzählte ich von dem Telegramm, der Fahrt und von Mutter, von ihren Koffern und wie sie Vera zurückgerufen hatte. Ich bedauerte, daß Franziska nicht mit am Tisch saß, denn es war, wie ich fand, eine schöne Erzählung. Ich war schon bei der Stelle mit den Tauben angelangt, als Johann aufsprang und ins Schlafzimmer lief. Wie in einer Filmszene sah ich ihm nach und beobachtete, wie die Küchentür immer weiter aufging.

Und plötzlich geschah es — ein Gefühl, eine Sehnsucht, die Gewißheit: Ich will raus! Ich will in den Westen!

Vielleicht war es nur das Eingeständnis eines längst vorhandenen Wunsches. Ich saß da und genoß die Klarheit, nur von einer einzigen Regung beherrscht zu werden. Ja, jetzt liebte auch ich den Westen von ganzem Herzen, eine Liebe, die mich überschwemmte und durchströmte und in die ich Vera und all jene, die mit ihr im Zug saßen, einschloß.

Als Johann zurückkehrte, verabschiedeten wir uns schnell, es war lange nach Mitternacht. Ich lief den ganzen Weg nach Klotzsche.

Ich war zu erschöpft, um noch irgendwelche weiterführenden Überlegungen anzustellen. Ich wollte nichts anderes, als diesen einen Entschluß, der mir230 alle Ungewißheit231 auf vollkommene Art und Weise nehmen würde, sicher nach Hause zu tragen.

Ihr Enrico T.

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