Lieber Jo!
Jetzt auch noch Böhme! Das wird ja immer absurder. De facto hat also die Staatssicherheit die Oppositionsgruppen gegründet.118 Hier ist der CDU-Kandidat zurückgetreten, als es hieß, die Volkskammerabgeordneten würden überprüft.119
Die letzte Zeitung hat sich besser verkauft. Auf meinen Wahlkommentar gab es ein paar Reaktionen.120 In einem Leserbrief heißt es, das DDR-Volk habe sich vor der ganzen Welt blamiert. Am Schluß wünscht man uns höhnisch, in der von uns doch so bewunderten Marktwirtschaft nicht allzu schnell pleite zu gehen. Auch der Prophet erschien wieder. Plötzlich stand er in der Redaktion, sah von einem zum anderen, ohne unseren Gruß zu erwidern, reckte triumphierend sein Kinn vor, so daß sein Zuckerwattebart in den Raum ragte, und zerriß mit erhobenen Händen ein Papier, unser Abo-Formular, wie sich herausstellte. Die Schnipsel warf er in die Luft.»Das war’s«, sagte er und verließ uns schnellen Schrittes. Die Szene wirkt um so grotesker, da Fred uns versichert hat, der Name des Propheten tauche in den Abonnentenlisten gar nicht auf.
Wir haben jetzt vier Seiten mehr. Da ist es schon ein Erfolg, wenn wir bis ein Uhr morgens fertig werden.
Heute vormittag sah der Baron bei uns herein, um von seinen neuesten Entdeckungen zu berichten. Astrid, der Wolf, trottet immer gleich zum Wassernapf.
Wieder war von der Madonna die Rede. Angeblich weiß niemand, wie sie ins Pfarramt gekommen ist. Er hat schon einen Sachverständigen aus Hildesheim eingeladen, der Aufklärung schaffen soll.»Wollen wir sie den Schwarzen ausspannen?«fragte Barrista. Aus seiner Collegemappe zog er einen Bildband121, eingeschlagen in den gleichen abwaschbaren Schutzumschlag wie Roberts Schulatlas. Er las uns daraus vor. Sinngemäß heißt es dort, daß Altenburg mit den sienesischen und florentinischen Tafelbildern eine Sammlung besitze, in der man die Geburt der nachantiken abendländischen Kunst nachvollziehen könne. Ob ich seine Pläne erriete.
«Stellen Sie sich vor, der Erbprinz kommt, und die Madonna zieht im Triumph ins Museum!«
Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, warum das so wichtig sein soll.
Beim Sprechen beäugte Barrista die Schüssel voller Pfannkuchen, die Ilona genau auf der Mitte des Tisches plaziert hatte. Ich bat ihn zuzugreifen. Das tat er, und nicht zu knapp, und vergaß darüber die Madonna. Seine Lippen spitzten sich, er leckte am Zucker und riß den Mund weit auf. Mit jedem neuen Pfannkuchen, den Barrista verschlang, wurden Ilonas Augen größer. Sie kaute noch am ersten. Nachdem Barrista die Schüssel geleert hatte, seufzte er, streichelte gedankenverloren seinen Kugelbauch, rutschte auf dem Stuhl etwas tiefer und schleckte Finger für Finger seiner Rechten ab. Die herabhängende Linke überließ er dem Wolf zur Säuberung. Ilona kaute und kaute.
In unsere Idylle platzte ein älterer Herr. Er fragte nach Georg, er sei verabredet und pünktlich. Georg und Jörg waren zum Korrekturlesen in Leipzig. Ich hoffte, diese Auskunft würde genügen.»Nei-ei-ein«, meckerte er los, diesmal bestehe er darauf, mit einem Verantwortlichen zu sprechen, auch wenn hier wohl nur Leute Gehör fänden, die mit so einem schwarzen Ding da vorfahren könnten. Er meinte den LeBaron. Aber schon das Gähnen des Wolfes und der Anblick von Astrids blindem Auge reichten, ihn zu verunsichern.
«Pohlmann, Meuselwitz, Thüringen«, stellte der Herr sich vor, begrüßte erst mich, dann den Baron mit Handschlag, worauf Ilona, immer noch kauend, aufsprang und in die Küche lief.
