Gründonnerstag, 12. 4. 90


Verotschka,159


ich beruhige Mamus alle paar Tage. Selbst bei hundert Toten liegt die Chance, daß Dir nichts passiert, bei 99,99 Prozent. Mamus kommt über Ostern.

Wenn der Telephonanschluß im neuen Haus installiert ist, brauchen wir keine Rücksicht mehr zu nehmen.160 Merkwürdigerweise fällt es mir schwer, den Apparat zurückzulassen! Ich habe so viele Stunden mit ihm zugebracht, so viel gehofft! Die Wählscheibe, diese Spiralschnur, sogar der Hörer gehören schon zu Deiner Stimme, Deinem Atem, zu allem, was Du und ich gesagt haben.

Verotschka, nicht mehr lang, und ich werde Dir die Welt zu Füßen legen! Wenigstens ein kleines Stückchen davon. Dein Freund, der Baron, hat ein paar Andeutungen gemacht, und ich bin darauf eingegangen, gut möglich, daß wir, Du und ich, bald auf Reisen gehen. Ich will es noch nicht verraten, es klingt aberwitzig und verrückt, aber ich habe gelernt, gerade deshalb daran zu glauben. Du siehst ja, wie alles sich fügt!


Ich bin Dir so dankbar, daß Du an Robert gedacht hast. Er trägt die Jacke draußen und drinnen, nachts hängt sie an seinem Bettgestell.

Michaela schrieb seinen» phantasielosen «Geldwunsch meinem Einfluß zu. Was soll sich Robert denn wünschen? Er weiß ja, daß er sich in ein paar Monaten ganz andere Wünsche erfüllen kann.

Vor ein paar Tagen hat Michaela mir gestanden, daß sie einen Brief von Roberts Vater mit sich herumträgt. Sie hatte die Schrift auf dem Kuvert erkannt.

Ich bin ihm nur einmal begegnet, das heißt, ich habe ihn im Theater gesehen, als er sich seine Weihnachtspyramide und seinen alten Kerzenleuchter abholte. Ich begriff damals nicht, wie Michaela auf so einen hatte hereinfallen können. Diese Inkarnation des Möchtegernkünstlers (grauer Pferdeschwanz, Protzring, Stoppelbart). Ständig sprach er von Pablo oder Rainer oder Hanna161, und wenn jemand nachfragte, fühlte er sich im Namen seiner Götter beleidigt. Robert saß bis zehn, elf abends in der Kantine des Theaters162 und wartete, bis Michaela abgeschminkt war. Der Vater hatte nie Zeit für ihn, weil er gerade wieder seinen Inspirationen nachspürte oder Abiturientinnen ausführte. Trotzdem hat Robert sehr an ihm gehangen.

Jetzt wollte Robert den Brief gar nicht lesen. Dann hat er seinen Vater beschimpft und geweint. Irgendwann aber wird er zu ihm fahren. Und ich muß es geschehen lassen oder ihn gar dazu ermuntern.

Gestern hat mich Michaela in den» Wenzel «begleitet. Wir sind erst vorhin zurückgekommen.

Auf der Hinfahrt behauptete sie noch, die halbe Stadt mache sich schon über Barrista lustig, ich solle Robert vor ihm schützen. Euphemistisch ausgedrückt sei mein Adliger ein übereifriger und lächerlicher Kauz, der vor lauter Ambitionen in seinen albernen Stiefeln kaum laufen könne.

Von Nicoletta (klein, brünett, mit kornblumenblauen Augen und einer unvorteilhaften, aber teuren Brille, sie weiß alles, kann alles, macht alles, aber im Grunde ist sie hilfloser als ein Kind, immer voller Angst, etwas zu verpassen, und dankbar, wenn sie überhaupt einen» Job «bekommt; sie erhofft sich dank des Lindenau-Museums eine kunsthistorische Karriere163) — von Nicoletta weiß ich, daß er irgendwie Dreck am Stecken haben muß, jedenfalls darf er nicht mehr selbst Geschäfte machen und bedient sich deshalb eines ganzen Netzes von Strohmännern. Wußtest du davon? Aber dieser Makel erhöht nur seine Attraktivität, zumindest für so poetische Seelen, wie ich sie kenne, allen voran Johann. Er giert regelrecht danach, von rätselhaften und undurchsichtigen Gestalten zu hören, die überall ihre Finger im Spiel haben und dabei erfolgreich sind, geschäftlich und bei den Frauen. […] Und wenn ich Barrista mal kurz hinken lasse, dann findet Johann ihn gleich diabolisch und spricht von dessen» dunklem Glanz«.

Selbst Michaela konnte nicht verbergen, daß ihr Ausfall gegen Barrista nur die Kehrseite ihrer Neugier war, ja daß sie darauf brannte, ihm vorgestellt zu werden. Ich hatte dann mein Vergnügen daran zu sehen, wie schnell Barrista sie für sich gewann.

Noch vor dem Handkuß (er sollte wenig später von ihren Händen schwärmen), noch bevor ihr der Ehrenplatz am Tisch zuteil geworden war, quasi mit dem Eintritt ins Restaurant, hatten die beiden ihr Spiel begonnen. Auch er weiß vor Publikum zu agieren, ohne es eines Blickes zu würdigen.

Der Baron überreichte uns etwas, das er Menükarte nannte und auf die er mit erhabener Goldschrift hatte drucken lassen:»Zu Ehren der Wiedergeburt des ›Altenburger Wochenblattes‹ und zu Ehren von Michaela Fürst und Marion Schröder«. Im Inneren waren sechs Gänge aufgezählt, links französisch, rechts in deutscher Übersetzung — so was macht Eindruck.

