Freitag, 6. 7. 90


Armer Jo!

Jetzt verpaßt Du wirklich was. Das Gerede vom» ganz besonderen Menschen «fand ich immer unerträglich, aber als wir ihm dann tatsächlich begegneten, sind Vera und ich ihm vom ersten Blick an verfallen: seine zarte Statur, die hellen Augen, sein schöner Kopf, seine» durchgebildeten «Hände. Seine Manierlichkeit brachte mir den lang vergessenen Begriff der gelungenen Fürstenerziehung wieder in den Sinn. Trotz seines hohen Alters wirkt er jungenhaft, daran kann nicht mal der Rollstuhl, in dem zu sitzen er meistens gezwungen ist, etwas ändern.

Das Programm entspricht ganz seinen Vorlieben, jedoch hat niemand geahnt, daß ihn (»Nennen Sie mich einfach Erbprinz«) eine Dreiraum-Neubauwohnung in Nord mehr interessiert als das Schloß. Die Stadt hat er 1935 das letzte Mal gesehen. Nur den Baron behandelt er vergleichsweise herablassend. Dessen Einflüsterungen und Erläuterungen beantwortet er kaum mit einem Nicken. Häufig unterbricht er ihn, indem er sich vorbeugt, die Hand ausstreckt und jemanden in seiner Nähe in freundlichster Weise anspricht.

Andy, Massimo und der Baron wechseln sich darin ab, seinen Rollstuhl zu schieben, Olimpia (Andys Frau), Michaela und Vera sind sein Hofstaat, doch auch Mutter, Cornelia und ich gehören zu seinem Gefolge — und natürlich Robert.

Niemand spricht es aus, doch ich glaube, der Erbprinz ist schwul, jedenfalls hat er nie geheiratet, ist kinderlos und scheint überhaupt zu filigran für ein Familienleben.

Eigentlich wollte der Baron ihn auf unseren Coup vorbereiten, aber auch mir schien es dann besser, den Erbprinzen selbst ins Vertrauen zu ziehen. Unser Dilemma ist, daß wir am Freitag abend die Zeitung abliefern müssen, wenn wir sie am Sonnabend spät haben wollen, um sie am Sonntag in aller Frühe zu verteilen. Unsere Berichte kämen sonst eine Woche zu spät, und andere würden die Früchte unserer Arbeit ernten. Also haben wir über den Sonnabend, vor allem über den großen Empfang am Nachmittag und über die Inthronisierung der Madonna im Museum bereits im voraus geschrieben.

Der Erbprinz lächelte fast schelmisch, bat darum, den Artikel über die nahe Zukunft lesen zu dürfen, damit er seinen Teil für die Verwirklichung unserer Prophezeiung leisten könne. Er bemerkte sehr wohl, wie mir seine Formulierungen einheizten, aber mit den liebenswürdigsten Worten — er werde gern alles tun, was uns helfe und nütze, er stehe ohnehin in unserer Schuld — beruhigte er mich wieder. Aus Dankbarkeit hätte ich ihm am liebsten seine schönen Hände geküßt.

Wir fuhren ihn dann aufs Schloß, um ihn, zur selben Uhrzeit, zu der morgen der Empfang beginnt, inmitten der Menge zu photographieren — inmitten von Barristas Heerscharen, inklusive Proharsky und Recklewitz-Münzner samt Familien. Dazu die Zeitungsredaktion ohne Marion und Pringel, aber mit Jörg, der schlecht aussieht, und Georgs Familie. (Franka in einem todschicken Kleid — einem Geschenk der Offenburger Zeitungszarin.) Ein Photo über vier Spalten.

Danach folgte sein Besuch in der Redaktion. Er bewahrte sein Lächeln, als Schorba und ich die Hände zu einem Sitz verschränkten und ihn die schmale Treppe hinauftrugen. Er ist leicht wie ein Vogel, seine um unsere Schultern gelegten Arme spürte ich kaum. Andy und der Baron schleppten den Rollstuhl, und oben warteten schon die Damen und applaudierten. Astrid ließ sich kaum bändigen, wedelte wild mit dem Schwanz und gab erst Ruhe, als ihre Schnauze auf dem Knie des Erbprinzen lag.

Frau Schorba verhedderte sich bei der Begrüßung sofort in dem von ihr selbst abgeschriebenen Zeremoniell, errötete und mußte sich von ihm beruhigen lassen. Er sei ein hinfälliger Rentner, sagte er, froh und dankbar, nach Altenburg zurückkehren zu dürfen. Seine Stimme ist so fragil wie seine ganze Gestalt. Die ringlosen Hände, die auf der dünnen Decke über seinen Knien liegen, zittern immer ein wenig. Will er etwas sagen, befeuchtet er die Lippen. Mitunter geschieht dies auch absichtslos, weshalb er uns dann fragend anschaut, um zu erfahren, warum wir verstummen.

