Donnerstag, 28. 6. 90


Liebe Nicoletta!

Warum, Nicoletta, sind Sie mir so gegenwärtig geblieben, so sehr, daß es mich manchmal erschauern läßt? Wie oft male ich in Gedanken Ihr Porträt, an das ich mich so gut erinnere! Fieberhaft, mit ungesundem Eifer, rufe ich Ihre Gegenwart wach. Mir gelingt das erschreckend gut, und danach, wenn ich mich alleine wiederfinde, erscheint mir meine eigene Gesellschaft unerträglich. Und dann schreibe ich Ihnen.

Zwei Wochen nach Maueröffnung gab es außer uns niemanden mehr, der noch nicht im Westen gewesen war. In Roberts Klasse hatten schon alle» Batman «gesehen. Michaela redete sich jedesmal heraus.»Der Westen läuft uns schon nicht weg«, sagte sie, hier aber gebe es Arbeit in Hülle und Fülle, womit sie Sitzungen meinte, von denen sie beinah täglich eine besuchte oder bei uns zu Hause abhielt. Ihre Idee war es, ein Mitteilungsblatt herauszugeben, das allen Arbeitsgruppen des Neuen Forums Veröffentlichungen ermöglichen sollte. In Michaelas Augen hieß das: Ungerechtigkeiten und Mißstände, wie den Fall Sluminski, publik zu machen, weil es ja sonst keiner tun würde.

Als mir die Chefdramaturgin den Auftrag erteilte, mehrere Kartons mit Textbüchern zum Henschel Verlag nach Berlin zu bringen, willigte ich vor allem deshalb ein, weil ich mir Sorgen um Vera machte. Ich ahnte, was die Maueröffnung für sie bedeutete. Ihre kleinen und großen Lügen würden nun platzen.337

Als ich Robert einlud mitzukommen, umarmte er mich zum ersten Mal. Nun wollte auch Michaela nach Berlin.

Zuvor jedoch sollte meine Selbstbeherrschung auf die Probe gestellt werden.

Im November brauchte man noch einen Stempel, um über die Grenze zu kommen. Robert begleitete mich zu einer provisorischen Polizeistelle, die in dem Flachbau hinter der Kaufhalle eingerichtet worden war (Michaela hatte es abgelehnt, vor diesen Leuten je wieder als Bittstellerin zu erscheinen).

Da alles tot aussah, hatte ich die Tür für verschlossen gehalten und nur an ihr rütteln wollen, sie dabei aber aufgerissen. Es roch nach Mittagessen. Der Raum, den wir durch eine Flügeltür betraten, war dunkel wie eine Kirche. Nur in der Mitte, über den zusammengeschobenen Schreibtischen, hing eine Lampe, unter der sich die Uniformierten nach vorn beugten, als wollten sie ihre Gesichter verbergen. Tresen und Küchentür waren mit übereinandergestellten Tischen und Stühlen verbarrikadiert.

Ich lief einen Halbkreis, weil mir nicht klar war, von welcher Seite ich mich ihnen nähern sollte. Immer hatte ich einen Rücken vor mir, sah in eine Schublade mit Stempeln, Schlüsselbund und Petschaft. Neben einer Aktentasche glänzte eine metallene Brotkapsel, im Papierkorb lagen zwei Apfelgriebse. Im nächsten Augenblick fürchtete ich, in einen Hinterhalt geraten zu sein. Blond erkannte mich nicht oder tat wenigstens so. Er hob den Arm, seine Hand öffnete sich, ich reichte ihm die Ausweise.

Es war, als erinnerte ich mich an einen Traum. In diesem Moment sahen die beiden anderen Uniformierten von ihrem Blatt auf, und im Schein der Lampe stellte ich fest, daß es sich um Schwarz und den Dicken handelte. Das Trio, zu dem ich mich am 4. November ins Auto gesetzt hatte, war also komplett.