Pohlmann war kein Heimatforscher, jedenfalls keiner mit den üblichen Kaiserphotos, wie ich befürchtet hatte. Als wir im Nebenraum allein waren, wirkte er ruhiger und freundlicher.
«Wissen Sie«, sagte er und nannte meinen Namen,»auf diesen Augenblick habe ich vierzig Jahre gewartet. «Obenauf lag ein vergrößertes Paßphoto.»Siegfried Flack«, sagte er,»am 27. März 1950 verhaftet, mein Deutschlehrer in der neunten Klasse. «Pohlmann nannte Namen von Lehrern und Schülern, die meisten von der Karl-Marx-Oberschule, die Flugblätter verteilt und ein großes F (für Freiheit) an Hauswände gemalt hatten, was sie alle das Leben gekostet hat, bis auf wenige, denen die Flucht in den Westen gelang. Einer der Köpfe der Gruppe, ein Pfarrerssohn, hatte mehrmals Flugblätter aus Westberlin eingeschmuggelt. Irgendwann haben sie ihn gegriffen. Seine Eltern erfuhren vom Roten Kreuz erst 1959, daß er bereits 1951 in Moskau in der Lubjanka» verstorben «war. Pohlmann sprach betont ruhig, und manchmal klangen seine Sätze wie auswendig gelernt. Als er mir den Hefter übergab, stand er auf:»Wir müssen das Schweigen brechen! Die Wahrheit muß endlich ans Licht!«Ich dachte, er verabschiede sich damit, und dankte ihm. Pohlmann jedoch setzte sich wieder und sah mich an. Ich blätterte in seinem Hefter. Jedesmal schreckte ich zurück, wenn seine Hand zwischen die Seiten fuhr. Wieder und wieder mußte ich zurückschlagen und eine neue Erklärung über mich ergehen lassen, obwohl die letzte längst nicht beendet war. Und dabei vernahm ich aus der Redaktionsstube den Singsang des Barons.
Was mir Pohlmann da anvertraute, waren Briefe und Gesprächsnotizen, minutiös datiert und mit Anmerkungen versehen. Ich hatte gefragt, was er damit vorhabe, und er hatte gerade» Publizieren!«gerufen, da platzte Ilona herein. Kreidebleich verharrte sie auf der Schwelle und starrte mich an, als wäre ich ein Gespenst.»Also hier bist du«, sagte sie matt und zog sich wieder zurück.
Schon häufig hat mich Ilona vor lästigen Gästen gerettet. Aber diesmal mußte wirklich etwas passiert sein. Auch Pohlmann war von ihrem Anblick verstört.
Ich bat ihn zu warten und ging hinüber in die Redaktionsstube. Der Baron lehnte am Tisch und wedelte mit einem Fächer aus Hundert-D-Mark-Scheinen.»Was Sie wissen müssen, steht hier«, sagte er und legte das Geld, als spielte er einen Grand ouvert, auf den Tisch. Der Wolf schüttelte sich, das Halsband klapperte.»Die haben keine Quittung verlangt«, sagte der Baron, zog mit dem Finger das rechte Unterlid herab und war verschwunden.
Es waren zwölf, zwölf D-Mark-Hunderter! Ich las nur» NEUERÖFFNUNG«, links und rechts davon hatte jemand ziemlich gekonnt zwei Hände mit ausgestreckten Zeigefingern gezeichnet.
Um Aufschluß über das Geschehen zu erhalten, betrat ich den kleinen Küchenverschlag. Ilona zuckte zusammen. Ich berührte ihre Schulter, sie sank auf den Schemel nieder.
Ich hockte mich neben sie. Der Ilonaduft, ein Gemisch aus Parfüm und Schweiß, der sich sonst erst mittags in der Redaktion breitmacht, stach mir in die Nase.
«Ich schäme mich so«, flüsterte sie.»Ich schäme mich so!«Erst als ich ihre kalten Hände zwischen meine nahm und die Fragerei seinließ, begann Ilona zu reden, allerdings so wirr, daß ich sie immer wieder unterbrechen mußte.
