Sonntag, 8. 7. 90


Mein lieber Jo!

Gleich ist es fünf. Wenn Du diese Zeilen hier liest, steht längst fest, ob wir Weltmeister geworden sind oder nicht.365 Hier glaubt jeder an den Sieg! Ich sitze in der» Loggia«, wie Cornelia die Holzveranda am neuen Haus nennt, und sehe über die Stadt. Auf meinem Schreibtisch Kaffeetasse und Milchkännchen, dazu gut verteilt schwere Löffel (Mutter hat ihr Silbernes mitgebracht), weil mir sonst die Papiere davonfliegen. Das Seewetter treibt ganze Herden dunkler Schatten durch die Straßen. Sollte ich je einen Roman schreiben, müßte er so beginnen, mit diesem Blick.366

Links von mir, auf dem runden Tisch, steht noch das Kaffeegeschirr von gestern. Das Obst und die Blumen, für beides sorgt Vera im Übermaß, duften. (Vera, der die Vögel zu laut sind, schläft bei geschlossenen Fenstern bis Mittag.) Sämtliche Stühle und Korbsessel, die uns Andy überlassen hat, sind mit Veras Klamotten belegt, als wolle sie ihr Territorium markieren. Michaela ist auf Vera eifersüchtig, nicht ohne Grund. Seit Veras Ankunft verzieht sich Barrista ständig» auf die Baustelle«, womit allerdings unsere Veranda gemeint ist, auf der er Zigarren raucht und sich von Vera» Drinks «servieren läßt (das Geläut der Eiswürfel schreckt Astrid auch aus dem tiefsten Schlaf, sie ist ganz närrisch auf Eis). Selbst in Michaelas Anwesenheit spricht Barrista mit Vorliebe von zurückliegenden Abenteuern, und auch das nur in Andeutungen, deren eigentlichen Sinn wohl nur Vera versteht.

Verläuft alles nach Plan, werde ich heute gegen neun zum ersten Mal unsere Zeitung im Briefkasten haben. Halb zehn dann große Frühstückstafel im Garten, zu der unser Erbprinz erwartet wird. Hier kann er seinen Tee mit Blick auf jene Fenster genießen, hinter denen er früher erwacht ist. Robert wird neben ihm sitzen. Der Erbprinz nennt ihn seinen jungen Freund, unsere Mutter spricht er zuweilen mit» verehrte, liebe Freundin «an. Das Geld, das ihr der Baron für die Betreuung des Erbprinzen anbot, hat sie zurückgewiesen. So hinfällig, wie der Erbprinz mitunter erscheint, ist er gar nicht. Sonst hätte er kaum das gestrige Programm überstanden.

Auch von Dir und Franziska war schon die Rede! Am Freitag haben sie in Eurer Wohnung alle nichttragenden Wände herausgenommen. Du wirst für den Neuanfang weniger Mut brauchen, als Du denkst. Gotthard Pringel wird Dir bei allem zur Hand gehen (sein Pseudonym habe ich inzwischen wieder abgeschafft). Und Robert kann es kaum erwarten, Gesine etwas auf dem Klavier vorzuspielen.

Jo, mein Lieber, ich kann Dir nicht alles schildern, zumindest jetzt nicht. Der Vormittag im Museum, die Inthronisierung der Madonna, wäre eine eigene Geschichte, zumal plötzlich Nicoletta erschien.367 Sie wollte mich überraschen. Das Museum hat sie bis auf weiteres als Photographin engagiert, um ihr so wenigstens einen Teil der Ausgaben zu erstatten, die sie wegen ihrer Recherchen in Sachen Altar hat. Da standen sie also plötzlich zusammen: Nicoletta, Vera und Michaela. Und was tat ich? Ich stritt mit der Museumsdirektorin herum, weil die mysteriöse Madonna aus dem Pfarrhaus nicht am Eingang der» Italiener-Sammlung «aufgestellt worden war, wo sie vereinbarungsgemäß hätte stehen müssen — und wie es in unserem Bericht nachzulesen ist —, sondern am Ende der Galerie. Die Gründe der Direktrice interessierten mich nicht. Und sie ließ sich durch nichts erweichen. Selbst als der Baron, der die Sache gelassen nahm, mir einen Mann vom Landratsamt zu Hilfe schickte, der für das Museum weisungsberechtigt ist, blieb sie stur. Eher wolle sie ihren Posten zur Verfügung stellen, als sich Anordnungen dieser Art zu beugen. Der Baron schlichtete, so gut es ging. Wir werden» unser Versehen «in der nächsten Ausgabe berichtigen — oder auch nicht. Sollen doch alle fragen, wieso die Madonna nicht am Eingang steht.

