Liebe Nicoletta!
Der erste Bus ist schon gefahren, bald werde ich Schritte über mir hören und all die Morgengeräusche. Mein Fenster steht einen Spalt offen. Wie geht es Ihnen? Ich möchte mit Ihnen sprechen. Bei der Vorstellung, daß Sie dieses Blatt erst in ein paar Tagen erhalten werden, scheinen diese Zeilen ihren Sinn zu verlieren. So lange will ich nicht warten!
Die Kopfschmerzen sind erträglich geworden. Den Arzt in der Poliklinik überredete ich, mir die Halskrause abzunehmen. Die Hände an meinen Schläfen, sah er mich derart erwartungsvoll an, als könnte mein Kopf herunterfallen. Ich solle mir vorstellen, mein» Haupt «auf dem Hals zu balancieren, so ergebe sich die richtige Haltung ganz von selbst. Am spanischen Königshof hat man sich wohl nicht würdevoller bewegt als ich mich in meinen vier Wänden.
Ich verbot mir, in die Redaktion zu gehen. Die Erwartung, dort könnte ein Gruß von Ihnen auf mich warten, und sei es ein flüchtiger, ziehe ich der Enttäuschung, daß dem nicht so ist, entschieden vor.
Vielleicht liege ich allein deshalb im Bett, um ungestörter an Sie denken zu können. Wie viele Briefe habe ich Ihnen schon geschrieben, mit geschlossenen Augen, die Hände über dem Bauch gefaltet. Könnten wir unser Gespräch doch dort wiederaufnehmen, wo es unterbrochen worden ist!? Aus Wut und Enttäuschung über den verdorbenen Tag und Ihre verfrühte Abreise war ich nicht mehr in der Lage, das Glück zu sehen, daß Ihr Besuch bedeutet, überhaupt das Glück, daß wir am Leben sind.
Wie kamen Sie denn darauf, in dem Unfall einen Anschlag zu sehen? Das erste, was Sie riefen, war:»Ein Anschlag!«
Daraufhin bildete ich mir sofort ein, die beiden Männer in dem weißen Lada zu kennen. Ich gebe mir alle Mühe, das als Hirngespinst abzutun, aber auch als Hirngespinst gefällt es mir nicht. Jetzt, beim Schreiben, klingt es völlig absurd. Und doch erscheinen mir die beiden Gestalten immer deutlicher. Es ist wie im Märchen, wenn der Teufel gerade in jenem Augenblick seinen Tribut fordert, da man ihn bereits vergessen hat.86
Liebe Nicoletta, es ist Abend — und wieder kein Brief von Ihnen.87 Ich weiß, ich sollte das nicht schreiben.
Den Tag habe ich in seltsamer Stimmung verbracht. Ich roch die merkwürdigsten Dinge, wähnte mich plötzlich in einem anderen Zimmer und brauchte, als würde ich erwachen, ein paar Sekunden, um wieder zu mir zu kommen. An solchen Tagen genügt eine Unachtsamkeit, und man stürzt ab und fällt und fällt. Ist es nur Einbildung, wenn man den Griff tatsächlich spürt, obwohl die Hand längst losgelassen hat? Soll ich sagen, die Vergangenheit greift nach mir, oder vielleicht besser: Ich bin nie jung gewesen? Glauben Sie, daß jemand wie ich dazu fähig ist, eine Waffe zu stehlen? Verzeihen Sie das Geraune. Das klingt alles so abgeschmackt. Ich habe einfach Angst, in jenen Zustand zurückzufallen, in dem ich mich Ende letzten Jahres befand. Ich war krank und lag genauso wie jetzt in meinem Zimmer. Und das ist, ich übertreibe nicht, die schlimmste Zeit meines Lebens gewesen.