Ob das nicht übertrieben sei, fragte Michaela schroff, um sofort kundzutun, wie gern sie die Einladung annehme. Zuvor jedoch wolle sie nicht versäumen, ihm für die herrlichen Blumen zu danken, die in ihrer Art ebenso verführerisch seien wie die Namen dieser geheimnisvollen Gerichte.

Marion war aufgefahren, auch sie habe sich noch gar nicht für das größte Alpenveilchen Altenburgs bedankt.

«In Sachen Blumen«, resümierte Michaela,»kann dem Herrn von Barrista wohl niemand das Wasser reichen. «Es berührte mich seltsam, aus ihrem Mund seinen Namen zu hören. Von da an war eigentlich alles klar.

Während der Hauptgänge unterhielt er uns mit Reiseberichten. Im Herbst fliege er immer in die USA, an die Ostküste zum Lobsteressen. Er beschrieb uns die Lokale, die kleinen Häfen, die Landschaften und Lichtstimmungen, die Kürbisse auf den Feldern, das rote Laub … Seine Erzählung war ebenso bildhaft wie heiter und floß, von keiner Frage unterbrochen, unaufhörlich dahin wie eine Tafelmusik, in die gehüllt ich mich meinen Träumen von Dir hingab.

Als wir aufstanden und der Baron mir die Hand auf die Schulter legte — das Restaurant war längst geschlossen, man deckte bereits fürs Frühstück —, fragte er, ob es uns recht sei, diesen außerordentlichen Abend mit einem Cocktail ausklingen zu lassen. Die Bar sei nicht viel wert, aber in den vergangenen Wochen habe er Aufbauarbeit geleistet. Er würde sich glücklich schätzen, den Shaker für uns zu schwingen.»Warum nicht?«sagte Michaela wie aus der Pistole geschossen.

«Well, das ist ein Wort!«triumphierte der Baron. Untergehakt geriet ich an einen Tisch in der Bar, der gerade abgeräumt wurde.

In den folgenden Minuten widmete sich mir der Baron geradezu inbrünstig. Mehr als an das Gesagte erinnere ich mich an den melodiösen Klang seiner Sätze, der angenehm war, fast zärtlich. Ja, er umwarb mich förmlich. Und ich begriff: Er ist gar nicht so alt, wie er aussieht, er ist viel jünger!

Als ich erwachte, prusteten und kicherten Michaela und der Baron. Bis auf ein paar Kellnerinnen und einen spindeldürren Mann am Nebentisch, der sich über leere Gläser beugte, waren wir allein.

«Wir sprachen gerade vom Theater«, sagte er, als wäre ich nur kurz auf der Toilette gewesen. Eine Hand auf meinem Knie, lehnte er sich zu mir herüber. Ich roch sein eigenwilliges Parfüm. Es war fünf Uhr, für mich schon relativ spät.164

Er nötigte uns in seinen Wagen. Michaela plapperte und kicherte vor sich hin. Während der Fahrt versuchte ich von hinten ihren Kopf zu halten, der in den Kurven von der Kopfstütze rutschte.

Beim Aussteigen sank sie mir in die Arme. Ich kam mir vor wie ein Lakai.

Kaum in der Wohnung, brachte die Übelkeit sie wieder zu Bewußtsein. Ich mußte ihr die Stirn über der Kloschüssel stützen, so schwach war sie.

«Bist du eifersüchtig?«fragte sie und meinte, mir dabei ganz besonders bedeutungsvoll in die Augen blicken zu müssen. Ich bat sie, sich nicht auf ihr Kleid zu knien, und versuchte, ihr den Mantel auszuziehen. Sie griff in die Manteltasche und hielt ein Kuvert hoch.»So viel ist mein Name wert«, rief sie,»tausend De-eM!«Das bekomme sie jetzt monatlich, als Geschäftsführerin von Fürst & Fürst Immobilien.

Als wir später nachzählten und ich sie fragte, ob sie wisse, worauf sie sich da einlasse, sagte Michaela: Sie vertraue mir, ich hätte sie schließlich mitgenommen, er sei mein Freund, nur deshalb habe sie eingewilligt, um wenig später hinzuzufügen:»Er ist so häßlich! Ist er nicht unglaublich häßlich?«

Findest Du ihn auch häßlich?

Ich küsse Dich

Dein Heinrich


[Nachfolgende handschriftliche Zeilen stehen auf einem neuen Blatt und sind undatiert. Da der vorangegangene Brief frühmorgens, unmittelbar nach der Rückkehr aus dem» Wenzel«, geschrieben wurde, ist auch hier der 12. 4. als Datum anzunehmen. Sie kamen als ein Fax — Auskunft V. T.]

Michaela hatte heute vormittag eine Fehlgeburt. Sie ist gleich ins Krankenhaus, ich erfuhr es erst ein paar Stunden später. Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte nie davon gehört, aber das ist natürlich Unsinn. Ich fühle mich schuldig, weil ich sie in den» Wenzel «geschleppt habe. Ich verstehe nicht, daß Michaela nichts gespürt hat — sie hätte es doch wissen müssen! Es kann nur in Offenburg gewesen sein, nur dort!

Michaela möchte nicht einmal getröstet werden und ist sehr gefaßt. Zartfühlenderweise hatte man sie in ein Zimmer mit drei Frauen gesteckt, die eine Schwangerschaftsunterbrechung hatten, es habe keine anderen freien Betten mehr gegeben.

In gewisser Weise sind wir beide dankbar, daß uns die Entscheidung abgenommen wurde. Deshalb reden wir nicht darüber. Am traurigsten scheint Robert zu sein.

Verotschka, Schwesterchen!

H.

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