Montag, 29. 1. 90


Verotschka,

ich soll Dich von Mamus grüßen. Alle Deine Karten stehen auf dem Küchenbuffet. Sie grollt uns beiden ein bißchen, weil doch die eigenen Kinder nicht lügen sollen.28 Ich habe ihr Deine Adresse aufgeschrieben. Sie fragte, wie lange Du bleibst und ob es nicht zu gefährlich ist und ob sich Nicolas Mutter wieder besser fühlt.

Am Wochenende soll es nach Paris gehen. Mamus fühlt sich wie die persönliche Abgesandte des Glücks. Sie hat ihr Konto geplündert, will es nicht zugeben, kokettiert jedoch damit.

Obwohl wir, ich hatte Robert mitgenommen, erst gestern in Dresden gewesen sind, geistern die Stunden irgendwie ortlos durch meine Erinnerung, als hätte ich nur davon geträumt. Mamus hatte Käsekuchen gebacken. Aber die Wohnung war kalt und so aufgeräumt, daß sie beinahe unbenutzt wirkte.

Erst in ihren vier Wänden merkt man, wie sehr sich Mamus verändert hat. Ich war froh über jede Geste, die ich kannte, wie sie den Herd anmacht und in die Knie geht, um die Flamme zu überprüfen, wie sie auf der Schwelle der Speisekammer stehenbleibt, als wäre es einfacher, sich zu strecken, als einen weiteren Schritt zu machen, ihr auf dem Absatz gedrehter Fuß, mit dem sie die Tür des Kühlschranks schließt, wie sie die Kaffeetasse zwischen beiden Händen hält, die Ellbogen auf dem Tisch. In einem Tonfall, als biete sie mir Kondensmilch an, fragte sie, ob wir auch die» Allianz für Deutschland«29 wählen würden. Plötzlich macht Mamus überall den Untertanengeist aus und entdeckt den» grenzenlosen Opportunismus «ihrer Kolleginnen. Ich fragte sie, warum sie dann nie an Ausreise gedacht habe. Ich hätte das doch nicht gewollt, erwiderte sie, ohne mich anzusehen.

Die Situation in der Klinik ist unverändert. Wenn sie Pech hat und gemeinsam mit ihren» Peinigerinnen«— und zu denen zählen wohl die meisten OP-Schwestern — zum Dienst eingeteilt ist, spricht sie manchmal den ganzen Tag nicht.

Für Robert ist Mamus zur zweiten Großmutter geworden, was ihr sichtlich guttut. Auch ich fühle mich jedesmal von neuem ausgezeichnet, wenn Robert mich begleitet. Allerdings fürchte ich immer, ihn zu langweilen. Dieses Mal hätte ich vielleicht ohne ihn fahren sollen, aber allein hätte es so etwas Bedeutungsvolles bekommen, als drängte ich auf eine Aussprache. Gelegenheit dazu hätte es sowieso kaum gegeben, denn ständig klingelte jemand an der Wohnungstür. Vielleicht ist ja Mamus’ Wandlung eher die Regel. Allerorten scheint man sich gerade zu entpuppen. Wußtest Du, daß Herr Rothe seit jeher ein Fan von Franz Josef Strauß gewesen ist? Frau Schubert klärte mich über die Nachteile auf, die ich in der Schule gehabt hätte, und die beiden Graupner-Schwestern sprachen von Dänemark, wo eine Cousine von ihnen lebt, der sie jetzt endlich schreiben könnten. Als ich sie überrascht fragte, warum sie ihrer Cousine denn nicht schon früher geschrieben hätten, wies man mich mit» falsch, ganz falsch «zurecht, und dann deklamierte Tilda Graupner stolz den Satz:»Als Hauptbuchhalterin durfte ich keine Westkontakte haben!«Du bist der Star des Hauses. Du hättest mit Deiner Ausreise als erste die richtige Entscheidung getroffen! Und ein Schimmer Deiner Gloriole fällt auch auf Deinen Bruder. Die Schaffners verlassen angeblich nur im Dunkeln ihre Wohnung, jedenfalls ist sich die revolutionäre (oder reaktionäre?) Hausgemeinschaft einig, diese Stasispitzel nicht mehr zu grüßen.

Robert wollte wieder Photos sehen. Mir ist nie aufgefallen, daß die Alben nur bis zu Vaters Tod reichen.30 Aus dem Schrank kommt noch derselbe Stopfpilzgeruch.

