Freitag, 30. 3. 90


Liebe Nicoletta!

Ich weiß nicht, ob ich das, was ich jetzt erleben darf, eine Entschädigung nennen soll für all das, was mir bisher entgangen ist. Glauben Sie mir, ich liebe das Aufwachen, und ich liebe das Einschlafen, das Putzen der Zähne befriedigt mich ebensosehr wie das Einkaufen oder staubzusaugen. Ich liebe es, den Preis für eine halbseitige Anzeige mit zwanzig Prozent Rabatt aufgrund wöchentlicher Schaltung und fünfzig Prozent Aufschlag für die letzte Seite auszurechnen. Egal was ich tue, mich durchströmt eine stille Leidenschaftlichkeit, eine Befriedigung, die sich nur schwer mitteilen läßt. Es ist nicht die Selbstverlorenheit eines spielenden Kindes, wenn es auch davon am ehesten etwas hat. Als würde ich jene Gegenstände in die Hand nehmen können, die ich bisher nur gesehen habe, als erführe ich erst in diesen Tagen, daß die Welt ein Raum ist und ich selbst ein Körper. Als wäre ich endlich befugt, am Leben teilzunehmen. Jede Erinnerung, gerade weil sie mir so elend aufstößt, läßt mich ermessen, wie wunderbar die Gegenwart ist.

Ich wünschte, Ihnen meinen Sündenfall so beschreiben zu können, wie ich ihn erinnerte, bevor ich meine Novelle begann. Denn jetzt gibt es kaum eine Erinnerung mehr, der ich — zumindest was jene Oktobertage betrifft — vertrauen könnte. Zu oft habe ich mit diesen Bildern herumgespielt.

Denken Sie an die Wanderkarte vor einem Ausflugslokal, auf der mit rotem Punkt Ihr Standort markiert ist, bis ihn die unzähligen Fingerkuppen, die Tag für Tag darauf tippen, auslöschen. Mit den Jahren frißt sich der weiße Fleck in die Umgebung, verschwinden Sehenswürdigkeiten und Aussichtspunkte, ein Dorf, eine Stadt, alles nur eine Frage des Maßstabs.

Natürlich ist das keine spezielle Verfehlung meinerseits, sondern die übliche Praxis der Schreiber. Kein Erlebnis, das nicht verbogen, an dem nicht herumgeschnitten, das nicht amputiert und mit funktionstüchtigeren Prothesen versehen worden wäre. Es ist wirklich simpel, aber bis man draufkommt, sind die wichtigsten Erinnerungen verpfuscht. An Exempeln besteht ja kein Mangel.

So hatte ich immer die Vorstellung, jener Herbst, der dem zweiten Arkadiensommer folgte, sei eingebettet gewesen in die Klänge von Schütz-Motetten. Die geistlichen Gesänge schienen selbst die Fenster des Schulgemäuers geöffnet zu haben, sie füllten am späten Sonnabendnachmittag die Kreuzkirche123 und erklangen täglich von einer Schallplatte. Sie begleiteten und umhüllten mich wie eine trostvolle Weissagung.

Als ich zehn Jahre später an meiner Novelle schrieb (ich nannte es immer Novelle, obwohl dieser unproportionierte Torso mehrere hundert Seiten umfaßte)124, mußte ich mir nur» Die sieben Worte Jesu am Kreuz «auflegen, um wie ein Pawlowscher Hund zu reagieren. Augenblicklich erstanden jene September- und Oktobertage wieder: die Kastanien vor dem Schulgebäude, die verrosteten Fahrradständer, der Wind, der mal wild wie an der See die nassen, gelb schillernden Blätter vom Asphalt klaubte, mal noch warm die mit italienischen Villen bestandenen Berghänge von Loschwitz herab über die Elbe kam, als wäre in ihm der letzte Sommertag geborgen. Aus diesen Stimmen traten mir die Figuren entgegen, ich sah das müde Straßenbahnlicht und die windschiefen Wolken vor dem blaurosa Nachmittagshimmel, doch es klirrte darin auch der Schlüsselbund des Herrn Myslewski, unseres Klassenlehrers, wenn er uns zu» persönlichen Gesprächen«, wie er seine Verhöre nannte, in den Keller führte.

