[Mittwoch, 20. 6. 90]


Verotschka, ich habe es schon hundertmal probiert, ich erreiche Dich nicht! Wo steckst Du?

Wir müssen uns keine Vorwürfe machen.329 Nicht wegen Michaela. Ich hatte es schon immer geahnt, aber jetzt weiß ich es sicher. Die Sache mit Barrista war kein Zufall. Michaela hat es geplant, kaltblütig geplant.

Nein, ich bilde mir das nicht bloß ein. Es geht um die Fehlgeburt. Es war alles so unwirklich, in der Welt, aus der Welt. Ich hatte es nicht vergessen, natürlich nicht, aber darüber reden?

Heute war ich bei Michaela, ich mußte Barrista sprechen (seine dämliche Rolex-Idee erweist sich als Fluch!), ich dachte, er sei zu Hause. Michaela hörte die Klingel nicht. Ich klopfte gegen die Scheibe meines alten Zimmers. Das ist jetzt ihr» Studio«, ein» Sportstudio«!

Wie sie da vor mir stand, nur in Unterwäsche, völlig verschwitzt, und etwas von» zwei Kilo weniger «erzählte, von» zwei Kilo weniger in vier Tagen!«. Ich mußte mir anschauen, wie sie in roten Turnschuhen auf einem Förderband rannte, Hanteln in den Händen.»Noch fünfhundert Meter«, keuchte sie.

Ich wartete in der Küche. Wie schnell alles fremd wird! Unmengen an Zwieback, Knäckebrot und H-Milch. Die Kühltruhe bemerkte ich erst nicht. Neben ihrem strahlenden Weiß wirkte alles andere schäbig.

Michaela klatschte sich auf den Bauch und sagte, sie ziehe ihn nicht ein, der Speck sei weg, das müsse ich zugeben. Sie sprach von Willenskraft und wieviel man damit erreichen könne, allein mit täglichem Training. Sie redete immer wieder von ihrem Bauch, während sie halbnackt herumhantierte. Und da sagte ich:»Eigentlich traurig, daß dein Bauch so flach ist. «Verotschka, versteh mich nicht falsch, Du und ich, wir hätten ja das Kind nehmen können, ich hätte es gewollt. Zuerst dachte ich, Michaela kapiere die Anspielung nicht oder wolle mich nicht verstehen. Dann aber sah sie mich an und nannte mich einen Träumer und Egoisten und noch einiges mehr. Plötzlich sagte sie:»Du glaubst aber auch alles«— und erschrak über die eigenen Worte. Ich fragte, was sie damit meine. Sie schwieg. So schnell fiel selbst ihr keine Ausrede ein. DU GLAUBST ABER AUCH ALLES!

Damals, im Krankenhaus, hatte ich die Stationsschwester zur Rede gestellt, wie sie denn so etwas dulden könne, so eine Brutalität, eine» Fehlgeburt «zu den» Abbrüchen «zu legen … Lieber auf den Gang! habe ich gesagt, ja, lieber auf den Gang, das wäre menschlicher. Alle haben geschwiegen, auch die Schwester. DU GLAUBST ABER AUCH ALLES!

Ich habe Michaela schwören lassen, daß es wirklich eine Fehlgeburt gewesen ist, und sie hat es auch geschworen. Aber das war Lüge. Lüge und Meineid. Ich hielt es nicht mehr aus, ich bin weg, ohne Abschied.

Das ist alles, Verotschka. Wir hätten es doch genommen, nicht wahr?

Dein Heinrich

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