Seit ein paar Wochen trage ich eine Frage mit mir herum. Anfangs nahm ich sie nicht ernst; sie war mir zu profan. Aber mittlerweile glaube ich an ihre Berechtigung. Sie lautet: Auf welche Art und Weise kam der Westen in meinen Kopf? Und was hat er da angerichtet?88
Ich könnte natürlich auch fragen, wie der liebe Gott in meinen Kopf kam. Das liefe auf dasselbe hinaus, wäre allerdings weniger auf die Besonderheit meines Sündenfalles gerichtet.
Eine genaue Antwort vermag ich selbstredend nicht zu liefern. Ich kann nur versuchen, mich heranzutasten.
Eines der wenigen Rituale, die bei uns zu Hause gepflegt wurden, war das Wiederbeleben frühester Erinnerungen. Das Ziel war erreicht, wenn meine Mutter rief:»Unmöglich! Da warst du erst zwei!«oder:»Mit anderthalb — das ist ausgeschlossen!«Noch bei der fünften Wiederholung gelang ihr diese Fassungslosigkeit überzeugend. Meine Erinnerungen bestätigt zu finden befriedigte mich zutiefst. Schüttelte meine Mutter ungläubig den Kopf, fühlte ich mich als eine Art Wunderkind. (Vera, meine Schwester, versäumte nie, Berichtigungen anzubringen; gegen ihre vier Jahre Vorsprung war ich machtlos und mußte mir anhören, wie glücklich man ohne mich gewesen war.)
Hier eines meiner Bravourstücke: Ich erwache, im Zimmer ist es dunkel, im Vorraum Licht und Stimmen. Meine Mutter trägt mich hinaus, meine Großmutter sagt: mein Herzchen. Über einer Sessellehne liegen zwei Mäntel mit Pelzkragen und ein Hut — Fremde! Fremde sind in unserer Wohnung! Ich beginne zu weinen. Die Fremden haben sich versteckt. Man gibt mir ein Duplo, das wie eine halbgeschälte Banane aus dem Papier ragt. Meine Schwester hat ebenfalls ein Duplo. Ich verstehe ihre Ausgelassenheit nicht. Das Duplo soll mich mit den Fremden versöhnen, die hier einziehen wollen. Ich bekomme ein kleines rotes Auto geschenkt. Zwischen Vorderrad und Fahrertür ragt ein helles Stäbchen heraus. Damit wird gelenkt. Die Scheinwerfer sind Glassteinchen,»Brillanten«, sagt meine Mutter,»aus dem Westen.«
Aus den Koffern werden immer neue Geschenke zutage gefördert und meiner Mutter gezeigt. Mein Opa kitzelt mit einem elektrischen Rasierapparat meinen Handteller. Alles kommt aus dem goldenen Westen. Ich überblicke den größten Teil des Zimmers, die Fremden verstecken sich. Sie flüstern mit meinem Opa.
Wieder im Bett, frage ich, ob die Fremden lange bleiben werden. Dabei bin ich mir sicher, daß sie bei uns einziehen wollen. Ich glaube meiner Mutter nicht.
Ich bin ängstlich, ich bin beeindruckt, Spielzeug mit Brillanten, wo die herkommen, ist die Welt aus Gold. Das ist auch der Grund, weshalb wir nicht in den Westen dürfen. Natürlich wollen alle lieber im Westen leben. Ich darf mit diesem Auto nicht draußen spielen, überhaupt dürfen andere Kinder nicht von diesem Auto erfahren. Sie werden sonst neidisch, weil sie selbst kein rotes Auto haben. Das rote Auto ist unersetzbar, das kann man nicht einfach kaufen. Bei uns haben nur wenige Kinder Matchbox-Autos und Legosteine und Kababüchsen. Ich hatte auch Hemden aus dem Westen und Hosen, und später würde ich genauso hübsch aussehen wie der Junge auf der Kinderschokolade. Eigentlich war auch ich ein Westkind.