Nachdem ich die Novelle aufgegeben hatte und die» Sieben Worte Jesu «mich nur noch ans Schreiben statt an jenen Herbst erinnerten, fand ich auf der Rückseite der Plattenhülle die Widmung: Für Enrico, Weihnachten 79 von Vera. Ich hatte diese Motetten also erst zwei Jahre später erhalten. Und eine andere Schütz-Platte besitze ich bis heute nicht.

Wenn ich Ihnen jetzt davon schreibe, muß ich meine Erinnerung unter den opulenten Bildern der Novelle hervorziehen wie ein Sanitäter die Verunglückten unterm Wrack, ohne zu wissen, ob sie noch leben.

Die Kreuzschule125, dieses dunkle Gemäuer, war mein Maulbronn126. Versponnen in die Budapester Träume und die Freiheit meiner Ferienlektüre, konnte ich darin gar nichts anderes sehen als eine Romankulisse. Zugleich war ich gewillt, die Inschrift über dem Haupteingang,»Gott zur Ehre, den Stiftern zum Gedächtnis, der Jugend zu Nutzen und Frommen«127, unter der ich vier Jahre lang ein- und ausgehen würde, ernst zu nehmen. Sie fügte sich am Tag nach der Rückkehr aus Budapest, da ich den kürzesten Schulweg erkundete, in meine Hermann-Hesse-Welt ein. Auch der Schillerplatz mit dem Café»Toscana«, die Elbe mit ihren Fähren und Wiesen, das» Blaue Wunder«, das Elbehotel, die Gründerzeitvillen und — paläste von Blasewitz — all das belebte meine Traumwelt. Elbaufwärts zeichneten sich die Plateaufelsen der Sächsischen Schweiz ab, hinter der — ein paar Tageswanderungen entfernt — Prag lag. Hier konnte überall so gut wie in Montagnola128 ein Pilger in Sachen Gut und Schön Station machen. Lesen Sie noch einmal» Narziß und Goldmund «oder» Unterm Rad«, und Sie werden wissen, was ich sah.

Das Drama der folgenden Wochen war jedoch nicht Myslewski, der uns Jungen einzeln in den Keller bestellte, sich mit jedem von uns in einer Kammer voller Oszillographen einschloß und das Verhör mit der Frage begann, warum mir der Frieden auf der Welt nicht wichtig sei. Das Drama war auch nicht, daß ich auf einmal statt Einsen und Zweien nur Dreien und Vieren erhielt, im Diktat eine Fünf. Vielleicht wäre ich sogar mit dem Verlust meiner freien Zeit zurechtgekommen, hätte es nicht IHN gegeben. ER stürzte mich in eine Verzweiflung, wie ich sie bis dahin nicht gekannt hatte und erst im vergangenen Herbst wieder erfahren sollte.

Geronimo129 war ein Kruzianer im Stimmbruch und mein Banknachbar. Er trug als einziger kein Blauhemd und war mit seinen 14 Jahren Wehrdienstverweigerer, obwohl seine Brillengläser aus dem Boden von Limonadenflaschen gemacht schienen. Alles, was ich mir in meinen kühnsten Sommerträumen ausgemalt hatte, vollzog er mit beiläufiger Geste, so wie er die Hausaufgaben beim Spaziergang erledigte, während ich bis in den Abend über den Schulbüchern brütete. Er spielte jene Rolle, die ich mir für später hatte reservieren wollen. Und er spielte großartig. Er war nicht nur der Klassenbeste, der ausschließlich druckreife Sätze in einer leicht altertümlichen Diktion von sich gab, die bei jedem anderen zum Lachen gereizt hätten, er wurde von Schülern und Lehrern gleichermaßen geliebt. Wer Geronimo nicht liebte, brachte ihm zumindest Achtung entgegen, und das auf eine Art und Weise, wie ich es nie zuvor einem Gleichaltrigen gegenüber erlebt hatte. Mit Geronimo führte nicht Myslewski» persönliche Gespräche«, sondern der Direktor.