Ich dachte nicht ernsthaft an Flucht. Ich sah nur zur Tür, als müßte dort jemand stehen, der uns den Rückweg versperrt. Ich rief Robert heran.

«Sind Sie schon drüben gewesen?«fragte ich und sah Blond dabei zu, wie er das in meinen Ausweis geklebte Leporello338 bis zur letzten Seite durchsah, als interessierte ihn jeder einzelne Stempel der Grenzkontrollen. Blond stempelte dann seinerseits und faltete alles wieder zusammen. Robert sagte später, ich hätte bezahlt und sogar eine Quittung erhalten, aber daran erinnere ich mich nicht. Mit derselben Geste, mit der er die Ausweise in Empfang genommen hatte, gab Blond sie zurück. Meinen Dank überhörte er wie zuvor meine Frage. Ich ging in Richtung Ausgang. Robert hielt sich neben mir.339

Tags darauf lieferten wir die Textbücher in Berlin ab und aßen in der Nähe des Henschel Verlags zu Mittag. Wir waren unsere alte Strecke gefahren, also nicht, wie ich es mir vorgestellt hatte, nach dem dreispurigen Asphaltstück bei Michendorf in Richtung Westberlin abgezweigt. Berlin, ich meine der Osten der Stadt, war nichts weiter als ein Vorraum, in dem man wartete, bis man hinüber in den großen Saal ging. Ich wunderte mich, warum die Kellnerin und der Mann am Tresen weiter hier im Osten arbeiteten, als stünde die Mauer noch. Nachdem wir gegessen und getrunken hatten, fuhren wir auf der Friedrichstraße dem Checkpoint Charlie entgegen, wie Robert es sich gewünscht hatte. Als wir auf die Kontrolle warteten — vor uns standen nur wenige Autos —, begriff ich zum ersten Mal den Sinn des Wortes» checkpoint«. Tscheckpeuntscharlie waren nur Laute gewesen, ein Klang, die Kaugummiblase, die im Augenblick der größten Stille, wenn das Glockenspiel vom Spasski-Turm340 erklang, vor dem Mund zerplatzte. Ich fragte Robert, ob er wisse, was» checkpoint «bedeute. Er wußte es. Michaela sagte, ich solle nicht den Oberlehrer geben. Ausweis, Blick, Ausweis, danke, ab. Kein Blättern nach dem Stempel, nichts. Michaela glaubte, die eigentliche Kontrolle stehe uns noch bevor. Ich bog nach rechts ab. Ich hatte keine Ahnung, wie ich fahren sollte. Wir wollten nach Westberlin, und jetzt waren wir in Westberlin. Verstehen Sie? Westberlin hieß ankommen, im Westen sein, nicht herumirren.

Nach einer Stunde strandeten wir am unteren Ende des Kurfürstendamms, wo ich eine Parklücke fand und wir in einer Bank unser Begrüßungsgeld abholten. Dann liefen wir auf dem Ku’-damm herum, verloren in den Nebenstraßen die Orientierung und landeten auf einer anderen großen Straße mit vielen Geschäften. Dort betraten wir unter Michaelas Führung einen Buchladen, in dem mehrere Stapel eines Romans341 von Umberto Eco vom Fußboden emporwuchsen. Lachen mußte ich, als ich vor einem Supermarkt diese überdimensionierten Einkaufskörbe auf Rädern sah.342 Prompt weckten sie in mir die Lust, einen Vorrat zu erhamstern, um dann tagelang das Haus nicht mehr verlassen zu müssen.

Später fanden wir uns in einem Kaufhaus wieder, in dem es viel zu warm war und wir, unsere Sachen überm Arm, von Etage zu Etage liefen, als suchten wir etwas Bestimmtes. Wir trennten uns für eine Dreiviertelstunde, als Michaela auf die Idee kam, einen Jugendweiheanzug für Robert zu kaufen. Sie händigte mir zwei Fünfzig-D-Mark-Scheine aus und schob Robert vor sich her zur Rolltreppe.

