Lieber Jo!
Ich hoffe, Ihr habt den Sonntag besser verkraftet als Michaela (was ich von den Wahlen halte, wird auf der ersten Seite stehen). Jenes» Zweikommaneun «kannst Du von Michaela in allen Tonlagen und Schattierungen hören, heute höhnisch, gestern eher verzweifelt, tonlos, dramatisch. Neben ihr kam ich mir vor wie ein Stein. Seit ihr» klartext «zu Grabe getragen wurde, ist Michaela nicht mehr beim Neuen Forum gewesen. Sie blieb auch gegenüber allen Angeboten für die Wahl standhaft, obwohl ihr die Offerten schmeichelten. Michaela Fürst in die Volkskammer!
Als hätte sie alles kommen sehen, hat sie sich am Freitag die Haare kurz schneiden lassen. Nicht mal Robert wußte davon. Die Idee sei ihr beim Friseur gekommen. Nun trägt sie so traurig wie unnahbar ihren Nofretete-Kopf. Wenn ich sonntags gegen halb neun aufbreche, vergißt sie nie, mich zu fragen, ob ich mir mein neues Leben so vorgestellt habe. Hoffentlich sieht sie niemals die Menschenschlange am Bahnhof, die auf die» Bild«-Zeitung wartet.
Am Sonntag erschien Michaela in einem Kleid, das sie von Thea bekommen hat, eher etwas für die Oper. Die Austräger und Forumsleute, die sich bei uns drängten, empfingen sie, als hielte endlich die rechtmäßige Herrscherin Einzug.
Nach der ersten Prognose bewahrte sie Haltung. Solange es Leute gab, die um sie herum verzweifelten oder wie Marion in Tränen ausbrachen, konnte Michaela sogar trösten. Sie wiederholte mehrmals, daß noch nicht aller Tage Abend sei. Die einen schimpften auf Bohley und Konsorten, weil die immer nur ihr Berliner Ding gemacht hätten, die anderen verdammten die Westgrünen, weil die weder Ahnung noch Geld hätten. Marion sagte dann, wir seien einfach nicht hart genug gegen die Bonzen gewesen. Wir hätten uns durch falsch verstandene Fairneß selbst um alles gebracht, warum hätten wir denn nicht alle Stasilisten veröffentlicht und die alten Parteien verboten? Wozu hätten wir denn Lenin in der Schule gelesen?
Nach einer halben Stunde hatte sich die Empörung erschöpft. Mit jedem, der sich davonstahl, verlor Michaela an Kraft. Man verabschiedete sich nicht mal mehr voneinander. Die einfachsten Sachen mißlangen: Kippen ließen sich nicht ausdrücken, zwei Gläser wurden kurz nacheinander umgestoßen, man rempelte sich an oder trat einander auf die Füße. Michaela gestand mir heute, für Minuten habe sie nicht mal mehr gewußt, daß Marion Marion heiße. Die Gießener, die hemmungslos mitschrieben, reagierten schließlich beleidigt auf das Wahlergebnis und sprachen von dem häßlichen Gesicht des Ostens.
Zu Hause war Michaela nicht vom Fernseher wegzubekommen. In eine Decke gehüllt, wandte sie nicht mal den Kopf, wenn sie mit uns sprach. Bei jeder winzigen Veränderung rief sie uns herbei und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf den Bildschirm.
Michaela hatte Robert Fondue versprochen, alles war vorbereitet, die Platten im Kühlschrank, die Brühe im Topf. Aber selbst als alles auf dem Tisch stand und wir schon die Spieße in den Topf steckten, blieb sie zusammengekauert vor dem Fernseher hocken. Robert war den Tränen nah. Zweimal bat ich sie, sie möge kommen, sie wisse doch nun, wie es ausgegangen sei.
Was ich denn eigentlich zu diesem Desaster zu sagen hätte? Ich tue so, als ginge mich das alles nichts an, als hätte unsere Provinzpostille nicht auch ihren Anteil an der Katastrophe. Ich sagte, daß es wenige Dinge gebe, die mich von einem Fondue abhalten könnten. Du weißt, wie ich das meinte. Michaela versteinerte.
Nichts, nichts habe noch einen Sinn, wenn die Leute so krank und debil wählten. Sie könne hier nicht mehr atmen, könne kaum noch jemandem ins Gesicht sehen, und ich sei genauso bescheuert wie alle anderen.
Wie von der Bühne herab fragte sie mich plötzlich: Wer bist du, wer bist du eigentlich? Ich mußte lachen, nicht über ihre Frage, sondern über das, was mir sofort durch den Kopf schoß: Ein Suchender, sagte ich. Und was suchte ich? Das richtige Leben, sagte ich und war selbst überrascht von der Ruhe und Selbstverständlichkeit, mit der mir das über die Lippen kam. Wundersamerweise setzte sie sich dann doch zu uns an den Tisch.