Geronimo war mein Alptraum. Dabei hätte ich ihm dankbar sein müssen. Mir widersprach er nicht im Deutschunterricht, mich hatte er noch nie im Russischen oder Englischen mit Vokabeln zugeschüttet, die ich gar nicht kennen konnte, mir schob er die Hausaufgaben zu, die mir unlösbar erschienen waren. In der Musikstunde hatte er sich allerdings die Ohren zugehalten, während mein Vorsingen unter dem Gelächter der Klasse verendet war. Nur im Sportunterricht versagte er vollkommen.

Geronimo hatte mich zu seinem Kompagnon erkoren, besser gesagt, zu seinem Gefolgsmann. Wöchentlich verlangte er von mir einen neuen Hesseband. Im Gegenzug erhielt ich schiefgelesene und in Zeitungspapier eingeschlagene Wälzer von Werfel. Ich rührte sie nicht an, schon weil mich ihre fleckigen, vergilbten Seiten ekelten. Er dagegen mäkelte an Hesse herum, führte ihn aber oft im Mund. Niemand ahnte, daß auch ich diese Bücher kannte, geschweige denn, daß er sie von mir hatte. Das hätte ich als Preis für seine sonstigen Schonungen akzeptiert, doch es verging keine Woche, in der er mich nicht fragte: Warum machst du das denn? Was? fragte ich jedesmal, errötete und begann zu schwitzen. Er beäugte mich durch seine Tiefseebrille und verzog schmerzlich die Mundwinkel. Das hieß: Wenn du ein Christ bist, warum verweigerst du nicht auch den Dienst an der Waffe, warum bejahst du die Frage, daß das Sein das Bewußtsein bedingt, warum betest du nicht vor dem Essen, warum wird deine Stimme hoch und dünn, wenn dich Myslewski anspricht, warum verschwendest du so viel Zeit auf diesen Schulkrempel. Geronimo mußte keine Fragen mehr stellen. Ich hatte sie alle parat.

Jeder Tag begann in Erwartung seines peinlichen Exerzitiums. Jeden Heimweg trat ich entweder erleichtert an, weil ich ihm für diesmal entgangen war — oder ich litt Höllenqualen. Denn jedesmal blieb ich die Antwort schuldig und hoffte, die Schulklingel beende unsere seltsame Zwiesprache. Zum Schluß bekam ich oft ein Bibelzitat zu hören wie:»Fürchtet euch nicht, denn ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. «Einmal sagte er:»Ich könnte mir vorstellen, daß du einen ganz guten Katecheten abgeben würdest. «Ich durfte froh sein, daß Geronimo, der Theologie studieren wollte, mich überhaupt zu etwas nützlich fand.

Sowenig ich in der Lage war, Geronimo zu antworten, so unmöglich war es mir geworden, Tagebuch zu führen oder zu beten — abgesehen von einigen inbrünstigen Vaterunsern. Was hätte ich schreiben sollen, worum bitten? Ich wußte doch, was richtig war, was falsch. Es gab die Lüge, und es gab die Wahrheit — Verräter oder Gottesmann. Ich mußte meine Selbstanklage nicht noch schriftlich führen. Ich wußte so gut wie jeder andere, daß es kein einziges Argument gab, das zu äußern nicht das Eingeständnis meiner Schuld gewesen wäre. Feigheit, Duckmäusertum, Zweifel, Schwäche — warum verhielt ich mich nicht wie Geronimo? Warum lebte ich wie alle anderen?

