Sonntag, 8. 4. 90


Liebe Nicoletta!

Als ich vorhin erwachte, verspürte ich eine seltsame Freude. Es war Vorfreude, und wissen Sie, worauf? Auf jetzt, auf diesen Augenblick, da ich Ihnen schreiben kann. Das ist, als setzten Sie sich zu mir. Und was ich Ihnen erzähle, erhält durch Sie eine ganz eigene Färbung. Ich teile meine Erinnerung mit Ihnen, nur mit Ihnen. Wem sonst sollte ich davon berichten.152 Und jedesmal bin ich kurz davor, Ihnen richtige Liebesbriefe zu schreiben. Es bedarf meiner ganzen Willensanstrengung, es nicht zu tun! Sie sind in mein Leben getreten, doch noch bevor ich überhaupt die Arme nach Ihnen ausstrecken konnte, wurden Sie mir schon wieder genommen. Ohne Sie fühle ich mich unvollständig, wie amputiert153. Und ich habe Angst, daß Sie bei einem Wiedersehen alles vergessen haben werden […] und mich nicht einmal mehr erkennen. Damit ich kein Fremder für Sie werde, fahre ich fort.

Im Oktober 80, ich war in der zwölften Klasse, erhielt ich ein Telegramm. Geronimo fragte, ob er am Sonnabend bei uns übernachten dürfe, und nannte seine Ankunftszeit. Nicht, daß ich einen Besuch Geronimos erwartet hätte; aber überrascht war ich nicht.

Geronimo war noch gewachsen, er war jetzt eindeutig größer als ich, die Haare reichten ihm über die Schulter und glänzten so fettig, daß meine Mutter erstaunt fragte, ob es regne.

Er vertilgte zum Kaffeetrinken unseren Wochenendvorrat an Brötchen und kratzte das Honigglas aus. Meine Mutter überspielte ihren Fauxpas, indem sie ihm pausenlos Fragen stellte.»Johann«, begann sie jedesmal, als riefe sie ihn auf.

Nachdem er sich satt gegessen hatte, zogen wir uns in mein Zimmer zurück, das er mit keiner Silbe kommentierte, ja dessen Bücher- und Bilderpracht (letzteres Leihgaben Veras) er nicht einmal wahrzunehmen schien. Ich fragte, wen er denn in Dresden besuchen wolle — niemanden außer mir. Ob es ein Konzert gebe oder etwas im Theater — nicht daß er wüßte. Einsilbig beantwortete er alle Fragen, schwieg ich, blieb auch er stumm. Ich wußte nicht, was ich mit ihm anfangen sollte. Meine Frage, wo er denn Theologie studieren wolle154, entsprang derselben Verlegenheit wie meine anderen Erkundigungen.

Ich glaubte, er sei meiner Fragerei überdrüssig und blicke mich deshalb so wütend an. Und dann begann Geronimos Monolog. Er formulierte Aussagesätze, intonierte sie jedoch fragend, als erwarte er Widerspruch. Das Leben lohne nicht, wenn der Tod das Letzte sei.»Ohne Ewigkeit«, sagte er,»ist unser Leben sinnlos.«

Geronimo redete und redete, er schien sich über mich zu empören. Worauf wollte er hinaus? Ich sah nur seine Verzweiflung, die in der Behauptung gipfelte, es sei egal, ob er auf dem Stuhl sitzen bleibe oder sich aus dem Fenster stürze. Ich begriff, daß für ihn Gott und der Sinn des Lebens noch eins waren!

Mein Achselzucken steigerte seine Ungehaltenheit, er preßte die Lippen aufeinander und sah mich an, als wäre mein Schweigen noch jenes, in das er mich vor drei Jahren hineinmanövriert hatte. Was erwartete er denn von mir? So tat ich das, worauf ich vorbereitet war.

Ich zog die Schreibtischschublade auf und entnahm meinen Schatz seinem Versteck. Ich war kaum mehr in der Lage, Geronimo zuzuhören. Meine Fingerspitzen schoben die Seiten akkurat übereinander. Mein Blick streifte ihn nur, als ich sagte, dieses Zeug sei es, womit ich mich über Wasser hielte. Ich überreichte meinem wichtigsten Leser mein Werk — und verzog mich in die Küche.

Als ich mit zwei Gläsern ins Zimmer zurückkehrte, saß Geronimo unverändert da. Endlich hob er den Kopf. Er hätte nichts sagen müssen, schon gar keine Adjektive anhäufen, er hätte mich nur so anschauen müssen und ungläubig den Kopf schütteln. Es war kein Erfolg — es war ein Triumph!

Nicht Vera und ihre Entourage, Geronimo war es, der mich zum Dichter machte. Ihm glaubte ich. Er sagte Sätze, die heute zu wiederholen lächerlich wäre, die aber damals meine Weihe — und seine Unterwerfung bedeuteten. Er konnte wohl nur derartig loben, weil er selbst den Boden unter den Füßen verloren hatte.

An diesem Abend sprach Geronimo ausschließlich über meine Gedichte, als müßte er mich davon überzeugen, wie außerordentlich sie seien. Und ich mühte mich, sein Pathos, so gut es ging, zu erwidern. Nun konnte ich ihm sagen, wie übermächtig ich ihn einst erlebt und wie sehr ich ihn zum Freund begehrt hatte.

Es gibt eine Art Offenheit, die jeden Rest von Distanz als Makel empfindet. Meine Mutter fragte mich nach dem sonntäglichen Frühstück, ob Johann geweint habe.

Wir sprachen unaufhörlich miteinander, und unaufhörlich fürchtete ich, ein falsches Wort, ein zu schnelles Nicken könnte unsere Euphorie in Spuk verwandeln. Als der Schaffner die Zugtür hinter ihm zuwarf, war ich wie erlöst, als sei erst jetzt sein Lob unwiderruflich.

Obwohl jenes Wochenende geradezu als Gründungsdatum unserer Freundschaft angesehen werden könnte, schien es mir immer eine Frage des Takts, Geronimo niemals an diesen Abend zu erinnern.

Zu Hause nahm ich mir die Schreibmaschine und begann meinen ersten Brief an ihn.»Lieber Johann!«tippte ich, ließ eine Leerzeile folgen und legte die Finger, wie ich es im Schreibmaschinenkurs gelernt hatte, auf die Tasten.»Geliebter Johann!«sagte ich leise.»Mein geliebter Johann!«155

Im Vertrauen darauf, daß Sie mir weiterhin zuhören werden, grüße ich Sie herzlich,

Ihr Enrico T.

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