Eine junge Frau spielte Cello, dann Reden, Reden, Reden, jedesmal Freude und Jubel über den Erbprinzen und Dank an Barrista und die Zeitung. Wieder Cello. Die Leute quatschten die ganze Zeit, Nicoletta verschoß Film auf Film. Sie raunte mir zu, ich solle nicht so ein Gesicht ziehen, sonst könne sie die Bilder nicht verwenden.

Als der Erbprinz, geführt von der Direktrice, seinen Rundgang durch die Sammlung begann, schnappte sich Massimo kurz entschlossen zwei Aufsichtsmänner, zog sie am Ärmel ihrer hellblauen Jacketts vor den ersten Durchgang und postierte sich selbst hinter diesem lebenden Schild, die Mundwinkel tief nach unten gezogen.

Während die Leute immer lauter» Hoheit «riefen und dem versteinerten Massimo erklärten, was sie dem» Herrn Erbprinzen «schenken oder zeigen wollten, wurde ich Zeuge eines kleinen Wunders.

Vor den Tafeln des Guido da Siena schlug der Erbprinz die Decke beiseite, stützte sich auf die Armlehnen, erhob sich aus eigener Kraft und machte einen Schritt auf die Tafel zu.»So ein Wiedersehen«, sagte er.

Jede Tafel war ein Wiedersehen! Es gab keine, vor der er nicht verweilte, zu der ihm nichts einfiel. Als Jugendlicher habe er ganze Wochen hier verbracht.

So schritt der Erbprinz am Arm der Direktrice eine Stunde die Front dieser Bilder ab, bis er bei Massimo ankam, den er» unseren tapferen Thermopylenkämpfer «nannte.

Diejenigen, die auf den Erbprinzen gewartet hatten, wichen vor ihm wie vor einer Erscheinung zurück.

Massimo bat für einige» Unglückliche«, die sich nicht auf Sonntag hatten vertrösten lassen, um eine Signatur des Erbprinzen in Georgs Reprint.

Ich schreibe Dir jetzt nichts über den kleinen Ausflug mit Nicoletta, nichts über die Ankunft unserer ersten Ausgabe aus Gera, nichts über all die Vorbereitungen, die bis zur letzten Minute, ja bis zum Beginn des großen Empfanges noch notwendig waren.

Ah, Madame Türmer ist erwacht … Gestern, vor dem Empfang, verbrachte sie eine Stunde oder länger damit, eine sogenannte Feuchtigkeitscreme von der Stirn bis zu den Zehen aufzutragen, und verwandte so viel Sorgfalt darauf, als hätte man sie bei Lebensgefahr beschworen, ja keine Pore zu vergessen. Überhaupt verschönt der Westen die Frauen, ich sehe es an Vera, ich sehe es bereits an Michaela und auch an meiner Mutter. Jene Fältchen, die sich um ihren Mund eingenistet hatten und ihn wie einen Sack zuzuschnüren drohten, scheinen verflogen.

Aber jetzt zum Empfang:

Zehn vor sechs trug ich mit Andy den Erbprinzen hinauf — wir hatten die Haupttreppe für uns, die geladenen Gäste saßen seit fünf Minuten auf ihren Plätzen. Olimpia überwachte die Tür zum Bachsaal.

Während ich rätselte, ob der Prinz selbst ein Parfüm benutzt hatte oder der Duft einfach hängengeblieben war, riet uns der Baron, keinen Alkohol zu trinken, auch während des anschließenden Essens, um bis zuletzt die volle Konzentration zu bewahren. Cornelia, die für die ganze Veranstaltung der Maître de plaisir war, hatte für uns Sektflaschen mit einer Mischung aus Wasser und Apfelsaft präpariert.