Ich sah ihnen nach, ich hatte keine Lust, eine Dreiviertelstunde allein zu bleiben. Ich dachte: Du bist frei, so frei wie nie zuvor in deinem Leben.343 Mitten in Westberlin konnte ich tun und lassen, was mir beliebte.

Am interessantesten fand ich die Haushaltswaren, die Kaffeemaschinen, Töpfe, Bestecke und Korkenzieher, aber es gab auch Utensilien, deren Bestimmung ich gern erfragt hätte. Ich wollte mir unbedingt etwas kaufen. Etwas für mich allein. Plötzlich hatte ich die fixe Idee, das Geld wäre verloren, wenn ich es nicht sofort ausgäbe. Jedenfalls suchte ich händeringend nach dem idealen Objekt. Glaubte ich, mich entschieden zu haben, verlor ich bereits im nächsten Moment das Zutrauen. Mal sollte es eine chinesische Teekanne sein, mal eine Windjacke. Mit einem Walkman stand ich bereits an der Kasse, als ich wie einer, der kein Deutsch spricht, gequält-bedauernd den Kopf schüttelte, den Walkman weglegte und floh. Wären Michaela und Robert pünktlich gewesen, hätte ich mit leeren Händen dagestanden. Dann aber, angelockt von einer Menschentraube, begann ich wie die anderen einen quadratischen Kasten voller Handschuhe zu durchsuchen. Ob groß oder klein, alle kosteten dasselbe. Zuerst versuchte ich, in möglichst unberührte Regionen vorzudringen, und fischte auf dem Boden, förderte aber nur Plunder zutage, Kinderhandschuhe oder einzelne Exemplare, von denen mir einer aus schwarzem Leder wie angegossen paßte. Ich behielt ihn an und suchte nach dem zweiten, doch vergeblich. Schließlich überwand ich meinen Widerwillen und zog auch jene in Betracht, die gerade von anderen zurückgeworfen worden waren. Das Anprobieren bereitete Schwierigkeiten, weil die Handschuhe paarweise auf Höhe der Handgelenke aneinandergenäht waren. War das Kunststück vollbracht, hatte man sich selbst gefesselt. Ich entschied mich für ein dunkelblaues Paar mit rotgrünkariertem Futter und lief, wie in Handschellen geschlagen, zur Kasse.

«Ich denk, du magst keine Handschuhe«, sagte Michaela.»Weil ich keine hatte«, sagte ich. Robert trug eine Plastetüte, die so geschickt geschnitten war, daß es nicht hineinregnen konnte. Michaela eröffnete mir, nur noch eine D-Mark zu besitzen, dafür aber seien wir die Sorge um Roberts Jugendweiheanzug los.

An einem Imbißwagen spendierte ich uns Currywurst. Das verbesserte die Stimmung.

Danach wählte ich Veras Nummer. Zum ersten Mal benutzte ich ein Tastentelephon und fühlte mich wie in einem Film. Ich stieß die Zellentür wieder auf und fragte, wo wir hier überhaupt seien. Michaela lief los, ein Straßenschild zu suchen.

Veras Telephon hatte einen Anrufbeantworter, darauf klang sie so steif, als würde sie ausschließlich von wildfremden Leuten angerufen. Ich war überzeugt, sie werde den Hörer abnehmen, sobald sie meine Stimme erkannte. Ich sagte ein paarmal» Hallo!«und daß wir gern einen Kaffee bei ihr trinken würden. Ich rief im Laden an, der Mann auf dem Anrufbeantworter, wahrscheinlich Nicola, sagte auf deutsch, daß man Nachrichten nach dem Signalton hinterlassen könne, danach hörte ich vermutlich das gleiche auf arabisch und französisch.

Von der Frau im Imbißwagen ließen wir uns den Weg in den Wedding erklären.

Als wir die Malplaquetstraße gefunden hatten, war es bereits dunkel. Zuerst übersah ich Veras Schild auf dem Klingelbrett, weil Türmer hinter Barakat stand.

