Donnerstag, 31. 5. 90


Liebe Nicoletta!

Solange ich im Schlaf noch Träume hatte, an die ich mich morgens erinnern konnte, standen sie in großem Gegensatz zu meinem Befinden. Fühlte ich mich elend, spann mein Gehirn die heitersten Gebilde. In vermeintlich guten Zeiten waren die Nächte oft schrecklich.

In Dresden, am frühen Morgen des achten Oktober, riß mich die Türklingel aus dem Paradies. Gewohnheitsgemäß hatte ich den Schlüssel innen steckengelassen. Deshalb hätte meine Mutter nicht hereinkommen können. Ich schloß auf — doch da war niemand. Ich zog mich an, lief barfuß die Treppen hinunter, fand die Haustür angelehnt, sah hinaus, vergebens. Noch heute würde ich schwören, dieses Klingeln gehört zu haben.

Im Bett versuchte ich, wieder in den Traum zu gelangen, zurück an jenen Tisch, an dem ich mit Vera Äpfel geschält und zu schiffchenförmigen Stücken zerschnitten hatte, um sie in Honig zu tunken. Doch das war nur Kulisse. Das eigentliche Glück verbarg sich in einer Welt, deren Logik mit dem Erwachen zerfiel. Was davon in der anderen, der sogenannten wirklichen Welt zurückblieb, war jedoch eine spürbare Wärme, etwas, womit ich mich tatsächlich trösten konnte.

Zum zweiten Mal erwachte ich vom Sonntagsgeläut. Ich fand ein Glas Honig und toastete das alte Brot. Ich ging in die Dresdner Heide, die meisten Wege war ich seit der Schulzeit nicht mehr gegangen, und fuhr gegen eins über den Platz der Einheit und den Pirnaischen Platz zum Hauptbahnhof. Das, wovon im Radio die Rede gewesen war und was Mario erzählt hatte, wie auch die Demonstration vom Vorabend waren verflogen wie ein Spuk. Eine halbe Stunde später, ich war im» Café am Altmarkt «gewesen, einem von Veras Lieblingsorten, schien sich auf dem Theaterplatz etwas zusammenzubrauen, die Dimitroffbrücke296 war bereits gesperrt. Nachdem ich eine Weile Ausschau nach Marios Turban gehalten hatte, kehrte ich über die Marienbrücke nach Hause zurück. Ich schrieb meiner Mutter, daß ich bedauerte, mit ihr keinen Ausflug nach Moritzburg machen zu können. Beim Durchlesen wollte ich das Blatt zerreißen, aber ich war froh, überhaupt etwas zu Papier gebracht zu haben.

Auf der Autobahn fuhr ich nie schneller als hundert, hielt mich an alle übrigen Geschwindigkeitsbegrenzungen, hörte Musik und glaubte für Bruchteile von Sekunden, ich hätte letzte Nacht tatsächlich Vera getroffen.

In Torgau wartete Robert schon auf mich. In jeder Hand einen Beutel, lief er vor mir her zum Auto. In einem war Kuchen, in dem anderen ein mehrfach mit Zellophantüten und Einweckgummis gesicherter Topf, darin gefüllte Paprika. Robert sagte, das sei alles für mich. Wieso für mich, fragte ich.»Für uns alle«, sagte Robert,»aber vor allem für dich.«

Er fragte, was ich gemacht hätte. Wie auch später Michaela erzählte ich ihm, daß mein Freund Johann ein Telegramm geschickt und mich gebeten habe zu kommen. Deshalb sei ich nach Dresden gefahren. Er fragte nach meiner Mutter, und ich sagte, ich habe sie zu Hause nicht angetroffen. Wir fuhren zum Bahnhof.

Michaela stieg direkt vor mir aus. Daran, wie sie mich geflissentlich übersah, unentwegt ihre Haare hinters Ohr zurückstrich und mich erst dann begrüßte, wurde klar: Sie steckte in einer Rolle, einer neuen Berliner Rolle, die sie uns jetzt vorführen würde. Robert kam mit seinem auf dem Rücken hin und her hüpfenden Campingbeutel auf sie zugerannt und fragte sie noch vor der ersten Umarmung, ob ihr schlecht sei. Denn Michaelas Rolle bestand jetzt darin, sich überanstrengt zu geben, zugleich aber alle verbliebenen Kräfte dafür aufzubieten, sich diese Erschöpfung nicht anmerken zu lassen.

Das einzige, worüber ich im Auto redete — sie hat es mir immer wieder vorgehalten —, waren die gefüllten Paprika und der Kuchen. Michaela warf mir noch Monate später vor, ich hätte sie völlig allein gelassen und mich benommen wie der letzte Trottel. Dabei hat sie jede Nachfrage Roberts ignoriert und immer nur wieder gesagt, Thea lasse uns herzlich grüßen und wir sollten beim nächsten Mal unbedingt mitkommen.

Ich sah nichts Beunruhigendes darin, daß sie sich sofort nach ihrer Ankunft ins Bad verzog. Ich stellte den Topf auf den Herd, deckte den Tisch im Wohnzimmer, Robert füllte die saure Sahne in ein Schälchen und zündete die Kerzen an. Uns zuliebe legte er» Friday Night in San Francisco «auf. Mehrmals rief er nach Michaela. Nachdem ich den Plattenspieler leiser gestellt hatte, hörten wir sie schluchzen.