Dieser Zwiespalt verschärfte sich noch einmal Ende Oktober, in der Woche nach den Herbstferien, in denen mich eine Grippe vor schlimmeren Qualen bewahrt hatte.

Am Montag beorderte mich Myslewski zu einem weiteren Kellergespräch. Ich fühlte mich ausgezeichnet, so überraschend und als einziger zum zweiten Mal vorgeladen zu werden. Geronimo ließ alle wissen, daß er vor der Schule auf mich warten würde — um mir zu helfen, um mir beizustehen.

Myslewski war auf meine Weigerung, Offizier der Nationalen Volksarmee zu werden oder zumindest als Unteroffizier drei Jahre lang die Heimat mit der Waffe in der Hand gegen alle Feinde zu verteidigen, scheinbar unvorbereitet. Die Entrüstung, mit der er seit meinem ersten Nein kämpfte, ließ ihn stottern. Plötzlich schob er mir ein Buch zu, in dem ich alle notwendigen Informationen finden würde, um am Freitag in der Physikstunde einen zehnminütigen Vortrag über den Aggressor Bundeswehr zu halten. Er lächelte und tätschelte mich zweimal so väterlich am Oberarm, daß mich das Bedürfnis überfiel, ihm zu danken, ihn zu erfreuen, ihm zu sagen, daß ich es mir noch einmal mit den drei Jahren NVA überlegen würde. Ja, ich wäre nicht ungern in seiner Nähe geblieben. Die Schule verließ ich über den Nebenausgang und lief in einem weiten Bogen zur Haltestelle.

Ich ekelte mich vor mir selbst, denn ich mußte mir eingestehen, daß ich Myslweski am liebsten umarmt und zum Freund gewonnen hätte und vor Geronimo davongelaufen war. Und obwohl kaum eine größere Erniedrigung denkbar war, stand die eigentliche Demütigung erst noch bevor. Die Scheußlichkeit des gerade Erlebten und die Scheußlichkeit des Kommenden waren so überwältigend, daß ich schließlich Lust an meiner Misere empfand, eine Lust, die sich, als ich rannte, um die Straßenbahn zu erreichen, pubertär entlud. Ich schwöre Ihnen, daß es einer Willensleistung bedurfte, auf den Beinen zu bleiben und nicht wimmernd vor Wonne und Scham über meine feuchte Unterhose auf die Knie zu sinken.

Meine Novelle kreist allein um die Tage zwischen dem zweiten Gespräch im Keller und den Minuten des Vortrags. Die Situation hatte alles, was man für diese Gattung braucht, von der Exposition über ein bißchen Suspense bis hin zur überraschenden Wendung am Schluß.

Obwohl ich meine damaligen Gefühle längst literarisch aufgezehrt habe, bewahre ich noch immer eine Ahnung von jenen Stunden, in denen ich zwischen den Extremen hin- und hertaumelte wie zwischen zwei Wänden, aber an keiner Halt fand. Sollte ich selbst im Angesicht der Klasse, im Angesicht von Geronimo, die Argumente gegen ihn und gegen mich liefern?

Ich erspare Ihnen die weiteren Seelenqualen eines Schülers der neunten Klasse. Was mich heute daran rührt, ist die Angst und Ratlosigkeit meiner Mutter. Sie war es schließlich, die den Vortrag schrieb und es über sich brachte, mir zu verbieten, etwas von Wehrdienstverweigerung zu sagen. Dazu würde später noch Zeit sein. Das blieb natürlich ohne Einfluß auf mich. Im Gegenteil. Es hätte keines Geronimos bedurft, um mich an die Worte Jesu zu gemahnen, daß man Vater und Mutter verlassen müsse, um IHM zu folgen.