«Sie wohnen im Hinterhaus«, sagte Michaela, eine Tatsache, die auch mich enttäuschte. Als ich Schritte hinter der Haustür hörte, glaubte ich, es sei Vera. Die kleine Frau, von der man nur das Gesicht sah, würdigte uns keines Blickes und entfernte sich in ihrem knöchellangen Gewand wie eine Aufziehpuppe. Der etwas heruntergekommene Hausflur war vollgestellt mit Kinderwagen und Fahrrädern, die Hoftür besprüht, die Beleuchtung schwach.

Wir mußten in den vierten Stock. Es war niemand da, aber für mich war es schon etwas Besonderes, ihre Tür und ihren Abtreter zu sehen.

Auf die Rückseite von Roberts Anzugrechnung schrieb ich: Viele Grüße, Deine Altenburger. Ich faltete die Rechnung zusammen und steckte sie in den Türspalt.

Michaela fragte, ob ich Robert und sie zu» Batman «einladen würde.

Vor einem Kino in der Nähe des Bahnhofs Zoo setzte ich die beiden ab und machte mich auf die Suche nach einem Parkplatz. Während dieser endlosen Odyssee verlor ich mehrmals die Orientierung. An dem Film lag mir nichts, den Anfang zu verpassen versetzte mich jedoch in Panik, ich fürchtete, die beiden würden auf mich warten. Jede Parklücke erwies sich als zu klein. Ich konnte von Glück reden, daß nichts passierte, denn ich überfuhr bei Rot einen Fußgängerüberweg. Schließlich war ich gerade zur Stelle, als jemand abfuhr. Ich parkte mit einem Hinterrad auf dem Fußweg. Die kalte Luft tat gut. Das Benzin roch in Westberlin tatsächlich wie herbes Parfüm.

Die Frau an der Kasse sagte zu meiner Überraschung, ich käme gerade rechtzeitig.

Michaela und Robert saßen nahe am Eingang. Wegen der Sessel glaubte ich zuerst, wir hätten Logenplätze. Gleich darauf ging das Licht an, und Michaela lachte auf, weil ein Verkäufer neben uns erschien, der genau das Eis anbot, das wir eben in der Reklame gesehen hatten. Mir wollte es nicht in den Kopf, daß man in solchen Sesseln Eis essen durfte, noch dazu im Dunkeln. Eine einzige Kinokarte plus Eis, überschlug ich anhand des Restgeldes, kostete soviel wie meine Handschuhe.

Nach der Vorstellung war Robert vollkommen glücklich, und Michaela schien es auch zu sein. Auf dem Stadtplan, den Michaela von der Kassiererin geschenkt bekommen hatte, sahen wir, wie einfach es war, zur Autobahn zu kommen. Robert hatte seinen Kassettenrecorder angeworfen und gab uns, begleitet von Milli Vanilli und Tanita Tikaram, eine komplette Inhaltsangabe des Films, als hätten wir ihn nicht gesehen. Anschließend mußte jeder seine Lieblingsszenen aufzählen. Michaela dirigierte mich. Fünf Minuten später erreichten wir die Autobahn, dahinter leuchtete der Funkturm. Ich fädelte mich in den Verkehr ein. Nach ein paar hundert Metern wechselte ich auf die mittlere Spur.

Michaela rief, ich solle aufpassen und nicht so schnell fahren, das sei doch Wahnsinn.»Wie denn?«rief ich.»Was soll ich denn machen?!«Ich wollte bremsen, wagte es aber nicht! Neben uns, vor uns, hinter uns — wir rauschten mit ihnen dahin, so schnell wie nie zuvor im Leben, eine rasende Meute, und wir mittendrin. Ich versuchte den Sicherheitsabstand zu vergrößern, doch sofort schoß von der Nebenspur ein Auto hinein und verschlimmerte meine Not. Mir blieb keine Wahl, ich mußte so fahren wie die anderen. Da aber alle das Tempo hielten, konnte es nicht so gefährlich sein, jedenfalls nicht so sehr, wie wir fürchteten. Allmählich beruhigte ich mich.