Ach, Jo, was soll ich denn machen? Ich würde ihr so gern helfen. Aber sie will die Wahrheit einfach nicht hören, jedenfalls nicht von mir.
Als ich heute vom Mittagessen kam — der Galluswirt hatte» geflaggt«, das heißt, er hatte zur Feier des Wahlsieges weiße gestärkte Tischdecken aufgelegt —, saß Piatkowski, der hiesige stellvertretende CDU-Vorsitzende, am Tisch und lutschte Drops, um seine Fahne zu mildern. Und mit wem unterhielt er sich? Mit Barrista!
Als Piatkowski mich sah, schlug er eine dunkelrote Urkundenmappe auf und reichte mir ein A4-Blatt, auf dem sich der CDU-Kreisverband Altenburg» tief bewegt «bei den Wählerinnen und Wählern bedankte. Ich sagte, daß wir nichts mehr annehmen könnten, nichts mehr für diese Woche.
«Oder Sie zahlen Expreßzuschlag«, sagte der Baron. So habe er es neulich gemacht. Für das Doppelte bekomme er sicher noch eine halbe Seite. Piatkowskis feuchte Lippen begannen zu beben. Was denn für hundertfünfzig Mark möglich sei. Knapp vierzig hoch und eine Spalte breit. Piatkowski zog, während er nachsann, die schwarz-rot-goldene Kordel seiner Mappe straff, willigte schließlich ein, verzichtete mit einem Seufzer auf sein neues CDU-Symbol (das» ex oriente pax «gilt offenbar nicht mehr) und wählte einen dicken Rahmen wie für Traueranzeigen. Der Text wird nur mit der Lupe zu lesen sein. Ich quittierte, das Geld bar erhalten zu haben.
Als Piatkowski draußen war, fragte ich den Baron, ob er wisse, mit wem er eben gesprochen habe. Piatkowski hat im Oktober, am Tag nach der ersten Demonstration in Altenburg, an dem Michaela und ein paar andere vom SED-Kreissekretär ins Rathaus geladen worden waren, auf der anderen Seite des Tisches neben dem SED-Chef gesessen und unverhohlen gedroht, daß all jene, die den Dialog blockierten, nicht mit Milde rechnen dürften — wofür er sogar vom Kreissekretär gerügt worden war. Der hatte sich nämlich» tief bewegt «von der Demonstration gezeigt.
Der Baron zuckte mit den Schultern. Worüber ich mich denn aufrege? Etwa über den armen Schlucker, der da gerade zur Tür hinausgehuscht sei? Piatkowski, sagte ich, sei der letzte, der Mitleid verdiene. Ich solle doch einmal überlegen, was ich da sage. Dieser Mensch werde die Kommunalwahlen nicht mehr in seinem Parteiamt erleben, das wisse dieser Piatsoundso selbst am besten. Seine Arbeit werde er aus demselben Grund verlieren. Ob ich wisse, warum Piatsoundso in die CDU gegangen sei? Um die Drogerie seiner Eltern zu retten, weil man ihm gesagt hatte, entweder SED oder der Laden. Und da habe er Zuflucht zur CDU genommen, um das Geschäft wenigstens so lange über Wasser zu halten, wie sein Vater am Leben war.109 Dann habe man ihm den Posten in der Verwaltung angeboten, in der Kämmerei, wie der Baron die Abteilung Finanzen nennt. Piatkowski hatte ihm offensichtlich völlig den Kopf verdreht. Mit einem Schnipp könnten wir den doch erledigen, sagte der Baron, wir müßten nur anrufen und mit einem Artikel drohen, das reiche schon, wir brauchten nicht mal Platz für ihn zu verschwenden. Und ob ich nicht gerade den Beweis erhalten habe, wie schwer es ihm gemacht werde, ein paar Zeilen an die Öffentlichkeit zu bringen, während ich schreiben könne, was und soviel ich wolle. Er sehe es ungern, so der Baron, wenn ich meine Zeit mit Leuten wie Piatsoundso vergeude, davon abgesehen, daß es nicht gerade ritterlich sei, auf einen Besiegten einzuschlagen.
«Gerade jetzt, wo es darauf ankommt«, sagte er,»müssen Sie wissen, was Sie tun!«Er sagte das eindringlich und so leise, daß selbst Ilona, die bis eben noch in der Küche zu hören gewesen war, es nicht verstanden hätte. Dann kam Felix, Georgs ältester Sohn, herein, er hatte den Wolf ausgeführt, und der Baron fragte mich, ob ich ihn auf einem Spaziergang durch die Stadt begleiten wolle. Er sei bisher immer nur von Termin zu Termin gehetzt, jetzt möchte er sich einfach mal treiben lassen. Ich mußte es ihm abschlagen, den Wagen aber können wir noch eine Weile behalten.
Dein E.