Lieber Jo!
Wie findest Du die Zeitung? Letzten Donnerstag sind Robert und ich wieder tausend Exemplare losgeworden. Michaela aber ist verzweifelt. Sie hatte bei der Intendantin die Wiederaufnahme der» Julie«71 durchgesetzt, nach fast anderthalb Jahren. Flieder72 war nur einmal kurz da. Er hat einen Tumor im Kopf und wird diese Woche in Berlin operiert. Damit kommt er auch ohne Zutun der Sluminski73 nicht als neuer Oberspielleiter in Frage. Die gestrige Aufführung, die zweite Premiere sozusagen, von der sich Michaela so viel versprochen hatte, war mit 32 verkauften Karten ein Desaster. Und das, obwohl wir die Wiederaufnahme dank Marion groß angekündigt hatten.
Als ich gegen elf hinüber zum Theater ging — ich hatte ja» Zeitung machen «müssen74 —, war schon alles dunkel und kein einziges Auto mehr auf dem Parkplatz. Die Pförtnerin verwehrte mir mal wieder den Eintritt. Erstens gehörte ich nicht mehr dazu, und zweitens gebe es keine Premierenfeier, weil es keine Premiere sei, und zum Feiern bestehe erst recht kein Grund!» Zweiunddreißig Zuschauer! Zweiunddreißig! Überlegen Sie mal!«
Als ich die Kantine betrat, rief Michaela gerade:»Oh, ich bin so müde! Ich kann nichts mehr tun! Ich kann nicht bereuen, nicht fliehen, nicht bleiben, nicht leben — nicht sterben! Helfen Sie mir! Befehlen Sie mir, und ich werde gehorchen wie ein Hund!«
Du siehst, ich kann es immer noch auswendig!75
Zu viert saßen sie da: die Neue von der Requisite mit dem schönen Charlie von der Ankleide und am Erkertisch Michaela und Claudia, ihre Freundin und Kollegin. Claudia verkündete, bis zum Morgen durchzumachen. Ich fragte, wie sie das mit einer halben Flasche Wodka schaffen wollten.
«Weiter«, rief Michaela.
«Das war vorhin«, begann Claudia und klemmte sich die Kappe eines Filzstiftes zwischen Oberlippe und Nase.»Jetzt haben wir an was anderes zu denken!«Bei den letzten Worten warf sie sich über den Tisch und prustete los. Der schöne Charlie applaudierte und versuchte mitzulachen.
«Wenn du mich fragen würdest, wie es gewesen ist, nur mal angenommen, du würdest mich fragen«, erwiderte Michaela,»dann würde ich auf der Stelle antworten — na? Was würde ich sagen? — , würde ich sagen …«, und nach einem kurzen Auflachen:»Berauschend!«Mit großer Geste präsentierte sie mir die leere Kantine.
So ging es weiter. Du kannst es lächerlich nennen oder genial, was die beiden da aufführten, ich aber bekam es allmählich mit der Angst zu tun. Claudia habe ich im Verdacht, daß sie den Fehlschlag genoß. Für sie war es damals eine Demütigung, nicht die Julie spielen zu dürfen.
«Sind Sie nicht mein Freund?«fragte Michaela und sah die von der Requisite an. Es entstand eine Pause, in der Michaela die Ärmste fixierte, bis diese errötete und piepste:»Ja, natürlich will ich Ihre Freundin sein. «Claudia konnte ihr Gekicher nicht unterdrücken.
«Fliehen? Ja — wir werden fliehen!«fuhr Michaela fort.»Aber ich bin so müde! Geben Sie mir ein Glas Wein!«Charlie erhob sich, um ihr den Rest Wein einzuschenken. Michaela schien irgendeiner Erkenntnis auf der Spur zu sein, als nehme sie etwas wahr, was ihr bisher entgangen war. Ihr Satz» Wo haben Sie gelernt, sich so auszudrücken?«ergriff sie wirklich. Nach einer Pause, in der sie sich kerzengerade aufsetzte, verkündete Michaela todtraurig:»Sie müssen viel im Theater gewesen sein.«
Niemand lachte. Es war gespenstisch.
«Ausgezeichnet! Sie hätten Schauspieler werden sollen.«
Die Stille war atemlos wie nach dem letzten Ton eines Requiems.
Michaela ließ sich widerspruchslos von mir hinausführen. Ich habe ihr geraten, sich krank schreiben zu lassen, aber sie will nicht, das sei nichts für sie.
Ich kann sie nicht trösten! Das Theater ist mir vollkommen fremd.