Sie habe geglaubt, allein in der Redaktion zu sein, abgesehen von Pohlmann und mir natürlich. Sie habe das Geschirr abgeräumt, die leere Pfannkuchenschüssel wieder gefüllt und sich an den Abwasch gemacht. Als es klopfte, habe sie öffnen wollen, doch zu ihrer Überraschung meine Stimme gehört — jedenfalls habe sie das geglaubt. Ich habe ihr leid getan, weil mal wieder ich es gewesen sei, der die Leute in Empfang habe nehmen müssen.
Dann aber, sie beteuerte, nie zu lauschen, habe sie ihre helle Freude daran gehabt, wie ich mit den beiden Westlern umgesprungen sei. Diese hätten sich schließlich als Geschäftsleute zu erkennen gegeben, die hier» ganz groß«in Sachen Video einsteigen wollten.
Sie habe sogar vor sich hin lachen müssen, weil es mir so gut gelungen sei, die hiesige Gier auf Videos zu beschreiben, auf besondere Videos eben, ich wisse ja, was darunter zu verstehen sei.
Meine Behauptung, für nächste Woche könne keine Werbung mehr angenommen werden, schon jetzt seien wir überbucht, ja, überbucht hätte ich gesagt, und seien zu unserem größten Bedauern — unter den derzeitigen Umständen — auch nicht in der Lage, von heute auf morgen die Seitenzahl zu erhöhen, diese Behauptung habe sie gewundert.
Der eine habe immer nur gefragt, wieviel es koste, was sie, Ilona, sofort kapiert habe, aber ich hätte mich dumm gestellt. Schließlich habe sie sich hinüber in die Redaktionsstube getraut. Zunächst habe sie nur Rücken gesehen, zwei anthrazitfarbene, sich über den Tisch beugende Mantelrücken. Und dann, ja dann den Herrn von Barrista auf dem Drehstuhl, die klebrigen Hände über dem Bauch gefaltet. Barrista hätte mit meiner Stimme gesprochen, ja, er hätte sie angegrinst und einfach weitergeredet, das könne sie beschwören, ja, mit meiner Stimme!
Ich ließ ihr Zeit, sich auszuweinen, und versuchte sie danach möglichst schnell auf den Boden der Tatsachen zurückzuführen.
Ich fragte Ilona, was daran denn so schlimm sei. Sie habe einfach die Stimmen aus dem linken Zimmer mit denen im rechten verwechselt, beide Räume lägen ja gleich weit entfernt von der Küche, eine akustische Täuschung eben. Warum sollte mich denn der Baron imitieren?
Ilona aber schüttelte den Kopf. Was das denn bedeuten solle, fragte ich. Wieder schüttelte sie den Kopf; zu allem, was ich sagte, schüttelte sie immer nur den Kopf.
Plötzlich stand Pohlmann in der Tür. Er bot mir an, den Hefter für ein paar Tage hierzulassen. Ich dankte ihm.
«Das Geld«, sagte Ilona plötzlich.»Wo ist das Geld?«Es lag noch als Fächer auf dem Tisch. Statt sich zu beruhigen, zeigte Ilona auf die Schüssel und flüsterte:»Er hat sie alle allein gegessen!«
Ich schickte Ilona zum Bäcker. Die frische Luft tat ihr gut. Sie hat auch dichtgehalten, weil ich Georg gegenüber schlecht sagen konnte, Barrista habe die Anzeige für uns angenommen. Wir bekamen uns auch so gehörig in die Haare, weil in der folgenden Ausgabe wieder Steens Seite kommen muß. Georg behauptet, wir schaufelten uns des kurzzeitigen finanziellen Erfolges wegen selbst das Grab. Ich hatte völlig falsch argumentiert und behauptet, der Artikel, der uns eine Auflagensteigerung im Werte von tausendzweihundert D-Mark122 bringe, müsse erst noch geschrieben werden. Jörg griff erst ein, als ich anbot, Geld und Anzeige zurückzubringen. Denn eigentlich geht mich das alles gar nichts an.
Sei umarmt,
Dein E.