Obwohl ich von» Wochenblatt«und» Sonntagsblatt «sprach, das diesen Sonntag zum ersten Mal erscheinen würde, klang es wohl so, als wären wir noch eine Firma. Dann durfte Georg ihm den Reprint der» Herzöge von Altenburg«überreichen. Der Erbprinz blätterte und fand gleich die gedruckte Widmung:»Seiner Hoheit, dem Erbprinzen Franz Richard von Sachsen-Altenburg anläßlich seines Besuches in Altenburg am 7. und 8. Juli 1990 in Verehrung und Freude zugeeignet.«

Georgs Artigkeit, er habe das Buch nur dank der großzügigen Hilfe des Herrn von Barrista herausbringen können, überhörte der Erbprinz, und Barrista blickte finster drein.

Wir schoben den Erbprinzen in den Computerraum. Auch Mutter, Vera und Michaela bekamen nun unser Allerheiligstes zu sehen. Alle lächelten. In das Schweigen hinein sagte ich, daß wir uns als Rebellen und Aufständische fühlten. Da die großen SED-Bezirkszeitungen bald unter Springer, WAZ und Co. aufgeteilt würden, stünden wir allein gegen ganze Armeen. Bereits jetzt gebe es kaum noch ostdeutsche Zeitungen in der Hand von Ostdeutschen.363 Ja, sagte der Erbprinz, dabei könne er uns nur alles Glück dieser Welt wünschen. Denn eine eigene Stimme sei wichtig.

Frau Schorba nickte und wollte ihren ersten Auftritt vergessen machen, indem sie, um dialektfreien und gehobenen Ausdruck bemüht, verkündete, wie wichtig es für sie sei, eigenverantwortlich zu arbeiten. Wir müßten das Arbeiten nicht erst lernen, schloß sie abrupt, als sei sie ihrer eigenen Redeweise überdrüssig geworden.

Der Erbprinz ließ keine Verlegenheit aufkommen und erkundigte sich nach unseren Vorlieben, Gewohnheiten, Lieblingsgerichten und nach der hiesigen Landwirtschaft. Ein paar spärliche Antworten inspirierten ihn zu einem kleinen Vortrag. Er halte dafür, daß jedes Gemüse und jedes Obst seine natürliche Zeit haben solle. Erdbeeren im Frühjahr und Bratäpfel im Winter. Die hereinbrechende Überfülle sei den Menschen nicht zuträglich.

Das könne gut sein, antwortete Mona, davon verstehe sie nichts, doch das Angebot, das sie in dieser Woche kennengelernt habe, wolle sie um nichts in der Welt wieder missen, auch wenn sie es sich nicht immer leisten könne. Die Zeit, in der sie früher endlos habe anstehen müssen, um für ihren Sohn Pfirsiche oder Paprika zu kriegen, diese Zeit wünsche sie sich nicht zurück. Mona erhielt Zuspruch. Der Erbprinz wandte sich immer, soweit es der Rollstuhl erlaubte, dem jeweiligen Sprecher zu, hielt hin und wieder die Hand hinters Ohr und lächelte. Auch wenn er mit dem Gesagten nicht viel anzufangen wußte, so war es, wie er später bekannte, der Klang des Altenburgischen gewesen, der ihn wie ein Duft berauscht habe. Auf einmal wollte jede und jeder zu Wort kommen.

Pringel, bleich unter seinen Barthaaren, rief über die Köpfe von Evi und Mona hinweg, daß er in der SED gewesen sei und für eine Betriebszeitung — er mußte erklären, was das ist — Artikel geschrieben habe, für die er sich heute schäme, jawohl, abgrundtief schäme.

Pringel war aufgestanden, als ließe sich anders nicht von seinem Artikel reden.»Und trotzdem, trotzdem«, fuhr er atemlos fort, wenn man bedenke, was er alles geschrieben habe, das sei doch viel mehr, viel mehr als das, wofür man jetzt mit dem Finger auf ihn zeige und seine Frau beschimpfe. Hunderte von Artikeln!

Und ganz unvermittelt, ohne den Tonfall zu ändern, nannte Pringel es eine Gnade, eine Gnade des Schicksals, noch mal eine Chance zu bekommen, eine Chance, wie sie sich ihm nie geboten, ja an die er nicht mehr geglaubt habe. Sein Leben außerhalb der Familie habe zum ersten Mal einen Sinn, zum ersten Mal fühle er sich gebraucht. Er senkte den Kopf und starrte zu Boden. Sein Schweigen wirkte fast trotzig.

