Liebe Frau Hansen!
Wäre da nicht Ihre Handschrift, ich würde es nicht für möglich halten, daß dieser Brief von Ihnen stammt. Lassen Sie das nicht Ihr letztes Wort sein!
Nie werde ich vergessen, wie Sie die große Museumstreppe heruntergesprungen kamen und erst aufsahen, als ich grüßte. Und Ihre Verwirrung, weil Sie glaubten, wir kennten uns, und zögerten weiterzugehen. Sie gehörten nicht nach Altenburg, das sah jeder. Mehr als der Mut aber fehlte mir in diesem Moment eine Idee, was ich Sie fragen, wie ich Sie ansprechen sollte.
Während der Pressekonferenz im Museum nahm ich mir vor, Sie irgendwohin einzuladen, sollte mir das gütige Schicksal eine zweite Chance gewähren.
Daher erschien mir unser Wiedersehen als Fügung. Ich will mich nicht auf unglückliche Zufälle herausreden, doch Ihre Freundin/Kollegin saß genau in unserer Blicklinie. Und um ganz ehrlich zu sein: Ich bemerkte die Reaktion und hatte auch gar nichts dagegen, weil ich fürchtete, mich sonst zu schnell zu verraten. Das können Sie mir vorwerfen. Aber nur das!
Wie Sie am Fensterbrett lehnten, den Photoapparat in Ihren Händen — ich war glücklich, mit Ihnen in einem Raum zu sein, und bemühte mich, Sie nicht zu oft anzustarren, also zwang ich mich, nur selten in Ihre Richtung zu blicken. Aber meine Blicke waren nicht mißzuverstehen. […]
Warum sind Sie mir in den Garten gefolgt? Wieso jetzt diese Vorwürfe? Wieso hat sich Frau *** nicht gleich bei Ihnen beschwert? Ich begreife das alles nicht!69
Um ganz offen zu sein: Als Sie beide gegangen waren, sagte ich: Diese Frau ist gefährlich, und natürlich wußte jeder, an wen ich dabei dachte. Ich meinte das allgemein, unpersönlich — daran muß ich jetzt denken.
War das Interview nicht längst zu einem Verhör geworden? Ohne Ihren erlösenden Einwurf hätte es mit einer Verurteilung Georgs zum» Ewiggestrigen «geendet. Wir sind keine Kinder. Ich will gar nicht von dem fordernd unter die Nase geschobenen Mikrophon reden. Und ich nörgle auch nicht an dem scharfen Tonfall herum, in dem ihm eine schriftlich ausformulierte Frage nach der anderen vorgesetzt wurde. Wer kann schon, ohne daß Zeit zum Nachdenken bleibt, auf selbem Niveau antworten?
Was Georg» das eigentliche Leben «genannt hat, wurde bei ihr zu» existentiell«. Sie zitierte ihn mit» nebensächlich«, wo er den Mauerfall als» logische Konsequenz «bezeichnet hatte. Sie brachte ihn dazu, sich ständig zu rechtfertigen.
Ihr Ausruf:»Aber man muß doch das Mittelmeer sehen!«ist der schönste Satz, den ich je gehört habe. Er war eine Erlösung! Ja, ich will das Mittelmeer sehen!
Kein Wort von all dem, was Sie sagten, habe ich vergessen. Als Sie über das Glück sprachen, an einem Ort wie diesem leben zu dürfen, der solche Pracht beherberge, und daß jeder Weg nach Italien über Altenburg führen müsse — ja, ich weiß, Sie bezogen es auf das Museum … Für mich war es ein Gleichnis, ein Versprechen, und so nah neben Ihnen stehen zu dürfen schon eine Erfüllung.
Ich sehe diesen hellen blaßblauen Streifen am Horizont, in den die Kegel70 von Ronneburg ragten, die Sie Pyramiden nannten, und diese schwere schwarzgraue Wolkendecke über uns, unter der bereits die Straßenbeleuchtung angegangen war, so daß wir über die Stadt sahen, als schauten wir aus einem Zimmer heraus. Und wie wir dann unser Gespräch unterbrachen, weil dieser Wolkenstreifen orangefarben aufleuchtete. […] An mehr will ich Sie gar nicht erinnern.
Ihr Enrico Türmer