Als der Abzweig zum Flughafen kam, war mir klar, wir fuhren nicht nach Süden, sondern nach Norden. Auch Michaela hatte den Irrtum bemerkt. Sie streckte die Beine aus und suchte nach einer bequemen Lage. Robert war verstummt und sah, die Ellbogen auf unseren Rückenlehnen, nach vorn.

Wir rasten also dahin, durch die weiten Kurven und die Tunnel — ein bißchen wie Achterbahn. Statt bis nach Hamburg zu fahren, folgte ich dem Schild, das die letzte Ausfahrt vor der Grenze anzeigte, und kehrte um. Jetzt hatten wir ein noch längeres Stück dieser Asphaltautobahn vor uns. Im Radio unterbrachen sie selten die Musik.

Während der Rückfahrt dachte ich fortwährend ans Meer, sah Schiffe über den Ozean fahren und zählte mir Hafenstädte auf: Hamburg, Hongkong, Valparaiso, New York, Helsinki, Vancouver, Genua, Barcelona, Leningrad, Istanbul, Melbourne, Alexandria, Odessa, Singapur, Auckland, Marseille, Rio de Janeiro, Kapstadt, Aden, Bombay, Rotterdam, Venedig. Ich sah Schiffe, Ozeanriesen, die an girlandengeschmückten Kaimauern anlegten. Der Radioempfang war schlechter und schlechter geworden, doch auf Mittelwelle hielt sich ein Sender: Musik und Worte klangen gleichermaßen zauberhaft und fern, ich sah Terrassen über der Stadt mit Ausflugsgästen und Lampions und Feuerwerk. Ich fuhr bereits in einer unbekannten Weltgegend. Wie Jim, der Sklave aus Huckleberry Finns Abenteuern, glaubt, in der Ferne die Lichter von Kairo und den Pyramiden zu erblicken, so hätte ich mich nicht gewundert, wenn plötzlich ein Hinweisschild nach St. Louis oder New Orleans erschienen wäre.344

Ich weiß nicht mehr, was ich sah, als ich den Wagen durch Leipzig steuerte. Das erste, woran ich mich wieder erinnere, ist Michaelas Handbewegung, die vom Lichtschalter im Flur direkt zu meiner Stirn führte.»Du hast ja Fieber!«sagte sie und präsentierte mir den Schweiß an ihren Fingerkuppen.

«Ich bin krank«, antwortete ich.

«Schrei doch nicht!«sagte sie.

«Ich bin krank!«wiederholte ich und flüsterte es gleich darauf noch einmal, als dürfte ich es nicht vergessen.

«Ich bin krank «war genau jene Formel, nach der ich in den letzten Wochen vergeblich gesucht hatte. Eilig wusch ich mir Gesicht und Hände, zog mich aus und legte mich ins Bett, um endlich all die Schiffe und Städte ausgiebig und ungestört bewundern zu können.

Als ich am nächsten Tag erwachte, war ich allein in der Wohnung. Ich hatte das Gefühl, Stunden zu brauchen, bis ich genug Willenskraft gesammelt hatte, um die Liege in meinem Zimmer mit einem Leintuch zu beziehen sowie Kopfkissen und Decke aus dem Schlafzimmer hinüberzutragen. Ich wußte, daß dies für lange Zeit meine letzte Arbeit gewesen sein würde, und schloß die Augen.

Damit ist eigentlich alles gesagt. Denn meinen Zustand zu beschreiben ist unmöglich. Worte reichen nicht an ihn heran.

Liebe Nicoletta, jetzt, im nachhinein, schreibe ich Ihnen von sicheren Gestaden. Wer seine eigenen Abenteuer erzählen kann, ist nicht dabei umgekommen, eine Gewißheit, die eigentlich alles auf den Kopf stellt. Außerdem bleibt die Logik des Traums dem wachen Auge verborgen, so wie Sonnenlicht den Film löscht.