«Laßt euch durch nichts verblüffen und habt keine Angst«, ermahnte der Baron Vera, Michaela und mich.»Gleichgültig, was geschieht, was gesagt wird, was ihr hört, gleichgültig, ob euch die Leute gefallen oder nicht, ihr müßt zu allen, zu ausnahmslos allen liebenswürdig sein. Ihr müßt daran glauben, daß sie euch am Herzen liegen. Nach nichts sehnen sich diese Menschen mehr als nach eurer Gunst. Sie gieren regelrecht nach eurem Blick, eurem Lächeln, eurem Nicken. Fragt Cornelia.«

«Clemens, Clemens, was erzählst du da nur!«seufzte der Erbprinz und bot den Frauen an, sich jederzeit auf seinen Rollstuhl zu stützen.

Michaela bekämpfte ihr Lampenfieber mit Atemübungen. Auf mich wirkte ihre Nervosität, vor allem aber die Aufgeregtheit des Barons, geradezu beruhigend. Vera erging es ähnlich.

Dann begann es sechs Uhr zu schlagen. Der Baron und ich traten an die kleine Flügeltür. Das Gemurmel im Saal erstarb, ich hörte nur noch Rascheln. Vera und Michaela richteten sich auf — und da sah ich es: Beider Kleider waren durchsichtig oder besser: durchscheinend. So gediegen die Stoffe aus der Nähe wirkten — ein paar Schritte Abstand reichten, und die Verhüllung gab Brüste, Rippen, Scham in einer Deutlichkeit preis, wie es purer Nacktheit nie gelungen wäre.

«Türmer«, zischte Barrista. Ich hatte die Schläge der Uhr nicht mitgezählt.

Es war so still, als wären wir allein im Schloß. Kurz nacheinander begannen die Kirchen ihr Sechs-Uhr-Läuten. Ich dachte, daß ich einmal die Reihenfolge herausfinden müßte, in der die Glocken einsetzen, und daß deren Beschreibung auch ein schöner Romanbeginn wäre, weil dabei ganz ungezwungen die Topographie der Stadt mitentstünde.

Als der Baron nickte, öffnete ich, wie wir es geübt hatten, mit einer Vierteldrehung das Türschloß. Synchron zogen der Baron und ich die Türflügel auf, die Musik setzte ein. Vera und Michaela lächelten und schoben den Erbprinzen an uns vorbei in den Saal, in dem sich die Gäste erhoben und applaudierten.

In eingeübter Schrittfolge schlossen wir hinter uns die Tür. Michaela schwenkte ihren Hintern, als gäbe sie die Dirne im Freilichttheater. Mutter und Robert, ihre Gesichter waren vor lauter Begeisterung fast verzerrt, klatschten frenetisch. Vom Erbprinzen sah ich nur die aneinandergelegten Fingerkuppen.

Der Applaus wollte nicht enden. Erst als der Baron und der Bürgermeister dem Publikum Zeichen gaben, setzte man sich endlich. Hinten rechts, vor dem Orchester, sah ich unsere Zeitungsredaktion und Georgs Familie, links, zur Tür hin, erkannte ich Olimpia und Andy, Cornelia und Massimo, Recklewitz samt Familie, Proharsky mit Frau.

Marion hätte ich wohl ohne Jörg an ihrer Seite gar nicht wahrgenommen. Ihr Gesicht war bleich und schien mir irgendwie verändert. Wahrscheinlich stand sie unter Medikamenten.

«Danke«, rief der Erbprinz,»vielen, vielen Dank für Ihr Willkommen. «Karmeka, der über den Handrücken seiner Linken strich, als kreme er sie ein, holte tief Luft und begann seine Begrüßung mit einem Exkurs über den Spruch» Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben«. Ich war in meinem Bericht nicht auf den Inhalt seiner Rede eingegangen, insofern konnte es mir gleichgültig sein, was er sagte, nur — er hörte nicht mehr auf. Im Programm stand: 2. Kurze Begrüßung durch den Bürgermeister, 3. Musik (das Lieblingsstück des Erbprinzen, Mozarts» Kleine Nachtmusik«), 4. Ansprache des Bürgermeisters.