Plötzlich griff Mamus nach einem Photo, betrachtete es über die Brille hinweg — ein schönes junges Paar — und rief:»Was machen denn die hier!«Sie zerfetzte das Photo mehrmals wie einen Scheck, auf dem sie sich verschrieben hat.»Da warst du noch nicht mal geboren!«beschied mich Mamus.»Wildfremde Leute!«Die Schnipsel behielt sie in der Hand und gab weiter Erklärungen zu den Photos, die Robert ihr hinhielt. Zwei Photos von Dir habe ich heimlich eingesteckt. Manchmal fürchte ich, das Getrenntsein nicht länger zu ertragen. Wenn ich nur Deine Pläne erriete!

Zum Abendbrot waren wir bei Johann. Seine Episteln werden kürzer. Ich hatte hier noch ein Dutzend davon liegen und mußte sie notgedrungen vor der Fahrt lesen. Bei der Lektüre dachte ich, daß er vielleicht Material für einen Roman über eine Kirchengemeinde sammelt. Seit er Franziska die Sache mit mir gestanden hat31, verhält er sich mir gegenüber ziemlich rüde, besonders in ihrer Gegenwart. Kaum daß er sich traute, mir die Hand zu reichen. Er müsse» noch schnell etwas beenden«, rief er und verschwand. Also warteten Robert und ich in der Küche, halfen Franziska beim Tischdecken und sahen aus dem Fenster auf die Stadt. Franziskas ganze Anmut ist in den letzten zwei Jahren verflogen. Sie spricht ganz offen über ihre Trinkerei und daß sie jetzt eigentlich damit aufhören müsse. Wenn man sie reden hört, könnte man meinen, sie habe einfach keine Zeit, eine Entziehungskur zu machen. Johann hat mir mal vor ein paar Jahren anvertraut, daß er manchmal Streit provoziere, weil er diese Spannung brauche, um produktiv werden zu können. Daran muß ich jetzt denken, wenn ich Franziska so sehe.

Sie kennt meine Briefe, weil Johann sie ihr vorliest, als Beweis, daß zwischen ihm und mir» nichts mehr läuft.«

Gesine wird bald fünf. Auf den ersten Blick scheint sie von der ganzen Misere unberührt zu sein. Sie erkor Robert zu ihrem Ritter, führte ihn durch die Wohnung und spielte ihm auf dem Klavier vor. Für sie war die Tatsache neu, daß es auch Menschen gibt, die kein Instrument beherrschen.

Auf Johann warten nach Ende des Vikariats drei Gemeinden im Erzgebirge, nicht weit von Annaberg-Buchholz. Franziska und er sind schon dort gewesen, das Haus ist groß und hat einen riesigen Obstgarten. Vor einem Jahr, sagte Franziska, wäre es gar nicht so weit gekommen, da hätte sich Johann schon irgendeine Arbeit gesucht, bei der ihm genügend Zeit für sein Schreiben und die Band geblieben wäre. Franziska will um keinen Preis Dresden verlassen, jedenfalls nicht in Richtung Annaberg. Und dann kam der Hammer! Sie war überzeugt, ich wisse bereits, daß Johann bei den Kommunalwahlen kandidieren will! Vor drei Wochen hat er mir noch vorgeworfen, ich würde die Kunst verraten.

Als ich ihn später danach fragte, druckste er herum. Er habe es mir sagen und nicht schreiben wollen. Er habe sowieso keine Chance, er tue es aus Verantwortung, man habe ihn gedrängt, jetzt lasse sich vielleicht etwas bewegen. Er klang wie jemand, der gerade» Kandidat der Partei«32 geworden war. Ich sagte, daß er kein schlechtes Gewissen haben oder sich rechtfertigen müsse und daß ich seine Entscheidung richtig fände.

Ein bißchen zu beiläufig erwähnte er noch, ein Buch über die Dresdner Ereignisse im letzten Oktober herausgeben zu wollen.33 Jo grollt seinem Schicksal, weil es ihm verwehrt geblieben ist, inhaftiert, verhört und geschlagen worden zu sein. Glaub mir nur, ich kenne ihn!

Von Jo kam keine Frage. Seine Zurückhaltung, um nicht zu sagen Kälte, lähmte mich. Ohne Franziska, die uns ständig etwas anbot, Tee nachschenkte und sich um Robert bemühte, wäre es wie ein Rauswurf gewesen.