Wenn mir die notwendige sensibilità für die Welt abhanden gekommen war — Signore Raffalt345 findet in Lektion 14 keine deutsche Entsprechung dafür, um sie jedoch einen Satz später kühn mit» Resonanzfähigkeit «zu übersetzen —, so nicht, weil ich taub, stumpf oder apathisch geworden wäre, sondern einfach, weil mein Ich zerbrochen war. Mich gab es nicht mehr.

Verstehen Sie mich, Nicoletta? Alles, was mich seit meinem ersten Arkadiensommer ausgemacht hatte, was mich interessiert, was mich wach und am Leben gehalten hatte, war in den letzten Wochen und Monaten gegenstandslos geworden.

Die unermeßliche Leere, die an meiner Statt existierte, entsprach ganz der endlosen, gewaltigen Zeit, in der sie schwebte. Ich staunte, welche Unendlichkeit ein Tag in sich barg. Nein, so einfach war es nicht. Ich lag im Bett, stand nur auf, wenn ich aufs Klo mußte, und trank von dem Tee, den mir Michaela morgens und abends ans Bett stellte. Ich schlief ein und erwachte, schlief ein und erwachte und wunderte mich, wo Robert blieb, warum er nicht aus der Schule kam. Doch nicht nur er, auch Michaela verspätete sich mehr und mehr. Je länger ich wartete, um so wahrscheinlicher, ja unausweichlicher schien irgendein Zwischenfall zu sein, vielleicht sogar ein Unfall. Als ich mich endlich entschlossen hatte, meine Armbanduhr vom Schreibtisch zu holen, war sie auf halb zehn stehengeblieben. Durch meine Berührung kam sie wieder in Gang. Später, draußen war es immer noch hell, schaffte ich es bis in die Küche. Die Uhr über der Tür zeigte zwanzig vor elf, genau wie meine Armbanduhr! Ich lag im Bett und staunte, was aus Minute und Stunde geworden war, zu welchen Monstern sie sich entwickelt hatten. Mit Hohn dachte ich daran, was ich nun alles an einem Vormittag hätte bewältigen können. Mühelos hätte ich eine Geschichte pro Tag geschrieben, nebenbei den Haushalt erledigt, ferngesehen, gelesen. Nun, da mich all das nichts mehr anging, konnte ich gottgleich über die Zeit verfügen. Nicht mal elf! Stellen Sie sich vor, Sie haben einen langen Traum, einen sehr langen Traum, einen, der andere Träume fortführt. Beim Erwachen glauben Sie, der Wecker werde gleich klingeln, dabei sind keine zehn Minuten vergangen, und im gegenüberliegenden Haus brennt überall noch Licht.

Ich zählte die Sekunden, die ich für einen Atemzug brauchte, um wieder ein Gefühl dafür zu bekommen, was eine Minute, was fünf Minuten bedeuteten. Sobald ich die Uhr aus der Hand legte, war ich überzeugt, jeden Tauchrekord brechen zu können. Noch schlimmer mißlang jenes Experiment, das mich schon als Kind beschäftigt und von dem ich mir eine Beschleunigung der Zeit erhofft hatte: Mit der Lupe — Robert besitzt eine für seine Briefmarken — beobachtete ich den Minutenzeiger. Ja, ich sah die Bewegung, aber es nützte nichts.

Irgendwann besuchte mich ein Schmerz. Ich muß es wirklich so sagen, der Zahnschmerz erschien als Gast in meiner Leere. Dafür war ich dankbar. Mit geschlossenen Augen versuchte ich herauszufinden, wo er sich niederlassen würde, denn anfangs irrlichterte er umher, tauchte mal oben auf, mal unten, mal rechts, mal links. Dann hatte er seinen Platz gefunden: unten links. Damit Sie mich verstehen, muß ich es wohl so ausdrücken: Ich klammerte mich an diesen Schmerz. Doch eigentlich müßte es heißen: Ich war der Schmerz. Außer ihm gab es nichts. Und so war es natürlich, daß ich versuchte, ihn zu hegen. Ich beobachtete ihn unaufhörlich wie ein Kind seinen Hamster am ersten Tag und überließ mich ganz der jedes Maß übersteigenden Zeit. Je größer der Schmerz, desto kleiner die Leere. Erst wenn er ganz von mir Besitz ergriffen haben würde, wollte ich — als Krönung der Tortur — zum Zahnarzt gehen. Ich verlor mich regelrecht in den Details einer qualvollen Zahnbehandlung.