Man seufzte, räusperte sich, sah einander an und blickte gleich wieder weg. Der Erbprinz nannte ihn einen ehrlichen Jungen und wollte noch etwas sagen, als Pringel bereits vor ihm stand, die Hände des Erbprinzen ergriff und ihnen mit dem Gesicht bedenklich nahe kam.»Ich danke Ihnen, daß Sie sich hierherbemüht haben. «Er hielt inne wie einer, der merkt, daß er den falschen Text hat und auf das Flüstern der Souffleuse wartet.

«Einmal habe ich richtig geliebt«, sagte Evi, wie um Pringel aus der Patsche zu helfen,»doch nach der dritten Fehlgeburt hat mich Matthias verlassen. «Sie habe an Selbstmord gedacht, alles sei für sie zu Ende gewesen. Seit dem Vorstellungsgespräch hier bei uns mache sie täglich Dauerlauf, weil sie sich selbst wieder gefallen und schlank werden wolle. Sie schäme sich, das zu sagen, aber sie sei überzeugt davon — solange sie im Dauerlauf durchhalte, sei sie gefeit vor jeglichem Unglück, werde ihre Stelle behalten und einen Mann finden und Kinder kriegen. Für manche sei das ja nichts Besonderes, für sie schon.»So«, sagte sie zum Schluß.

Bei ihm gebe es nicht viel zu sagen, meinte Kurt. Er saß auf dem Tisch, wippte mit dem Unterschenkel und zwirbelte die kurzen Härchen seines Oberlippenbartes. Er habe nie etwas Großes erwartet. Er habe sich angestrengt, eigentlich habe er sich zeit seines Lebens angestrengt, aber Erfolg, was solle er denn für einen Erfolg haben. Ihm habe der Spruch gefallen:»Ich bin Bergmann, wer ist mehr?«Deshalb sei er zur Wismut, und wegen des Geldes. Seine ganze Familie habe immer Dreckarbeit gemacht, und er eben auch. Illusionen hätte er nie gehabt. Deshalb sei er zufrieden. Und jetzt, wenn es gerecht zugehe, sei das auch gut. Es müsse gerecht bezahlt werden, wenigstens halbwegs gerecht, das sei für ihn die Hauptsache.

Schorba sprach von seinem Traum, etwas Richtiges zu erleben und zu leisten. Deshalb sei er drei Jahre zur Armee gegangen, als Fallschirmjäger, dann zur Wismut, später sogar als Hauer, bis ihn sein Steiger auf die Idee gebracht habe, sich zu qualifizieren, fünf Jahre die Schulbank zu drücken, also Abschied vom schnellen Geld. Obwohl Irma, seine Frau, ihn immer darin bestärkt und unterstützt, ja selbst auf ein Studium verzichtet habe wegen der Kinder, die plötzlich gepurzelt kamen, eins nach dem anderen, sei er immer im Zweifel gewesen, ob er die richtige Entscheidung getroffen habe. Alles sei so schnell vorüber gewesen. Natürlich hatte er bei der Wismut Privilegien, die besten Ferienplätze, Vierraumwohnung und das Angebot mit dem Auto. Aber das konnten sie sich gar nicht leisten. Und es nehmen und weiterverkaufen fanden sie nicht in Ordnung. Sie hätten die Anmeldung zurückgegeben, dafür habe man ihn für verrückt erklärt.364 Er wisse gar nicht, warum er das erzähle, solche Nebensächlichkeiten, aber der Haß damals, wegen etwas, das doch im Sinne der Gesellschaft gewesen sei, das habe er nicht verstanden, davon habe er noch heute Alpträume.

«Na ja«, sagte Frau Schorba nach einer Weile, in der es atemlos still gewesen war,»na ja, die Männer, die erzählen das so glatt runter und reiben sich an Sachen auf, die unsereiner gar nicht merkt. Na ja, da wird man nicht viel machen könn, auch zukünftig, mein ich. Er ist halt mein erster Mann gewesen, mein erster und einziger, da war ich noch nicht mal siebzehn. Mit achtzehn kam die Tanja, und mit zwanzig der Sebastian, und als ich mit Anja schwanger war, da war er beim Studium und hat mit anderen rumgebumst, obwohl ich mich nie verweigert habe, er hat ja Kinder, für die er zahlen muß, deshalb hat’s vorn und hinten nicht gelangt. Er ist in die Partei, sonst hätten sie ihn rausgeschmissen, vom Studium, die haben nämlich drauf geachtet, ob einer Familie hat und wie er sich benimmt. Er wollte mich wirklich sitzenlassen, mit drei Kindern. Und da hab ich gesagt: Ich bring dich um. Wenn du das tust, bring ich dich um. Mehr hab ich nicht gesagt, und da hat er’s gelassen und ist wieder jeden Freitag nach Hause gekommen, und dann war das Studium rum. Inzwischen sagt er, daß ich recht hatte, damals. Und ich sag ihm jetzt, der Herr Türmer, der schätzt mich so, daß ich genausoviel verdien’ wie du, das heißt, er kann froh sein, dasselbe wie ich zu bekommen, und überhaupt, daß er dabeisein darf, bei so was Großem wie hier.«