In der Novelle habe ich mich bei der Darstellung des Finales grob an den Stationen des Kreuzweges orientiert. Tatsächlich war ich am Ende meiner Kräfte, als zehn Minuten vor dem Schlußklingeln mein Name aufgerufen wurde. Ich erhob mich, schob den Stuhl zurück und trat aus der Bank, ohne zu wissen, was ich tun würde.

Mir zitterten die Knie, ein Phänomen, das ich erstaunt und interessiert registrierte. Mein Oberkörper blieb verschont, die Hände waren ruhig und feucht wie immer. Aus einer Art Taktgefühl gegenüber meinem Körper ging ich hinter den Lehrertisch, wo ich auf der Stelle kehrtmachte wie ein Soldat. Hier konnten meine Knie zittern, wie sie wollten. Ich hob die beiden A4-Blätter höher und war bereit, mit dem Ablesen zu beginnen. Alles Weitere würde sich finden.

Wort für Wort hielt ich mich an die mütterliche Vorgabe — meine Zunge mühte sich —, hervor aber quollen Laute, Laute jenseits des Menschlichen, ein Geleiere, das offenbar zum Lachen reizte. Stimmt es wirklich, daß alle lachten — ausgenommen ein paar Angsthasen —, Geronimo und Myslewski mich jedoch finster fixierten? Oder zitiere ich mich wieder selbst?

Ein zweiter Versuch scheiterte ebenso. Ich würgte an jeder Silbe, meine Zunge vollbrachte Kunststücke, die Stimmbänder indes blieben unbeherrschbar.

Der Stuhl am Lehrertisch war zurückgeschoben. Ich ließ mich darauf fallen, das aufgeschlagene Klassenbuch schob ich weg. Sitzend gelangen die ersten Worte, langsam bildete sich der erste Satz. Danach erstickte Myslewskis Wortschwall alles.

Die Klasse schwieg. Diese Erstarrung kannte ich gut.

Im nächsten Augenblick sah ich mich an den Lehrertisch gelehnt, auf eine Faust gestützt, den Daumen der anderen in die Gürtelschlaufe gehakt, den Vortrag zwischen Zeige- und Mittelfinger. Alles an diesem Jungen drückte Wohlgefühl aus, einen lethargischen Genuß, wie man ihn im Halbschlaf beim Anziehen oder Strecken der Beine verspürt.

Aber war der Junge dort am Lehrertisch überhaupt ich? Schwebte ich nicht über allem, für niemanden mehr erreichbar, doch alles im Blick, wie ich es nie zuvor im Blick gehabt hatte? Ich schaute herab, ich schaute auf das Geschehen unter mir, ein Diorama aus dem Schulleben, nichts Ungewöhnliches. Jener Enrico Türmer interessierte mich genausoviel oder genausowenig wie die anderen Schüler. Enrico Türmer unterschied sich nur darin von ihnen, daß ich ihm Anweisungen geben konnte. Ich sagte: Lächle, und er lächelte. Ich sagte: Wehr dich nicht, bleib stehen und bitte darum, den Kurzvortrag halten zu dürfen — und er bat darum, den Kurzvortrag halten zu dürfen. Ich sagte: Überhöre die Aufforderung, dich zu setzen, und er überhörte die Aufforderung, sich zu setzen. Ich schwieg. Ich wollte sehen, was er ohne mich tun würde. Enrico Türmer schwieg ebenfalls. Ein paar Atemzüge später wiederholte er:»Ich würde jetzt gern meinen Kurzvortrag halten, ich habe mir viel Arbeit damit gemacht. «Nachdem er auch die zweite Aufforderung, sich zu setzen, ignoriert hatte, wußte ich genug. Noch ein kurzes atemloses Zögern — dann willigte ich ein, und Enrico Türmer kehrte auf seinen Platz zurück.