War das noch Begrüßung oder schon Ansprache? Der Dirigent — der Ärmste heißt wirklich Robert Schumann — observierte uns mit gerecktem Hals, jederzeit bereit, herumzufahren und den Auftakt zu schlagen. Immer wenn ich schon glaubte, Karmeka komme zum Schluß, warf er seinen Kopf für eine neue Volte wieder nach oben. Nach einer Viertelstunde näherte er sich mit Danksagungen dem Ende. Dieser Dank galt allen, der Stadt- und der Schloßverwaltung für ihre unermüdliche Arbeit, und besonders seinem Adepten, dem Herrn Fliegner. Barrista und mich erwähnte er mit keiner Silbe. Das war ein Affront, egal wie man es drehte. Warum sagte er nicht, daß der ganze Besuch die Stadt keinen Pfennig gekostet hat? Nichts haben sie dafür getan, gar nichts!

Soll er reden, tröstete ich mich. Wir achten schon darauf, daß die Wahrheit keinen Schaden nimmt. Dem Baron jedoch gelang wieder ein Meisterstück. Er applaudierte auf eine so aufrichtige Weise, daß der Bürgermeister sich bemüßigt fühlte, seine Hand zu ergreifen und nun auch ihm zu danken. Für das Photo dieser Geste bedarf es keiner Bildunterschrift mehr.

Robert Schumann schlug den Takt, und die» Kleine Nachtmusik «beendete den Beifall. Danach sprach der Erbprinz. Seine Rede kannst Du bei uns nachlesen.

Als er beschrieb, wie verloren er sich mitunter fühle — in Altenburg jedoch werde ihm so viel Herzenswärme entgegengebracht, sprang Marion auf. Sie blieb stumm, als ginge es ihr um eine bessere Sicht. Auch ließ sie sich widerspruchslos von Jörg zum Hinsetzen bewegen. Doch was hielt sie da in Händen? Mir stockte der Atem! Unser Sonntagsblatt mit dem Bericht über den Empfang, der gerade stattfand! Jörg hatte uns zu der neuen Zeitung gratuliert und war voller Anerkennung gewesen, weil wir gleich mit 24 Seiten und noch dazu im großen Format starteten. Hätten wir sie denn vor ihm verstecken sollen?

Ja, wir hätten sie vor ihm verstecken müssen. Diese Unachtsamkeit rächte sich jetzt. Marion mußte nur unser Sonntagsblatt weitergeben, es von Hand zu Hand durch die Reihen wandern lassen, um uns ein für allemal lächerlich und unglaubwürdig zu machen. Mir brach der Schweiß aus.

Massimo saß, statt sich um unsere Sicherheit zu kümmern, mit verschränkten Armen und froschigem Grinsen zurückgelehnt da und schmatzte wahrscheinlich wieder leise vor Behaglichkeit. Hatte es keiner außer mir bemerkt? Sollte ich einen Feueralarm auslösen? Der hätte aber auch nicht im Blatt gestanden. Wir würden die Ausgabe zu einer Art Probenummer erklären. Besser, zehn- oder fünfzehntausend D-Mark gingen verloren als unser Renommee. So wäre meine Entscheidung ausgefallen, hätte ich sie in jenen Sekunden treffen müssen. Auf mein entgeistertes Gesicht spielte der Baron später an, als er sagte, seine Ermahnungen seien keinesfalls so überflüssig gewesen, wie ich wohl geglaubt, aber leider auch nicht so wirksam, wie er es erhofft habe.

Die geringste Bewegung im Publikum schien mir ein Indiz dafür, daß die Zeitung bereits die Runde machte. Um ein Haar wäre ich mitten in der Musik aufgesprungen, weil ich die Ungewißheit nicht mehr ertrug.

Robert Schumann verbeugte sich — und verbeugte sich dann noch einmal vor Michaela und Vera.

Da ich Georgs Rede zweimal Korrektur gelesen hatte, wußte ich ziemlich gut, wie lange ich auf die Folter gespannt würde. Ich will es nicht aufbauschen, doch als das lange Schlußzitat begann, hätte ich am liebsten vor Erleichterung die Augen geschlossen. Vera und Michaela schoben den Erbprinzen Georg entgegen, so daß sich einer beim anderen bedanken und Georg ihm diesmal offiziell das Buch über die Herzöge von Sachsen-Altenburg überreichen konnte.