Wie einer, der fürchtet, im Schlaf bestohlen worden zu sein, und hastig seine Taschen abklopft, forschte ich beim Erwachen nach meinem Schmerz. Und war jedesmal erleichtert, ihn an seinem Platz zu finden. Und nicht nur das, er breitete sich aus, kroch und pockerte346 den Kiefer entlang und stieß bis in den Hinterkopf vor. Er war eine Art Unterpfand für mich, die einzig verläßliche Größe.

Ich verwahrloste. Der Geruch, den ich, hob ich die Decke, an mir feststellen konnte, die langen Fingernägel, die Verpelzung der Zähne — ich nahm all das zur Kenntnis wie einen Defekt meiner Umgebung, wie eine kaputte Glühbirne, für die kein Ersatz im Haus ist. Als meine Bartstoppeln so lang waren, daß sie aufhörten zu piken, vergaß ich meinen Körper ganz. Das lag natürlich auch an meiner Müdigkeit, eine fortwährende Müdigkeit, in der Traum und Wachen oft ununterscheidbar blieben. In der Betrachtung ferner Städte und Schiffe fuhr ich fort. Es war bedeutungslos, ob ich dabei die Augen offenhielt oder schloß, es blieben dieselben Orte, in denen ich umherirrte, ohne selbst zu erscheinen.

Für Michaela und Robert sah es aus, als schliefe ich ununterbrochen. Wenn Michaela mir morgens Tee ans Bett brachte, legte sie die Hand auf meine Stirn. Sie gab sich Mühe, kochte mir Milchreis und bat Tante Trockel, Apfelmus für mich zu machen. Ich wollte das alles nicht, ich wollte nur Ruhe, ließ es aber über mich ergehen, als sei das mein Dank dafür, daß Michaela mir die Krankschreibung von Dr. Weiß zuerst für eine, dann für eine zweite Woche besorgt hatte.

Nach Ablauf der Frist quälte ich mich selbst in die Poliklinik. Es war Nikolaus, der 6. Dezember, ausgerechnet jener Tag, an dem Michaela und Jörg und ein paar andere die Villa der Staatssicherheit besetzt hatten, mittags ein Flugblatt druckten, es verteilten und Punkt 18 Uhr am Theater ihre Demonstration begannen. Michaela schien nun endgültig jene Energie, die mir fehlte, hinzugewonnen zu haben. In der halben Stunde, die sie nachmittags zu Hause war, hatte sie, meine Abwesenheit ausnutzend, die Bettwäsche in die Maschine gesteckt, es jedoch nicht mehr geschafft, die Liege frisch zu beziehen. Als ich mit einer erneuten Krankschreibung, diesmal gleich für zwei Wochen, zurückkehrte, fand ich mein Krankenlager aufgelöst, was mich wie ein Rauswurf traf. Ich verzichtete auf ein neues Laken, wühlte statt dessen meinen alten Daunenschlafsack aus dem Schrank, entrollte ihn auf der Liege, kroch in Unterwäsche hinein und zog mir die Kapuze über den Kopf.

Michaela war an diesem Abend außer sich. Ich konnte mich nicht erinnern, daß sie je mein Zimmer betreten hatte, ohne anzuklopfen. Sie stand plötzlich vor mir, ich hörte ihren Schlüsselbund und ihre Stimme, noch bevor ich die Augen geöffnet hatte. Sie redete nicht nur schnell. Jeder Satz erforderte drei oder vier weitere Sätze zu seiner Erklärung, die wiederum andere Sätze nach sich zogen, weshalb sie kaum zum Luftholen und Schlucken kam und immer hastiger sprach. Die eigentliche Zumutung bestand aber in der Erwartung, ich würde aufstehen, mich anziehen und mit ihr zur Demonstration zurückkehren.