Er hörte das Räuspern Geronimos, die auf dem Bodenbelag quietschenden Schuhe Myslewskis. Er sah sich um — niemand erwiderte seinen Blick. Mit dem Stundenklingeln erhob sich Enrico Türmer wie alle anderen von seinem Platz und verfolgte lächelnd den Abgang Myslewskis. Ihm schien, Geronimo, der als zweiter aus der Tür huschte, folgte jenem nach wie ein Gehilfe, als wollte er das Klassenbuch ins Lehrerzimmer tragen.

Sie müssen mir glauben, daß ich vollkommen glücklich gewesen bin in diesen Minuten. Der Umschwung war grandios. Ahnen Sie überhaupt, was passiert war? Können Sie sich vorstellen, was ich plötzlich begriffen, was ich schlagartig erfahren hatte?

Ich war unangreifbar, ich war zum Schriftsteller geworden!

Dabei erschien mir diese Erkenntnis nicht als Offenbarung, eher als etwas, was ich immer schon gewußt hatte, was mir nur in letzter Zeit aus verschiedenen Gründen entfallen war.

«Ich könnte mir vorstellen«, äffte ich auf dem Heimweg Geronimo nach,»daß du einen wirklich guten Katecheten abgeben würdest. «Klänge es nicht zu pathetisch, müßte ich sagen: Ich lachte höllisch. Ein Vierzehnjähriger130 kann das besser, als man gemeinhin wahrhaben möchte.

Muß ich noch sagen, daß ich erst Tage später überhaupt bemerkte, Gott verloren zu haben, daß er ausgelöscht worden war, ohne daß ich davon Notiz genommen hatte? Kein einziges Vaterunser ist mir seither über die Lippen gekommen.

Ich schwebte jetzt dort, von wo aus Gott auf die Menschen geschaut hatte. Nun war ich es, der auf sie herabblickte, auf mich so gut wie auf Geronimo oder Myslewski, und beobachtete, was sie da trieben. Ich wußte, daß es wenig Bedeutung hatte, ob sie mutig oder feige waren, stark oder schwach, ehrlich oder verlogen. Wichtig waren sie allein deshalb, weil ich sie beobachtete.

Geronimo konnte tun und lassen, was er wollte. Es würde untergehen im allgemeinen Gewusel. Ich würde bestimmen, welches Bild von ihm bliebe. Ja, es würde sich überhaupt niemand für Geronimo interessieren, wenn ich nicht heute, morgen oder dereinst über ihn schriebe.131 Ich verfügte über den Schlüssel zu Dantes Hölle.

Mein gescheiterter Vortrag hatte kein Nachspiel. Ich sprach mit niemandem darüber. Meine Mutter speiste ich mit der Erklärung ab, das Stundenklingeln habe mich unterbrochen.

Ich hatte allen Grund, mein Erlebnis verborgen zu halten. Eine Zeitlang vertuschte ich es sogar vor mir selbst und versuchte, meiner Angstlosigkeit eine andere Herkunft zu geben. Daß meine Novelle eine andere überraschende Wendung nahm, versteht sich von selbst.

Damals ahnte ich nicht, welchen Preis ich noch für meine Angstlosigkeit zahlen sollte.

Meine Sprache, meine Stimme veränderten sich innerhalb weniger Tage. Ich redete lächelnd. Alles, was ich sagte, bekam eine Zweideutigkeit, die mich in der Klasse isolierte. Was meinte ich ernst? Was war Spiel? Zum ersten Mal führte ich ein Außenseiterdasein. Die anderen interessierten mich nicht mehr. Der Umgang mit Menschen, jedenfalls mit Gleichaltrigen, war Zeitverschwendung. Konnte sich denn die Intensität eines Gesprächs je mit der einer Lektüre messen? Ich brauchte meine wenigen freien Stunden zum Lesen und zum Schreiben. Sie waren zu kostbar, um sie in Gesellschaft zu verplempern132.

Geronimo mied mich, ohne mich zu attackieren. Er bete für mich, flüsterte er mir einmal zu, als er mich dabei überraschte, wie ich seine scharf abgesetzten Kieferknochen und seinen nervösen Mund beobachtete.

