Freitag, 19. 1. 90


Verotschka!

Ich denke unaufhörlich an Dich und zähle die Tage, die Du noch in Berlin bist, als lebten wir zusammen und müßten uns bald trennen.

Die Telephonnummer der Zeitung ist 6999. Vielleicht kannst Du von Beirut aus anrufen? Vormittags bin ich fast immer allein, aber das wird sich bald ändern. Hat Dein Adliger wieder von sich hören lassen?

Manchmal fürchte ich mich vor mir, nein, nicht vor mir, vor dem Gang der Dinge! Alles geschieht so zwangsläufig und folgerichtig, und plötzlich erblicke ich mich mittendrin wie in einem Traum. Ich habe Angst, eines Morgens aufzuwachen und nicht zu wissen, was ich als nächstes, was ich überhaupt tun soll.

Gestern und heute habe ich an Johann geschrieben und ihm ein paar Geschichten erzählt. Geschichten beeindrucken ihn immer. Er wird mich noch um meine Stellung beneiden.

Mamus will uns unbedingt eine Busreise nach Paris schenken. Ich hoffe, ihr das noch ausreden zu können. Sie behauptet, es sei wegen der Wette, ich hätte die Wette gewonnen und sie wolle ihr Wort halten.20 Michaela und Robert sind begeistert. Wahrscheinlich wird uns Michaelas Spielplan davor bewahren, das hoffe ich zumindest.

Michaela wirft mir neuerdings Kälte vor. Meine Anwesenheit und meine Abwesenheit bringen sie gleichermaßen aus der Fassung. Ich versuche sogar, abrupte Bewegungen und Gesten in ihrer Gegenwart zu vermeiden, um sie nicht noch mehr zu reizen.

In den letzten Tagen hat sich zwischen uns ein morgendliches Ritual herausgebildet, das in der ersten Stunde trügerisch dem früheren Alltag gleicht. (Wir essen nur keine Eier mehr, das soll ungesund sein, sagt sie.) Wenn Michaela das Badezimmer verläßt, schenke ich den Kaffee ein, damit sie ihn dann gleich trinken kann. Jede Minute, die ruhig verstreicht, ist ein Geschenk. Auf dem Weg zum Auto sprechen wir meist über Robert und seine Schule, ein unerschöpfliches Thema. Solange wir reden, droht keine Gefahr.

Sobald wir losgefahren sind, verliert sich der ruhige Tonfall. Auf Höhe des Bahnhofs verstummen wir, das heißt, Michaela verfällt in Schweigen, und auch ich bringe kein Wort mehr über die Lippen. Wenn wir am Museum vorbeifahren, wird unser Schweigen eisig. Spätestens auf dem Parkplatz des Theaters erfolgt Michaelas Ausbruch. Am unheimlichsten ist die Vorhersehbarkeit, mit der sich das Ganze wiederholt, als würde Michaela jeden Morgen zum ersten Mal klar, daß ich nicht mit ihr zusammen aussteigen werde, daß sie allein ins Theater muß, und sie scheint um so mehr davon überrascht, weil doch bis dahin alles so gewesen ist wie früher.

Ich stelle den Motor ab, damit sie sich nicht gedrängt fühlt, und lasse mich erneut darüber belehren, daß es auch im Westen Theater gebe, daß es immer Theater gegeben habe und geben werde und im Theater der Mensch und die Gesellschaft zu sich selbst kämen. Nachdem sie ihre Worte gegen die Frontscheibe geschleudert hat, versinkt sie in Schweigen. Dabei wirkt sie hochkonzentriert, wie vor einem Auftritt. Das schlimmste wäre, sie jetzt an die Uhrzeit zu erinnern. Ich sitze neben ihr, als wartete ich auf das Ende des Regens, und achte darauf, das Lenkrad nicht zu berühren und überhaupt jede Geste zu vermeiden, die mir als Ungeduld ausgelegt werden könnte.

Plötzlich stößt sie dann die Tür auf und rennt los, ohne Abschied, den Kopf hochgeworfen, die Handtasche vor der Brust, ihr Mantel flattert ihr nach.

Über das Lenkrad gebeugt, verfolge ich ihren Lauf, bereit zu winken, falls sie sich umdrehen sollte. Ist Michaela verschwunden, lasse ich den Motor an und sehe mich im Rückspiegel lächeln.

Drei Minuten später bin ich schon in der Redaktion, lege Kohlen nach, setze Wasser auf und warte mit dem Rücken am Ofen, bis der Kaffee fertig ist. Georg kommt bald darauf herunter, klopft ans Barometer, zieht die Standuhr auf und inspiziert die Thermometer vor dem Fenster und neben der Garderobe. Kapitän Nemo könnte nicht aufmerksamer über seine Apparaturen wachen.

Nachmittags fahre ich meist übers Land und besuche die Amtsstuben. Zuerst erschrecken sie, wenn sie Zeitung hören. Die Sekretärinnen begreifen in aller Regel schneller als ihre Chefs, daß ihnen von mir keine Gefahr droht, und sind äußerst freundlich. Robert kommt manchmal mit. Während der Fahrt reden wir über alles mögliche. Er hat klare Vorstellungen von meinen Aufgaben. Die Zeitung deckt alles auf und sorgt überall für Gerechtigkeit. Die Stunden mit ihm genieße ich sehr.

Am Freitag, dem 16. Februar soll die erste Ausgabe erscheinen. Das klingt wie ein Märchen. Man denkt sich was aus, man macht es und lebt davon. Als kehrten wir zu einem vergessenen Brauch zurück, zu einer Lebensweise, wie sie eigentlich allen Menschen vertraut ist, nur uns nicht.

Am Dienstag werden wir für drei Tage nach Offenburg reisen, unabhängig von der offiziellen Altenburger Delegation. Ein Gönner21 spendiert uns die Übernachtungen. Hoffentlich hält unser Jimmy22 durch.

Verotschka, Liebste! Ich umarme Dich!

Dein Heinrich

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