Dienstag, 1. 5. 90


Liebe Nicoletta!

Ende August wurde ich von meinem Dasein als Vollzeitschriftsteller erlöst. Ich fuhr nach Jena zum Studium.

Beinah schäme ich mich dafür, so brav der Chronologie zu folgen. Doch das eine bleibt ohne das andere unverständlich. Ich verspreche Ihnen aber, nun etwas schneller voranzukommen.

Ohne meine Schreiberei, meine elende Berufung, wäre ich vielleicht ein guter Student geworden. So aber trieb mich fortwährend eine einzige Frage um: Wie weit bin ich davon entfernt, mein Armeebuch zu vollenden, um es im magischen Alter von 25 Jahren im Westen zu veröffentlichen?

Über das Studium als solches werde ich Ihnen nicht schreiben, auch wenn es meine Tage bestimmte und ich sogar Angst davor hatte, es wieder zu verlieren. Wir waren neun Studenten, fünf Archäologen und vier Philologen. Ich habe Ihnen ja erzählt, daß für klassische Philologie nur in Jena und nur alle zwei Jahre immatrikuliert wurde. Natürlich macht das hochmütig, obwohl weiß Gott kein Grund dazu bestand.

Erinnern Sie sich noch an die Friedensmärsche und Nachrüstungsbeschlüsse von 1983? In Jena gab es Demonstrationen — illegale und offizielle, oft gleichzeitig. Die nichtoffiziellen Schilder und Transparente wurden von Arbeitern getragen und von Stasileuten schnell zertrümmert. Ich sah, wie Demonstranten die Überreste ihrer Schilder hochhielten, bis sie entweder verhaftet wurden oder hinter einem Wald aus DDR-Fahnen, die von Schulkindern geschwenkt wurden, verschwanden.

Gemeinsam mit ein paar anderen Studenten hatte ich mich zu den Theologen gestellt, die nicht attackiert wurden, obwohl auch ihre» Sprüche «nicht erwünscht waren.

Wahrscheinlich hätte ich mich nur bücken und den Splitter eines Schildes hochhalten müssen, um exmatrikuliert zu werden.

Daß ich es nicht tat, lag nicht allein an den Verheißungen des Studiums. Ich hatte auch Angst. Nicht alle hatten ihre Inhaftierung überlebt.198 Jeden Sonnabendvormittag parkte ein vollbesetzter Mannschaftswagen mit Uniformierten neben dem» Platz der Kosmonauten«. Das Lauernde, das von ihm ausging, übertrug sich auf die Stimmung in der Stadt. Jeder, der in die Thomas-Mann-Buchhandlung ging oder einfach nur den Platz überquerte, konnte sich im nächsten Augenblick in einen Demonstranten oder einen Stasibüttel verwandeln.

Die» persönlichen Gespräche«, die ich aus der Schule kannte (selbst bei der Armee hatte es ähnliche Versuche gegeben), fanden an der Universität ihre Fortsetzung. Es wurde vorausgesetzt, daß man als» männlicher Student «seine Bereitschaft, Reserveoffizier zu werden, schriftlich erklärte. Nach meiner ersten Weigerung, deren Begründung nicht ganz einfach gewesen war, erhielt ich die Einladung zu einem Gespräch mit der grauen Eminenz des Hauses, Ordinarius für Archäologie Professor Samthoven (das» v «soll früher einmal ein» f «gewesen sein), eine durch und durch gepflegte, ja geradezu manierierte Erscheinung. Auf seinen dichten, makellos getrimmten Bart war er so stolz wie auf seine kleinen Füße und schmalen manikürten Hände. Während des Proseminars rauchte er Zigarillos (auch wir durften rauchen) und benutzte eine Reitgerte als Zeigestab. Er genoß den Ruf, ein Casanova zu sein. Jedenfalls bevorzugte er hemmungslos die hübscheren Studentinnen, vor allem wenn sie langes Haar hatten. Seit ich das Schema (Skema, sagte er) eines Sonetts an die Tafel skizziert hatte (er legte» höchsten Wert «auf Allgemeinbildung) und mir die Beschreibung frühgeometrischer Vasen für einen Anfänger leidlich gelungen war, überschätzte er mich maßlos.