Ich gönnte mir neben dem Triumph, sowohl ihm als auch Myslewski entronnen zu sein, eine kleine Rache.

Sobald es im Sportunterricht zu irgendeinem Spiel kam — meistens Fußball oder Volleyball — und Geronimo und ich in eine Mannschaft gewählt wurden, er regelmäßig als letzter, ließ ich keine Gelegenheit aus, Geronimo anzuspielen, um ihn, wie es der Sportlehrer forderte, einzubeziehen.

Geronimo fürchtete nichts so sehr wie einen Ball. Sein Körper duckte sich instinktiv. Er mußte seinen Fluchttrieb unterdrücken — und wenn er sich dann, wie er es immer tat, dem Feind stellte, war es zu spät. Ich hatte schnell Erfolg. Bald galt es als Sensation, wenn die Mannschaft gewann, zu der Geronimo gehörte. Hohn, Spott und Wut entluden sich nur auf ihn. Das Altruistische meiner Zuspiele stand offenbar nie in Frage.133

Am Tag der Zeugnisausgabe, am Ende der zehnten Klasse, wurden fünf Mitschüler» verabschiedet«. Vier, die wegen ungenügender Leistungen gehen mußten — ich hatte mich ins Mittelfeld gerettet —, und Geronimo, der an seiner Wehrdienstverweigerung festhielt. Vor unserem letzten gemeinsamen Schultag kehrten die alten Beklemmungen zurück. Ich ahnte, daß jetzt eine Abrechnung fällig war, daß Geronimo durch eine spektakuläre Tat, die er seit Monaten geplant hatte, endgültig in unsere Gedächtnisse eindringen wollte. Aber das fürchtete ich nicht. Ich war unsicher, weil ich mich so sicher fühlte, weil ich mir keine Attacke vorstellen konnte, die mich wirklich hätte treffen können. Meine Angstlosigkeit machte mir plötzlich angst.

Die Erinnerung an diesen Tag ist in grelles Julilicht getaucht. Die langen, nie ganz sauberen Finger Geronimos zitterten über der Tischplatte.

«Auch von Ihnen muß ich mich heute verabschieden«, sagte Myslewski und baute sich vor unserer Bank auf. Nachdem sich Geronimo ganz aufgerichtet hatte und Myslewski um einen Kopf überragte, durchfuhr ihn eine Art Schüttelfrost. Myslewski verkündete mit dem Blick auf das Zeugnis die Durchschnittsnote: eins Komma null ohne die Drei im Sport. Irgendwie bekam Myslewski Geronimos Hand zu fassen und hielt sie eine Weile fest.

Geronimo beugte sich im Hinsetzen nach vorn, als müsse er brechen, und begann zu heulen. Er heulte, als hätte er sein Leben lang alle Tränen aufgespart und versuchte sie nun in dreißig Minuten loszuwerden. Unter diesem Heulen, mal schluchzte er auf, mal wimmerte er, bekamen wir unsere Zeugnisse ausgehändigt.

Ich legte meine Hand auf seine Schulter, auf seinen Kopf. Einmal strich ich ihm übers Haar, das fettig war. Geronimo sah bis zum Klingeln nicht mehr auf.

Danach verließ ich das Klassenzimmer, um mir die Hände zu waschen.

Als ich zurückkehrte, war Geronimo von unseren Mitschülern umringt. Sie umstanden ihn so dicht, daß ich ihn nicht mal mehr sehen konnte. Deshalb trennten wir uns ohne Abschied.

Plötzlich schauderte ich bei dem Gedanken, diese Szene jetzt oder dereinst in Literatur zu verwandeln und aus meiner schmierigen Hand eine Metapher zu machen. Weil mir das bis heute nicht gelungen ist, erinnere ich mich an diesen Tag noch sehr genau.134

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