Und dann, auf einen Wink Michaelas, ließ Robert Schumann wieder sein Orchester erklingen. Das große Defilee begann.

Der Baron und ich schoben den Erbprinzen auf das kleine Podest, das in der Mitte einen Vorsprung hatte, so daß Vera und Michaela direkt neben ihm, aber auf demselben Niveau wie alle anderen stehen konnten. Marion und Jörg hatten sich an den Rand des Saales zurückgezogen. Endlich gelang es mir, Pringel auf Marion hinzuweisen. Sie hielt die Zeitung zusammengerollt, doch das Blau des Kopfes leuchtete. Pringel verstand. Er wandte sich an Massimo. Der hörte ihm mit verschränkten Armen zu, wippte auf die Zehenspitzen, streckte sein Mussolini-Kinn vor und folgte Pringel. Pringel begrüßte die beiden. Danach nahm mir Massimos Kreuz die Sicht.

Die Choreographie des Empfanges war simpel. Die geladenen Gäste stellten sich von zwei Seiten an. Die linke Reihe führte über Michaela und den Baron zum Erbprinzen, die rechte Reihe hatte Vera und mich zu passieren. Vera und Michaela nahmen die Einladungskarten in Empfang, deren Nummern sie in ihren Dossiers nachschlugen. Nach Nennung des Vor- und Zunamens lasen sie dem Erbprinzen ein paar Bemerkungen zu Lebenslauf und Verdiensten der jeweiligen Herrschaften vor, der Baron oder ich ergänzte dies durch den einen oder anderen verbindlichen Hinweis.

Das klingt langweilig und profan. Wahrscheinlich hältst Du das für ein hohles Ritual, um die Eitelkeiten der Altenburger Hautevolee zu befriedigen. Ich selbst hatte ja dieser Liste kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Doch weit gefehlt!

Selbst Karmeka, der das Defilee mit seiner Familie eröffnen durfte, verlor in dem Augenblick, da er vor den Erbprinzen trat, all seine umtriebige Selbstgewißheit. Da stand die Familie einsam und unsicher und war plötzlich nur noch das, was Michaela verkündete:»Frederick und Edelgard Karmeka, Zahnarzt und Zahntechnikerin, und ihre drei Töchter Klara, Beate und Veronika. «Der Erbprinz hielt die Hand von Edelgard Karmeka fest, die bis zum Haaransatz errötet war und den Mund so verzog, daß ich nicht wußte, ob sie lächelte oder mit den Tränen kämpfte. Der Baron erlöste und verabschiedete sie mit dem Hinweis auf das nachfolgende Essen im kleinen Kreis, bei dem man sich ja wiedersehen werde.

Nun war es an Vera und mir, den Landrat nebst Gattin, Bauingenieur und Gastronomin, vorzulassen, die mir beide für ein paar im familiären Tonfall gesprochene Worte dankbar waren, aber selbst nichts über die Lippen brachten.

Auf unserer Seite folgte Anton Larschen, der mir, von einem Friseur seiner Haarpracht beraubt, merkwürdig fremd erschien. Seine Rechte vollführte nach wie vor die gewohnte, nun ins Leere führende Geste, mit der er sonst die Haare zu bändigen versucht hatte. Larschen überreichte dem Erbprinzen Euer Buch.»Da steht alles drin«, sagte Larschen. Der Erbprinz dankte und sagte, wie er sich freue, jenen Mann kennenzulernen, dessen Artikel er mit großem Interesse verfolge. Bevor Larschen antworten konnte, kündigte der Baron bereits zwei» ehemalige Bürgerrechtler «an, die präsentiert wurden wie früher in der Schule die Veteranen des antifaschistischen Widerstandes. Anna lud den Erbprinzen in die Umweltbibliothek ein, woraufhin er sie bat, zum nachfolgenden Essen zu kommen. Wir lächelten alle, obwohl wir wußten, in welch große Bedrängnis diese Eigenmächtigkeit Cornelia, unseren Maître de plaisir, bringen würde.