Hören Sie mir überhaupt noch zu? Oder halten Sie mich nun für völlig verrückt? Lassen Sie es mich zu Ende erzählen! Von Jahr zu Jahr begriff ich besser: Wir besaßen Dinge, die andere Familien nicht hatten und nicht haben konnten, auch wenn sie diese noch so sehr begehrten und viel mehr verdienten als meine Mutter und mehr Geld auf dem Konto hatten als mein Opa. Die Westsachen waren wie Mondgestein, entweder wurden sie einem geschenkt, oder sie blieben unerreichbar. Mit den Verwandten im Westen war es genauso wie mit dem lieben Gott und dem Herrn Jesus, die hatten einen auch lieb, obwohl man sie gar nicht kannte und nie zu Gesicht bekam. Und wer mich wegen des lieben Gottes auslachte, beneidete mich zumindest um mein rotes Auto.
Fünf Tage im Jahr waren besonders: Nikolaus, Ostern, Geburtstag, Weihnachten — Weihnachten war die Krönung, doch die Steigerung von Weihnachten war jener Tag, an dem die Großeltern von ihrem Besuch aus dem Westen zurückkehrten. Der Abend ihrer Ankunft auf dem Neustädter Bahnhof in Dresden war der eigentliche, der nicht zu übertreffende heilige Abend.
Jedes Jahr nahm meine Mutter an diesem Tag frei, und wir durften zum Mittagessen nach Hause kommen. Nach den Hausaufgaben halfen wir ihr, wobei wir das Gefühl hatten, durch gründliches Staubwischen und ausgiebiges Schuhputzen die Anzahl der Geschenke zu vermehren.
In unseren besten Sachen ging es dann, schon im Dunklen, zur Straßenbahn.
Das Großartige, um nicht zu sagen: das Ungeheuerliche, lag in unserer Erwähltheit. Was lebten die anderen für ein Leben, in dem es nie einen Tag, einen Abend wie diesen geben würde? Ich bedauerte meine Mitschüler. Sie taten mir leid wie die Afrikaner, die sonnabends weder» sport aktuell «noch Berichte über die Vierschanzentournee sehen konnten.
In der Straßenbahn, in der uns die vielen freien Sitzplätze übermütig werden ließen, sahen wir wohl etwas herablassend auf die anderen Fahrgäste. Wir waren unerkannte Königskinder, und ich war glücklich, niemand anders als ich zu sein.
Dann begann das Hin und Her, auf welchem Bahnsteig der Zug einfahren sollte. Bei jedem Lautsprecherrasseln lauschten wir angespannt, um im blechernen Lallen die Silben» Be-bra «auszumachen. Und was wäre das Warten ohne Verspätungen gewesen, was die Herbstluft ohne den Dampf der Lokomotiven.
Es gab keine Enttäuschungen, es konnte gar keine geben, denn jedes Geschenk aus dem Westen war an und für sich unschätzbar. Was die Großeltern erzählten, lag außerhalb unserer Vorstellungskraft, zum Beispiel Rolltreppen, Rolltreppen in einem Kaufhaus. Man betritt einen Teppich, hält sich am reichverzierten Geländer fest und wird lautlos nach oben getragen, man schwebt wie ein Engel die Himmelsleiter hinauf.