«Ja«, sagte Mona,»bei was Großem, das ist toll. Aber die Männer, da geht’s immer nur ums Vögeln, das ist wirklich so. Ich hab nich was dagegen, aber wenn’s doch immer nur darum geht. Und wenn ich dann seh, wie sie die Frauen sitzenlassen nach zehn oder zwanzig Jahren, das ist erbarmungslos, richtig erbarmungslos, als gäb’s wirklich nur das. Deshalb ist’s schön, wenn’s noch was gibt, was anderes, Großes. Und nächstes Jahr will ich dann rumfahren. Wir freuen uns so, daß Sie gekommen sind!«

Ich dachte schon, wir hätten es hinter uns, da fing Ilona mit ihrer Selbstmordgeschichte an, die ich schon kannte, aber sie haspelte das Ganze so herunter, daß es eigentlich niemand verstand. Fred sagte nur, ihm tue es leid, daß er den Wehrdienst verweigert habe. Denn jetzt sei keine Zeit mehr, ein Studium nachzuholen, und der Kopp, er stieß sich mit der Faust gegen die Stirn,»is ooch nüscht mer gewohnt«. Jetzt seien sie wirklich — pardon, aber es gebe nun mal kein anderes Wort dafür — die Angeschissenen. In der DDR war’s nicht weiter schlimm, Heizer zu sein. Aber jetzt. Was habe er denn schon lernen können? Die Lust an dem ganzen Jubel und Trubel sei ihm vergangen. Ein schönes Auto vielleicht, aber sonst? Noch mal zehn, fünfzehn Jahre jünger sein …

Als sich unsere Blicke trafen, sagte Fred:»Na is so, is wirklich so!«

«Mir geht’s gut!«sagte Manuela, erhob sich, stemmte die Arme in die Hüften, wie um ihren grünen Hosenanzug zu präsentieren.»Ich hab ja nicht geglaubt, daß es das mal geben könnte, aber gehofft hab ich immer, daß ich was für mich finde, das Spaß macht und viel Geld bringt. Ich verdiene viel mehr als der Chef!«rief sie und drehte sich dabei hin und her.»Wenn ich erst mal die Zeitung in der Hand habe, muß ich gar nichts mehr sagen. Dann sammle ich die Anzeigen nur noch ein. «Kurt pfiff durch die Zähne, aber Manuela beendete unbeirrt ihren Werbetanz.

Plötzlich richteten sich alle Blicke auf mich. Selbst Vera und Michaela sahen herüber, nicht fordernd, eher geduldig, bereit zu warten.»Und jetzt du«, sagte Fred.

«Seine Hoheit«, rief Jörg, Seine Hoheit habe das Wunder bewirkt, uns zum Reden zu bringen. Und dafür seien wir ihm alle dankbar.

Ich habe dann darüber gesprochen, wie es vor einem Jahr gewesen ist und vor einem halben und daß ich mir nie hätte vorstellen können, wieviel Spaß mir das tätige Leben machen würde.

Mit Sekt stießen wir auf den Erbprinzen an, der sein Glas nur symbolisch erhob, denn er trinkt keinen Alkohol. Er sah müde aus, und ich machte mir Vorwürfe, nicht auf ein schnelleres Ende gedrängt zu haben. Er wünsche jedem von uns das Beste, von ganzem Herzen, und hoffe doch sehr, daß wir morgen wieder Gelegenheit hätten, einander zu sehen.

Schorba und ich trugen ihn hinunter. Dort hatte sich ein kleiner Menschenauflauf um den Wagen gebildet, auf dessen Nummernschild» Texas «stand. Massimo hob den Erbprinzen hinein, der Erbprinz winkte noch einmal.

Auf dem linken Handrücken des Erbprinzen prangte deutlich der Abdruck eines Lippenstiftes. Vera hatte es ebenfalls bemerkt. Der Erbprinz lächelte, als er unsere Blicke gewahrte, und verbarg das rote Zeichen mit der anderen Hand.

Wir saßen abends im Gästehaus der Stadt in kleiner Runde zusammen und aßen belegte Brote mit sauren Gurken, wie es sich der Erbprinz gewünscht hatte. Nun wird wohl alles gut werden.

Sei umarmt von Deinem Enrico

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