Freitag, 8. 6. 90

Lieber Jo!

Entschuldige, falls ich Dich mit meinem letzten Brief beunruhigt haben sollte. Glaub mir, Deine Stelle war nie gefährdet. Aber ich hielt es für das beste, Dir reinen Wein einzuschenken.

Du kannst Dir die unglaubliche Hysterie und den Haß nicht vorstellen. Ich hatte gar keine Wahl mehr, ich mußte die Notbremse ziehen. Noch jetzt, nach all dem Unrat, den sie über mir ausgeschüttet haben, empfinde ich weit mehr Trauer als Genugtuung über unsere Trennung. Wir hätten es so gut haben können! Wir wären unschlagbar gewesen! Zum Schluß sah auch Jörg, daß er sich verrannt hatte, aber da fehlten ihm bereits Kraft und Mut, seine Entscheidung zurückzunehmen. Nun leidet er. Kein Wunder bei so vielen vergebenen Chancen!

Da ich nicht bereit gewesen war, mich seinem Diktat zu beugen, blieb mir nichts anderes übrig, als genau das zu tun, was Jörg mir als Ausweg vorgeschlagen hat, nämlich gemeinsam mit dem Baron ein Anzeigenblatt ins Leben zu rufen.314

Weißt Du, was passierte, als ich Jörg und Marion meinen Entschluß mitteilte? Sie forderten» ihren Anteil «zurück. Ich begriff erst gar nicht, was sie meinten. Ich saß neben Frau Schorba am Computer und hörte Marion und Co. nebenan keifen (statt meines Namens verwendeten sie nur den bestimmten Artikel). Ich ahnte schon nichts Gutes, als Jörg hereinkam.

«Ich habe nur eine Frage«, sagte er. Ob ich bereit sei, meinen Anteil, den er mir ja geschenkt habe, wieder zurückzugeben.

«Das heißt«, sagte ich so leise wie möglich,»ich soll meine Sachen packen und verschwinden?«So habe er es nicht gemeint, sagte Jörg und fuhr sich mit der Hand in den Nacken. Ich ließ ihm Zeit. Doch als er immer nur weiter seinen Nacken massierte, fragte ich, wie er sich das vorstelle.

Er wisse es ja auch nicht, sagte er ebenso leise, nur könne es so nicht weitergehen. Ich beschwor ihn noch einmal, mich das Anzeigenblatt machen zu lassen.

Jörg aber wiederholte, daß es nicht angehen könne, ausgerechnet in dieser kritischen Phase zu expandieren.

«Das Geld ist da!«rief ich und zeigte auf den Stapel Anzeigen.»Es ist da!«

«Gibst du mir den Anteil zurück?«fragte er.

«Und was bekomme ich dafür?«fragte ich.

«Also doch«, sagte er und stieß ein bitteres Lachen aus. Ich fragte, was» Also doch «bedeute. Aber da rannte er schon aus dem Zimmer. Kurz darauf stürzte Marion wie eine Furie herein. Sie siezte mich. Von jemandem wie mir (»wie Ihnen«) geduzt zu werden sei eine Beleidigung. Dann ging es erst richtig los. Sogar einen Dieb hat sie mich genannt, und einen Schatten! Ich sei ein Schatten, nichts weiter, ein Schatten! Keine Ahnung, wie sie das meinte. Alles würde sie geben, nur um mich loszuwerden!

«Diese Äußerungen wirst du noch mal bereuen«, sagte ich. Meine Antwort bezog sich auf die Zerstörung der Zeitung! Ich hatte es voll Trauer gesagt! Marion aber kreischte:»Er droht!«Und zeigte mit dem Finger auf mich:»Er droht!«Jörg kam herbeigesprungen und verbat sich derartige Angriffe. So ging es endlos weiter. Widerlich! Jörg und Ilona versuchten Marion zu besänftigen, indem sie über mich herzogen. So viel verlogene Theatralik habe ich noch auf keiner Bühne gesehen. Frau Schorba saß wie ein Eisblock neben mir. Astrid, der Wolf, bellte vor lauter Aufregung. Selbst der stumme Kurt erträgt die Streiterei nicht mehr und will die Zeitung verlassen.

Nun bin ich mit dem Baron übereingekommen, ihm meinen Anteil am» Wochenblatt «abzutreten. Den berechnet er mit dreißigtausend D-Mark — sollte Jörg das Geld aufbringen, hat er natürlich Vorkaufsrecht. Das heißt, wir fangen wieder ganz von vorne an, werden für die Dreißigtausend Computer, Drucker, Leuchttische, Klebemaschine, Photoapparat und einen Wagen kaufen — Andy macht dem Baron bessere Preise als uns, die anderen Dreißigtausend zahlt der Baron auf ein Konto ein, damit wir liquid bleiben. Bis wir eine GmbH werden können, wird wiederum Michaela meine offizielle Partnerin sein, was ja nicht ohne Pointe ist.