Als ich von Dir erzählte, taute er langsam auf, um mich plötzlich mit einer Herzlichkeit anzulachen, die mich hilfloser machte als sein Schweigen. Er sprang auf und schenkte mir ein Buch, das er antiquarisch ein zweites Mal bekommen habe — die Erstausgabe von Eislers» Faustus«34 —, sagte, daß wir uns unbedingt öfter treffen müßten, gerade jetzt. Am Ende blieben sowieso nur wenige Freunde übrig. Absurderweise bestand er darauf, uns Schnitten für die Fahrt zu schmieren, es könnte ja einen Stau geben. Robert und ich zeigten dann abwechselnd auf das, was wir wollten, und sahen beim Verfertigen unserer Klappstullen zu. Wie ein Maurer, der etwas verputzt, verteilte Jo die Butter bis an den äußersten Rand, strich auch danach noch mehrmals hin und her, wie um sicherzugehen, daß tatsächlich alles ausgeschmiert sei. Dann sah er auf, als wollte er sagen: Das mache ich nur für dich.

Sei umarmt von Deinem Heinrich

PS: Ich sitze am» grünen Ungeheuer «und spüre Zugluft im Rükken. Ich denke, Jörg oder Georg ist hereingekommen. Ich drehe mich um — und muß niesen.»Gesundheit«, sagt eine Frauenstimme. Die Tür ist geschlossen. Zweimal niese ich noch, und jedesmal wünscht mir die Frauenstimme mit demselben Gleichmut» Gesundheit!«—»Wer sind Sie?«frage ich und trete näher. Sie kauert am Ofen und massiert sich die Zehen. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht und entspannt kurz ihre Züge. Dann zieht sie zischelnd die Luft durch den Mund ein und atmet hörbar durch die Nase wieder aus. An den Fersen haben ihre Strümpfe Löcher.»Schau weg«, sagt sie.»Ich dachte«, fährt sie fort und preßt für einen Moment die Lippen zusammen,»ich dachte, du hättest mich hereingebeten? Ich hatte geklopft. «Mit dem Rükken an den Ofenkacheln schiebt sie sich langsam hoch. Sie versucht, in ihre Schuhe zu fahren.»Au! Au!«jammert sie.»Es tut so weh!«

«Um Himmels willen!«rufe ich. Was ich für eine im Mundwinkel hängengebliebene Haarsträhne gehalten habe, erweist sich jetzt, da sie zur Decke sieht, als Narbe. Ich begreife, daß sie eine Adlige ist.

«Er wärmt nicht mehr«, sage ich entschuldigend und deute auf meinen Mantel neben der Tür. Ich ärgere mich, weil ich seit Tagen plane, ihn in die Reinigung zu bringen, um ihm seine alten Eigenschaften zurückzugeben.»Wollen Sie mich begleiten?«frage ich.»Wenn wir gleich loslaufen, schaffen wir es bis sechs in die Reinigung.«

«Wie soll ich das denn anstellen?!«ruft sie. Tränen ersticken ihre Stimme. Ob ich keine Augen im Kopf hätte, selbst einem Blinden müsse auffallen, wie wenig sie in der Lage sei, auch nur einen Schritt zu gehen!

«Darf ich Sie tragen?«frage ich, ohne die Erwartung in meiner Stimme unterdrücken zu können. Ihre Bluse hat sich unten geöffnet, und ich sehe von ihrem Bauch ein Dreieck, in dessen Mitte der Nabel ist, genau wie das Auge Gottes, denke ich. Ich freue mich über den Vergleich. Gerade aus Mißlichkeiten, sage ich, entstehen oft die schönsten Gelegenheiten. Da lacht sie auf. Unverhohlen wandern ihre Augen über mich. Offenbar reizt sie alles an mir zum Lachen, ich scheine es herauszufordern. Schließlich wird sie von einem Lachkrampf geschüttelt, dessen sie nicht mal Herr wird, als sie beide Hände vor den Mund hält. Sie ringt nach Luft, biegt sich vor Lachen, ihre an den Spitzen hellroten Haare fallen ihr übers Gesicht und verbergen es vollständig.

Ich saß schon auf der Bettkante und lauschte, so sicher war ich mir, das Lachen gehört zu haben. Es war vier! Mein Tag hatte begonnen.

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