Im Westen wurden die Straßen unterirdisch beheizt, die Tankstellen schlossen nie, und weil die Leute im Westen gar nicht mehr wußten, was sie noch schöner machen sollten, hackten sie aus lauter Spaß die Straßen wieder auf, die sie gerade erst mit Asphalt überzogen hatten. Über jedem Geschäft, über jeder Tür blinkte Reklame, weshalb die Nächte taghell blieben und von einem Verkehr durchflutet waren wie bei uns nicht mal nach der Maidemonstration. Trotzdem bekam man im Westen in der Straßenbahn, im Bus oder Zug immer einen Sitzplatz. Im Westen duftete das Benzin wie Parfüm, und die Bahnhöfe glichen tropischen Gärten, in denen man den Reisenden wundervolle Früchte darbot. Im Westen trug man in der Schule lange Haare und Jeans und kaute Kaugummis, mit denen sich kopfgroße Blasen machen ließen. Außerdem lag der Weltmarkt im Westen. Ich wußte nicht, wo genau, auf jeden Fall aber im Westen. Öffnete man denn nicht bei dem O von Ost den Mund wie ein Tölpel? Und zischte dieses West nicht schon an sich dahin wie ein Lamborghini Miora auf Superfast-Reifen? Osten klang nach bewölktem Himmel und Omnibus und Baugrube. Westen nach Asphaltstraßen mit gläsernen Tankstellen, nach Terrassen mit Strohhalmgetränken und Musik über einem blauen See. Städte mit Namen wie Cottbus, Leipzig oder Eisenhüttenstadt konnten einfach nicht im Westen liegen. Wie anders klang dagegen Lahr, Karlsruhe, Freiburg oder Garching. Vera und ich — soviel wir uns sonst stritten — waren uns einig, wenn es um den Westen ging.
Nur eins noch (haben Sie Geduld mit mir): Pakete waren etwas, was grundsätzlich aus dem Westen kam. Der Inhalt wurde nicht gleich weggeräumt, sondern blieb zunächst auf dem Wohnzimmertisch liegen. Erst im neuen Jahr verschwanden Kaffee, Seife, Strumpfhosen in Schränken und Schubladen, doch nie verloren sie das Aroma ihrer Herkunft. Sie blieben gegen jede Vermischung resistent und bildeten eine eigene Kategorie von Dingen. Ihr Wert erschöpfte sich aber nicht in ihrem Gebrauch oder Verzehr. Nie wären wir auf die Idee gekommen, eine Kaba- oder Carobüchse wegzuschmeißen. Unser ganzer Keller stand voller solcher Büchsen und Dosen.
Oft stieg ich in den Keller wie Willi Schwabe in seine Rumpelkammer — sagt Ihnen Willi Schwabe etwas?89 Und wie er hier eine Filmrolle findet und da einen Gegenstand, der ihn an einen Schauspieler erinnert, so kündeten die Kaba- oder Carodosen, in denen Nägel oder Schrauben aufbewahrt wurden, von glücklichen Feiertagen und dem Westen. Heute würde ich sagen: Sie mußten erst ihren Gebrauchswert verloren haben, um heilig zu werden.
Diese Funde bewiesen zudem, daß Tante Camilla und Onkel Peter schon immer an uns gedacht hatten, sie, die unsere geheimsten Wünsche kannten und wollten, daß es uns gutging.
Wenn ich betete, betete ich zum lieben Gott, der alles von mir wußte, immer an mich dachte und immer für mich dasein würde. Auch wenn er anders aussah als Tante Camilla und Onkel Peter, mußte er doch so sein wie Tante Camilla und Onkel Peter, nur noch etwas mehr wie Tante Camilla und Onkel Peter.
Roberts Wecker hat geklingelt.90 Ich werde Frühstück machen, auf die Briefträgerin warten und nachmittags wieder zum Arzt gehen.
In Gedanken ganz bei Ihnen
Ihr Enrico T.
PS: Von Tante Camilla habe ich zum ersten Mal gehört, ich sei ein Dichter, weil ich in meinem Dankesbrief geschildert hatte, wie es bei uns zu Weihnachten zugegangen war und wie wir es kaum hatten erwarten können, ihr Paket zu öffnen — was eine Lüge gewesen war. Denn Tante Camilla stopfte ausschließlich Süßigkeiten hinein (und Kaffee und blöderweise auch Kondensmilch, die bei uns nun wahrlich nicht rar war), hingegen konnte man im Paket von Onkel Peter Matchbox-Autos oder sogar Kassetten finden, weshalb seines das eigentliche Ereignis war. Tante Camilla schrieb zurück, mein Brief sei der schönste gewesen, den sie je bekommen habe, eine richtige kleine Geschichte, die sie schon oft vorgelesen habe.