Er bat mich, Platz zu nehmen, und führte sich geradezu väterlich auf, kochte Tee und schob mir einen Aschenbecher hin. Beide hatten wir die Beine übereinandergeschlagen, sahen auf unsere ungleich großen Schuhe herab, die leicht wippten und sich dabei fast mit den Spitzen berührten. Mit Daumen und Mittelfinger strich er sich über die Mundwinkel, preßte die Lippen aufeinander und begann zu sprechen. Ich solle mich nicht darüber wundern, daß er mich zum Gespräch gebeten habe. Doch bevor jene, die dafür ihr Geld bekämen, mit mir redeten — er meinte damit nicht die Stasi, sondern Kollegen, deren Stellung sich erst in zweiter Linie ihrem fachlichen Wissen verdankte —, wolle er sich selbst das Vergnügen gönnen, mit mir zu plaudern, einfach nur um sicherzugehen, daß ich auch alles bedacht hätte, bevor ich meine endgültige Entscheidung träfe. Er schenkte Tee ein.

Außer ihm habe hier wohl noch niemand davon erfahren, daß ich Unteroffizier sei … ich wollte widersprechen, mich erklären — er wisse, was ich vorzubringen beabsichtige, doch solle ich ihn ausreden lassen. In der Tatsache, daß ich Unteroffizier sei, sehe er schon etwas Beschämendes. Doch nicht so, wie ich vielleicht dächte, ganz im Gegenteil. Jeder Staat, egal ob Ost oder West, hole sich die Offiziere aus seiner Elite. Das sei überall so, nur bei uns nicht. Bei den Polen, Russen oder Tschechen werde man gar nicht gefragt.

Ihm täte es leid, wenn ich mir durch meine Weigerung Beruf und Lebensplanung ruinierte, zumal mir, da werde ich ihm wohl zustimmen müssen, keine schlüssige Begründung eingefallen sei noch aller Voraussicht nach einfallen werde und ich mich von diesen Leuten zudem geistig demütigen lassen müsse.»Denn was, mein lieber Herr Türmer, soll ein Unteroffizier an der Offizierskarriere Abschreckendes finden? Argumentieren Sie grundsätzlich, müssen Sie auch das Ja Ihrer Vereidigung widerrufen. Oder übersehe ich da eine Möglichkeit?«Er hob die flache weiße Tasse an die Lippen und schlürfte.

Alles, was man von uns verlange, fuhr er fort, sei ein Bekenntnis, ein symbolisches Ja. Wieder führte er die Tasse zum Mund und sah mich über deren Rand hinweg an.»Grusinischer Tee, hab ich aus Tbilissi mitgebracht. Werden Sie auch bald hinfahren, denke ich.«

Er sei schon zufrieden, wenn ich mir die Sache noch mal durch den Kopf gehen ließe. Über all die Mängel des real existierenden Sozialismus brauchten wir gar nicht zu diskutieren, unsere Standpunkte lägen wohl nicht so weit voneinander entfernt, wie hier manche glaubten. Er jedoch stelle sich immer eine Frage: Welche andere Gesellschaftsordnung hätte es geschafft, in so kurzer Zeit den Hunger zu besiegen, sei es in Rußland oder China oder Kuba. Solange täglich Zehntausende an Hunger und heilbaren Krankheiten umkämen, müsse man die Frage so stellen.»Was war der erste Beschluß von Allende? Ein halber Liter Milch für jedes Kind. Allende war Arzt, er hat gewußt, was not tut.«

Samthoven riß ein Streichholz an und sog an seinem Zigarillo.

Letztlich, und nur deshalb erzähle er mir das, nur deshalb nehme er sich die Zeit, gehe es doch darum, diesem Staat eine Elite zu geben.»Seien Sie nicht so dumm, auf Bildung zu verzichten!«rief er mit aufgestellten Fingern, zwischen denen das Zigarillo glomm. Ich solle nicht denen ins Netz gehen, die dieses Land mehr ruiniert hätten als der Klassenfeind. Wenn ich das begriffen hätte, stünden wir auf derselben Seite. Mehr wolle und könne er nicht sagen. Statt hier weiter den Helden zu spielen, täte ich besser daran, in die Partei einzutreten.»Nur aus der Partei selbst können die notwendigen Reformen kommen. Sie werden es erleben!«

Er persönlich werde mir alle Wege ebnen.

Die letzten Worte hatte er mit einer gewissen Ungehaltenheit gesprochen, als ärgere es ihn, all das überhaupt sagen zu müssen. Eine Weile saßen wir still da, unsere Füße wippten weiter. Dann reichte er mir seine schmale trockene Hand und verabschiedete mich.

Meine Lunge tat weh, ich hatte ununterbrochen geraucht. Vor Haeckels Phyletischem Museum blieb ich stehen. Ich wollte das anzügliche Angebot vergessen, ich brauchte Ablenkung, ich brauchte frische Luft.