Selbst wenn ich nicht krank gewesen wäre, hätte sie doch wissen müssen, wie wenig mich das alles anging, ja wie gleichgültig es mir war, ob an der Spitze eines Demonstrationszuges» Deutschland einig Vaterland «und» Wir sind ein Volk «skandiert wurde und ob irgendein Jörg oder Hans-Jürgen einen oder keinen Versuch unternommen hatte,»das zu unterbinden«.

Mit jedem Satz begriff ich von neuem, wie unfähig ich war, an diesem Leben teilzunehmen, wie sinnlos sich jede Anstrengung ausnahm.

Die Antwort auf Michaelas Frage, was denn der Arzt gesagt habe, fachte ihren Zorn von neuem an. Irgendwann verglich sie mich mit einer Raupe, einer fetten Raupe, was angesichts des Schlafsacks nicht sonderlich originell war. Das verstand ich als Ankündigung, sich fortan nicht mehr um mich zu kümmern. Ärgerlich war der darin versteckte Vorwurf, ich sei ein Simulant. Wie richtig ich die Situation eingeschätzt hatte, zeigte sich bereits am nächsten Tag, als Robert mich bat, ihm bei den Hausaufgaben zu helfen. Besonders setzten mir seine Bitten zu, ihn hierhin oder dorthin zu fahren. Was Michaela früher meist aus pädagogischen Gründen verboten hatte, schien sie nun regelrecht anzuregen. Ja sie selbst quälte mich in den nächsten Tagen mit Wünschen, als hätte sie meinen Zustand vergessen.

Das Zusammenleben mit den beiden wurde mehr und mehr zur Tortur. Eine Rückkehr ins Theater schloß ich aus. Vera war abgetaucht, von Geronimo trafen beinah täglich weitschweifige Episteln ein, die ich schließlich nicht mal mehr öffnete. Von dem Unglück, mit dem meine Mutter kämpfte, wußte ich damals noch nichts. Sie stellte die völlig unsinnige Behauptung auf, Vera sei schuld an meinem Zusammenbruch. Michaela wiederum nahm stundenweise das Leid der Welt auf ihre Schultern und fühlte sich für meine Verwahrlosung verantwortlich, bis ihr wieder der Geduldsfaden riß. Hartnäckig verteidigte ich meinen Schlafsack gegen sie, ließ jedoch zu, daß sie die Liege mit einem Laken bezog.

Wie gesagt, mein damaliger Zustand ist mir heute selbst fremd. Ich berichte davon wie einer, der Gehörtes eher schlecht als recht wiederholt.

Dann geschah es. Es geschah einfach. Haben Sie schon mal Küchenabfälle in einer Papiertüte gesammelt? Und wenn man die Tüte am nächsten Tag in die Hand nimmt, sackt der ganze Mist durch. Plötzlich war das Entsetzen da.

Aber was sagt dieses Wort schon!347 Ich hatte plötzlich begriffen, was mir widerfahren war und wie es um mich stand.

Ach, Nicoletta! Das vollkommene Verschwinden des Herrn Türmer ist schwer faßbar. Sie können es natürlich auch den Verlust des Schreibens nennen oder, um genauer zu sein, den Verlust des Westens, den Verlust unseres Jenseits, den Tod der gütigen Götter … Damit hätte sich, wenn Sie sich erinnern, der Kreis meiner Betrachtungen eigentlich geschlossen.

Andererseits haben meine Schilderungen, wie ich hoffe, vielleicht erst die Voraussetzungen dafür geschaffen, das Folgende zu verstehen.

Doch davon nicht mehr heute.

Ihr

Enrico Türmer

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