Massimo, Pringel und nun auch Kurt bewachten weiterhin Marion und Jörg und stellten sich gemeinsam mit ihnen auf der Seite des Barons an.

Neben Vera wartete ein kleiner Mann im Rollstuhl, dessen weißes Haupthaar in wirren Strähnen herabhing. Er beugte sich in seinem Stuhl vor und grüßte so übertrieben wie ein Kind, das aufgefordert wird, einen Diener zu machen. Von seinem Gebrabbel erschloß sich mir nur hin und wieder ein Wort. Es war der Prophet. Ohne seinen Bart erkannte ich ihn nur an seinen von der Brille grotesk vergrößerten Augen. Er hatte einen Schlaganfall, sein Verstand soll der alte sein, aber Sprache und Körper lassen ihn im Stich. Der Prophet schien ungehalten zu werden, als der Erbprinz ihn nicht verstand. Niemand verstand ihn. Ich sagte zum Erbprinzen, daß ich diesem Manne hier, daß ich Rudolph Franck in gewisser Weise das verdankte, was ich heute sei.

Dann kamen ein paar Großkunden, die wöchentlich mindestens eine halbe Seite schalten, wie zum Beispiel Eberhard Hassenstein. Die Hand des Erbprinzen verschwand in der behaarten Hassensteinschen Pranke. Sein Vater, der die Kohlehandlung Benndorf & Hassenstein 1934 mitbegründet habe, sei kurz nach der Enteignung 1971 gestorben. Hassenstein zog die Nase mehrmals hoch, eine Träne rann ihm bis zum Kinn.

Ich stellte das Ehepaar Offmann vor, Möbelhaus Offmann in dritter Generation, gegründet 1927, Roswitha Offmann und Klaus Kerbel-Offmann.

Du wirst sie alle kennenlernen, in jeder dieser Familien steckt ein Roman. Doch wer sie auch immer sein mögen, mir kam es vor, als schlössen sie in jenem Moment, da sie vor den Erbprinzen traten, einen Vertrag mit uns. Zuvor waren sie vielleicht aufgeregt gewesen, hatten sich dies und das vorgestellt, aber keiner hatte wohl geahnt, wie sehr sie die Begegnung mit dem Erbprinzen erschüttern würde. Als sie ihm die Hand reichten, brach etwas in ihnen auf — und was immer es auch war, es überraschte sie und band sie an uns.

Selbst Pfarrer Bodin, der wegen der Horoskope im» Wochenblatt «gegen uns gewettert hatte, befeuchtete seine tüllenförmige bläuliche Unterlippe und sah uns erwartungsfroh wie ein Kind an, als er an der Reihe war. Pfarrer Mansfeld, der katholische Berserker, der heute noch seinen großen Auftritt als Bonifatius haben wird, ließ es sich nicht nehmen, dem Erbprinzen eine Flasche Kräuterlikör zu schenken, und flüsterte mir nach seiner Audienz zu, auch für uns halte er hochprozentige Präsente bereit.

Piatkowski, der CDU-Bonze, der nun doch wieder unter den Stadtverordneten sitzt, hatte seine Frau geschickt. Die genoß den Empfang und sprach so heiter und herzlich, ja regelrecht charmant mit dem Erbprinzen, daß dieser sich später nach ihr erkundigte.

Düster und am Rande des Eklats war der Auftritt der Frau vom Galluswirt. Sie machte einen großen Knicks, landete, beabsichtigt oder nicht, auf den Knien und rief:»Es war Freitod! Eure Hoheit! Es war Freitod!«Ich wußte nicht, daß der Galluswirt vor drei Tagen Selbstmord begangen hatte. Während der Baron sein Beileid bekundete und ich den Erbprinzen über die frühere Bedeutung des Galluswirtes aufklärte, rief sie immer wieder:»Es war Freitod! Eure Hoheit! Es war Freitod!«

Von denen, die ich auf die Liste gesetzt hatte, waren bis auf Ruth, die Tochter meiner Wirtin Emilie Paulini, Jan Steen und den Gießener Zeitungschef, der sich aber entschuldigen ließ, alle gekommen.