In der neuen Ausgabe haben wir ein Interview mit Rau76. Jörg durfte es machen, nicht die LVZ. Rau hielt auf dem Markt eine Rede, lobte die» privatere Art «des Lebens im Osten und hat nun Sorge, daß durch die» Sucht nach der D-Mark die alle so werden, wie wir schon sind«. Auch er scheint die Seele im Osten zu suchen. Soll er nur. Dann hat er einfach geplaudert, als Skatspieler sozusagen, und erklärt, wie man richtig wählt, und sechs Busse aus Nordrhein-Westfalen — sogar die alte Werbung ist noch drauf — dem Altenburger Kraftverkehr geschenkt. Michaela war sauer, weil ausgerechnet Karmeka, ein Zahnarzt, der sich im letzten Herbst schön still verhalten hat, jetzt als Vertreter des Runden Tisches die Schlüssel von Rau entgegennehmen durfte. Morgen kommt Otto von Habsburg auf Einladung der DSU. Die hat schon mal Flugblätter verteilt:»Hätten wir sie aufgehängt, wären wir nicht besser als sie, die mit Stasi und Schießbefehl regiert haben.«
Clemens von Barrista und sein Wolf sind überall und nirgends. Am Freitag stieg er aus einem breiten schwarzen Amischlitten und bat uns um Wasser für Astrid, den Wolf. Auf meine Frage, ob er einen Kaffee möchte, reagierte Barrista überschwenglich, als erfüllte sich sein heimlicher Wunsch. Zusammen verließen wir die Redaktion. Ich mußte nach Lucka. Ob er mich begleiten dürfe?» Ja«, sagte ich,»natürlich!«Daraufhin öffnete er die Tür des schwarzen Autos und warf mir den Schlüssel zu. Der Wolf sprang hinein. Ich lehnte ab. Mir war es sowieso ein Rätsel, wie er mit diesem Schlitten durch die Frauengasse gekommen war. Ich solle es einfach versuchen, es sei ein Kinderspiel, ich werde schon sehen!
Wie recht er hatte! Sanft schaukelten wir durch die Stadt und brausten dann los. Ich spürte den Atem des Wolfes an meinem rechten Ohr. Alle Angst war verflogen! Plötzlich wurde es hell und laut — Barrista hatte das Dach zurückgeklappt.
Zwanzig Minuten später fuhren wir beim Rat der Stadt Lucka vor. Den Zündschlüssel ließ ich stecken, der Wolf sprang nach vorn.
Bei meinem ersten Besuch im Januar, Robert war mitgekommen, hatten wir Frau Schorba, die Sekretärin des Bürgermeisters, weinend und zusammengesunken auf ihrem Stuhl gefunden. Ich hatte ihr schließlich ein Taschentuch angeboten. Bis heute weiß ich nicht, was vorgefallen war, doch als sie mir bei meinem nächsten Besuch das Taschentuch gewaschen und gebügelt überreichte, fragte sie, ob sie etwas für mich tun könne. Und nun sammelt Frau Schorba Anzeigen für das» Wochenblatt«.
Unser wöchentliches Ritual verfolgte Barrista von der Tür aus. Während ich die Meldungen aus dem» Wochenblatt«-Schnellhefter überfliege, wiegt sich Frau Schorba ausdrucksvoll wie eine Pianistin an ihrer Schreibmaschine. Nachdem ich ihrem Spiel eine Weile zugesehen habe, sage ich:»Frau Schorba, ich bewundere Sie!«
Dann sinken ihre Hände in den Schoß. Ich ignoriere ihr vielsagendes Schweigen, bedanke mich und rufe, schon im Gehen:»Bis nächste Woche!«
«Sie haben da etwas vergessen!«antwortet sie und lächelt maliziös. In einer Hand hält Frau Schorba die Annoncen, in der anderen das Kuvert mit dem Geld.
«Das ist ja Rekord!«rief ich diesmal laut. Von den sechs Anzeigen waren drei zweispaltig, eine sogar achtzig Millimeter hoch.
Plötzlich stand Barrista da, ergriff ihre Hand und sagte:»Jemand wie Sie muß einfach unter meinem Schutz stehen!«Ich war nicht weniger verblüfft als Frau Schorba.»Wann immer Sie mich brauchen«, versprach er und legte seine Visitenkarte neben die Schreibmaschine. Mit einer Verbeugung und einer eleganten Drehung verabschiedete er sich und war schon zur Tür hinaus.
«Er ist der Abgesandte des Erbprinzen«, flüsterte ich ihr zu und folgte ihm.
Zum» Lunch«, wie Barrista das Mittagessen nennt, fuhren wir wieder in die» Schiedsrichterklause«. Nachdem sich Barrista nach meinem Geburtsjahr erkundigt hatte, lud er uns — Jörg, Georg und mich — für Dienstag in den» Wenzel «ein. Ich werde Dir berichten!
Sei umarmt, Enrico