An der Post vorbei ging ich in Richtung Westbahnhof, bog wegen des Berufsverkehrs jedoch bald nach rechts ab, einen steilen Weg hinauf, und spazierte ziellos durch die Straßen, die von Bürgerhäusern und Villen mit Gärten gesäumt waren. An dem mehrteiligen Fenster einer Sandsteinvilla hing ein rot-weißes Fähnchen mit der Aufschrift: Vivat Polska! Davon gab es einige in der Stadt. Das bedeutete, hier wohnt ein Antragsteller, jemand, der rauswill, in den Westen.

Ich lief weiter. Es war windig, aber nicht kalt. Ich schwitzte. Irgendwann glaubte ich, die Orientierung verloren zu haben.

Was soll ich sagen. Ich stand auf halber Höhe an einem Berghang und wußte plötzlich, wie mein Armeebuch aussehen würde. Wie durch Zauberhand fügte sich das» Vivat Polska «und die Inschrift an der Kreuzschulmauer in meine Armeerfahrungen ein. Das geistig verbindende Band, wähnte ich, verdankte ich irgendwie Samthoven.

Anderthalb Stunden später saß ich im» Hauser «und ließ mich von der Vierer-Clique aus dem dritten Studienjahr über Samthoven ausfragen.

Ich ahmte Samthovens eleganten Beinüberschlag nach, betrachtete meinen durchgedrückten Handrücken mit der gleichen unverhohlenen Selbstverliebtheit, glättete meinen imaginären Bart, hielt mir schlürfend die Untertasse ans Kinn, spreizte den kleinen Finger ab, wiederholte seine Sätze über Tbilissi und versuchte dann, seine Satzperioden zu imitieren, die so lang waren, daß man Wetten abschließen konnte, ob er mit der richtigen Konjugation enden würde. Wenn man Samthoven verraten konnte, dann habe ich es getan.

Die Clique lachte schallend. Ich genoß, wie unser Tisch zum Zentrum der dunklen Wirtsstube wurde. Edith, die Wirtin, unbestimmbar jenseits der Fünfzig und mit weißer Kittelschürze, wies Ankömmlinge, die auf Plätze warten wollten, mit einer Handbewegung vor die Tür, als störten sie hier eine Vorstellung.

Ein besserer Unterhalter als an diesem Abend bin ich nie wieder gewesen. Samthovens Aufforderung, in die Partei einzutreten, geriet mir zur krönenden Pirouette.

Samthoven mochte denken, ich hätte aus Höflichkeit geschwiegen, so wie diese hier glaubten, ich wüßte, was ich wolle. Am Ende meiner Vorstellung mußte ich auf ihre Vermutung, ich würde wohl bis ans Ende meiner Tage bei diesem Nein zum Reserveoffizier bleiben, nur noch mit Ja antworten.

Edith setzte sich wenig später an unseren Tisch und bat um eine Zigarette. Die abschließende Runde Bier spendierte sie. Damit war die letzte Steigerung erreicht. Der Vorhang konnte fallen.

Gleich einem prallen Portemonnaie in der Brusttasche spürte ich auf dem Heimweg mein Buch, dessen Dreh- und Angelpunkt die Inschrift» Vivat Polska!«sein sollte, die irgendwo im Heizungskeller der Kaserne mit weißer Farbe auf die dunkle Wand gemalt wird. Ein Soldat nach dem anderen wird vorgeladen, wobei das Verhör und die Zeit, in der man auf den eigenen Aufruf wartet, mir Gelegenheit zur Figurencharakteristik wie zur Schilderung des brutalen Kasernenalltags geben würden. Wer von ihnen hatte es geschrieben? Kaum haben sie einen Verdächtigen, findet sich die Parole an einer anderen Wand: Vivat Polska! Bald gibt es eine dritte Inschrift, eine vierte, bald sind es zehn, sogar im Schnee des Exerzierplatzes liest man» Vivat Polska!«. Und dabei — und das sollte der eigentliche Clou der ganzen Geschichte werden — ist es die Staatssicherheit selbst gewesen, die damit begonnen hat, um zu provozieren, um die Leute ausfragen zu können, sie zur Denunziation zu verleiten. Nun wendet sich ihr mieser Trick gegen sie selbst und wächst ihr über den Kopf.

Ich mußte nur beginnen, ich spürte bereits den Rausch, in dem sich alles fügen würde.

Ihr Enrico T.

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