Froh war ich, daß Wolfgang, der Hüne, und seine Frau erschienen. Wie oft wollten wir uns schon treffen! Nun werde ich sie mit Vera besuchen. Auch Blond und Schwarz, zwei Polizisten, kamen. Wir haben uns im Herbst kennengelernt.

Im Saal wurden schon Häppchen, Sekt und Orangensaft herumgereicht, als Marion und Jörg ihre Karten vorzeigten.

Ich glaubte, die Selbstbeherrschung des Barons sei der Grund für die Liebenswürdigkeit, mit der er auch die beiden begrüßte. Denn daß er die Zeitung in Marions Händen nicht erkannt hätte, schien mir unwahrscheinlich. Marion ließ all ihre unterdrückte Aggressivität an dem zusammengerollten Sonntagsblatt aus, eine Geste, die sich mit» den Hals umdrehen «am besten beschreiben läßt. Dann starrte sie das Werk ihrer Selbstvergessenheit an und versuchte das Papier zu glätten. Jörg strich Marion mit dem Handrücken über die Wange. Um es kurz zu machen: Der Baron stellte die beiden vor. Jörg begrüßte den Erbprinzen mit» Eure Hoheit «und verneigte sich tief vor ihm. Dann trat er zur Seite und überließ Marion das Feld. Die beugte sofort wie ein Opernheld ein Knie und hielt dem Erbprinzen die Zeitungsrolle hin.»Schauen Sie selbst. Ich weiß nicht, warum so etwas getan wird. Aber alle ändern plötzlich ihre Biographie. Niemand spricht mehr die Wahrheit«, sagte sie monoton und mit tiefer Stimme. Es folgten noch ein paar Sätze dieser Art, völlig absurdes Zeug. Und natürlich teilte sie dem Erbprinzen mit, warum sie dem» Herrn Türmer «verboten habe, sie zu duzen, denn der sei ein Betrüger und gänzlich verblendet. Sie jedoch, Marion Schröder, lehne es ab, für mich, diesen Schatten, zu beten.

Der Erbprinz streckte die Hand aus, er wollte, daß sie aufstand — der halbe Saal glotzte bereits. Sie mißdeutete das. Schnell wie ein Vogel, der nach etwas pickt, küßte sie seine Hand, erhob sich und rief:»Sehen wir uns also bald!«Jörg folgte ihr, holte sie kurz vor der Tür ein und schlang den Arm um ihre Schulter.

Am meisten überraschte mich Kurt. Ich hatte ihn für Mitte Fünfzig gehalten, aber Kurt ist erst Anfang Vierzig. Seine Frau ist höchstens Mitte Dreißig und so zart, daß ich sie für seine Tochter hielt. Als ihren Beruf las Michaela» Fleischerin «vor.»Fachverkäuferin für Fleisch- und Wurstwaren«, berichtigte Kurts Frau mit fester Stimme, und das blieb auch das einzige, was ich aus ihrem großen schönen Mund vernahm.

Pringels Frau, eine Apothekerin, überreichte ein winziges Schächtelchen, in dem sich ein vierblättriges Kleeblatt befand, das sie auf der Wiese des Schloßhofes gefunden habe. Ihnen habe es in den letzten Tagen so viel Glück gebracht, sie wollten es nun weitergeben.»Unser rasender Reporter«, sagte der Erbprinz, und Pringel, der seinen Bart gestutzt hatte, sagte:»Alles, alles Liebe!«

Als wir dann zum Essen hinüber in den großen Spiegelsaal gingen, fragte ich den Baron, wann er denn die Zeitung in Marions Hand entdeckt habe. Mit der sei sie doch schon gekommen, sagte er. Sie habe das Sonntagsblatt als Fächer benutzt, was doch hoffentlich nicht meine Eitelkeit gekränkt hätte. Der Baron verstand überhaupt nichts! Er schlug sogar vor, am besten jetzt gleich einen ganzen Stapel Sonntagsblätter an der Tür des Spiegelsaales zu deponieren. Ich sei ein Angsthase, rief er und fragte dann, wovor ich mich denn jetzt noch fürchtete.

Ich muß los!

Seid umarmt

Euer E.

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