Das ist insofern eine ideale Lösung, weil der Baron nicht nur die Verhandlungen führt, sondern an beiden Zeitungen ein starkes Interesse haben muß, und das verpflichtet uns alle zur Ko-operation. Bis auf weiteres werden wir die Räume gemeinsam nutzen. Auch die Akquisiteure arbeiten vorläufig für beide Zeitungen, weshalb es, auf Drängen des Barons, Kombinationspreise geben wird. Im Prinzip machen wir beinah alles, wie ich es vorhatte, nur mit doppelter Buchhaltung und fast doppeltem Personal.

Frau Schorba ist natürlich mit bei uns. Auf alle anderen kann ich verzichten. Du wirst der Redakteur für Altenburg, Pringel hat sich mir für Borna/Geithain angedient, wo ihn kaum jemand als» roten Schreiberknecht «kennt. Aber das sollten wir gemeinsam entscheiden.

Das größte Problem ist der Vertrieb. Wir müssen ja in jeden Haushalt.

Der Baron freut sich, Dich kennenzulernen. An manchen Tagen sehe ich ihn gar nicht. Wenn er nicht gerade damit beschäftigt ist, seinen Leuten hier neue Filialen zu verschaffen, hat er mit seinem» Bonifatius-Spiel «zu tun. Er plant nämlich ein Spektakel, eine Freiluftaufführung, die ihm offensichtlich mehr als alles andere am Herzen liegt. Olimpia, Andys Frau, ist in dieser Sache seine Vertraute. Wir anderen erfahren außer vagen Andeutungen nichts. Mit seinem Reliquiar luchst er zudem den Katholiken die Madonna ab. Darüber reißt er unentwegt Witze, um nicht zu sagen Zoten.

Wegen des Alten über uns habe ich nun immer eine Taschenlampe dabei. Jedenfalls will ich ihm nicht im Dunkeln begegnen. Am Montag hat er uns alle Sicherungen herausgeschraubt.

Einen anderen Nachbarschaftsfeind jedoch haben wir heute verloren! Als ich am Haushaltswarenladen vorbei zum Auto ging, kam die gesamte Familie heraus. Ich grüßte und sah gleich wieder geradeaus. Da hörte ich meinen Namen. Die Haushaltswarenfrau kam auf mich zu. Ihr Händedruck war kräftig. Um sich zu verabschieden, sei es zu früh, und ihr tue es auch ein bißchen leid, weil man sich ja schon aneinander gewöhnt habe, doch die Gelegenheit sei eben günstig. Ihr Mann reichte mir ebenfalls die Hand.»Nu scho«, sagte er.»Nu is bold Schluß.«—»Sie wollen doch nicht aufgeben?«fragte ich. Alle drei nickten.

«Doch, doch«, sagte sie. Im Frühjahr seien sie Rentner geworden, und mit so einem Laden sei sowieso kein Blumentopf mehr zu gewinnen, was sollten sie sich also noch weiter abrackern.315 Sie sahen mich an, als hätten sie das nur gesagt, um meine Reaktion zu testen. Bevor ich mir eine Antwort überlegt hatte, erinnerte sie mich an die kostenlose Annonce, die ich ihnen einmal versprochen hätte. Ich erneuerte mein Angebot. Je schneller sie draußen sind, desto eher haben wir unsere Anzeigenannahme in ihrem Geschäft.

Ach, Jo, mein Lieber, es passiert jeden Tag so viel. Als ich auf den Parkplatz kam, lehnte eine Frau an meinem Wagen. Ihr war es peinlich, daß ich sie eher gesehen hatte als sie mich. Es war die Frau von Ralf, dem Braunauge, mit dem zusammen ich im Januar bei der Sitzung des Neuen Forums an einem Tisch gesessen hatte. Ralf verliert am ersten Juli seine Arbeit als Fahrzeugschlosser.»Er spricht nicht, er schläft nicht, er ißt nicht«, sagte sie. Und jetzt soll ich helfen! Wir verabredeten einen Termin, an dem Ralf und sie kommen sollten. Dann beging ich den Fehler, sie nach Hause zu fahren.»Dort sitzt er, dort hinterm Fenster«, sagte sie beim Aussteigen und bat mich, doch gleich mitzukommen.

Ich habe so etwas noch nie erlebt. Er sah kurz auf, grüßte aber nicht zurück, wandte sich ab und ließ mich reden. Was sollte ich sagen? Ich kann ihn ja schlecht als Akquisiteur einstellen! Es war völlig sinnlos. Mein Auftritt nahm seiner Frau wohl den letzten Rest Hoffnung. Als ich versprach, in ein paar Wochen wiederzukommen, heulte sie los.

Ich fuhr danach in die» Schiedsrichterklause«, allerdings in einem großen Bogen über die Felder, das Dach zurückgeklappt, um mich so richtig durchlüften zu lassen.

Zum Schluß noch etwas Erfreulicheres: Ich soll Dich von Nikolai grüßen, dem schönen Armenier. Der ist inzwischen mit einer Jugoslawin verheiratet. Wir haben Wetten auf das Spiel abgeschlossen.316 Wer verliert, kommt den anderen besuchen …

Sei umarmt, Dein E.

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