Schließlich erschien sie mit einer Schleppe aus Toilettenpapier, als brauchte sie eine ganze Rolle, um ihre Tränen zu trocknen und sich die Nase zu putzen. Sie öffnete das Balkonfenster — der Geruch von Essen bereite ihr Übelkeit —, ließ sich aufs Sofa fallen und zog Robert an sich. Über seinen Kopf hinweg sah sie in jene Ferne, in der sie wohl das uns Verschwiegene schaute.

Thea, Michaela und Karin (auch sie Schauspielerin) hatten sich, bevor die abendliche Geburtstagsrunde begann, für zwei Stunden in Theas Lieblingskneipe gesetzt, in der Stargarder Straße, nicht weit entfernt von der Gethsemanekirche. Bis sieben waren sie dort gewesen, Thea hatte von ihren Gastspielen im Westen erzählt, Erfolge, die man sich hier gar nicht vorstellen könne. Auch das Publikum sei viel spontaner und offener gewesen als hier. Weniger berauscht vom Bier als von diesen Geschichten, waren sie dann auf die Straße getreten und hatten sich einer Front behelmter und mit Schutzschilden und Schlagstöcken bewehrter Uniformierter gegenübergesehen. Sie waren umgekehrt, aber in der anderen Richtung war auch kein Durchkommen gewesen, die Schönhauser Allee war gerade an dieser Stelle abgeriegelt. Sie waren wieder zurückgekehrt und hatten die Behelmten um Durchlaß gebeten, sie wollten endlich nach Hause. Thea zeigte sogar ihren Ausweis und sagte, sie habe heute Geburtstag. Man antwortete ihnen nicht. Sie versuchten es erneut auf der anderen Seite. Dort trugen die Uniformierten keine Schilde und Helme.

An dieser Stelle ihrer Erzählung schneuzte sich Michaela. Das Toilettenpapier raschelte auf den Kokosmatten.

Sie dachten, fuhr Michaela fort, mit denen ohne Helme könne man reden. Jedesmal habe Thea ihren Geburtstag erwähnt und von den Kindern und Gästen gesprochen, die zu Hause auf sie warteten. Weil sie keine Antwort bekommen habe, sei Thea laut geworden. Sie habe nicht gewußt, daß es jetzt schon verboten sei, nach Hause zu gehen, das würde ja zu diesem Staat passen, da könne man sie doch gleich verhaften. Thea habe sich gerade zu Karin und ihr, Michaela, umgewandt, als drei Greifer in Zivil durch den Kordon auf sie zugestürzt seien und sie von hinten gepackt hätten. Einer von ihnen sei zwischen sie und Thea getreten, weshalb sie, Michaela, nicht sagen könne, was mit Thea in jenen Sekunden wirklich passiert sei. Thea habe geschrien, wahrscheinlich vor Schmerz. Beide sahen noch, wie Thea, als sie weggeführt wurde, ihren Ausweis in der Hand hielt. Dann sei sie hinter einem LKW verschwunden. Sie hätten Theas Handtasche aufgehoben, die Sachen, die herausgefallen waren, aufgesammelt und überlegt, was sie jetzt tun könnten. Sie hatten versucht, einander die drei Stasitypen zu beschreiben, und mußten sich eingestehen, sie bei einer Gegenüberstellung nicht identifizieren zu können. Fünf Minuten später hatten sie gesehen, wie Thea von zwei Bütteln auf einen LKW geworfen worden sei. Das könnten Karin und sie bezeugen.

Sie seien in die Kneipe geflüchtet und hätten Thomas, Theas Mann, angerufen. Karin habe einen Heulkrampf bekommen und sich auf die Eckbank des Stammtisches legen müssen. Von draußen sei Geschrei zu hören gewesen, und immer wieder seien Leute hereingestürzt, manche mit Platzwunden oder blutenden Nasen. Alle hätten Angst gehabt, daß die Uniformierten auch in die Kneipe kommen könnten. Sie, Michaela, habe es sich schon fast gewünscht, weil das Gewarte das schlimmste gewesen sei.

Als sie gegen halb eins in Theas Wohnung zurückgekehrt seien, habe noch die ganze Geburtstagsgesellschaft dagesessen. Thomas habe sie, Michaela und Karin, zuerst angebrüllt, als trügen sie die Schuld an Theas Verschwinden. Mehr als zehn Gäste hätten in der Wohnung übernachtet, auf dem Fußboden, in Sesseln, an Schlafen sei sowieso nicht zu denken gewesen. Thomas habe die ganze Nacht herumtelephoniert. Er sei auch zur Polizeischule Rummelsburg gefahren, aber man habe ihn nicht hineingelassen. Tagsüber hätten sie gewartet und wären nur raus, um die Kinder auf den Spielplatz zu bringen.

Michaela hatte sich beim Sprechen etwas beruhigt, doch nur, um jetzt um so vehementer mit ihrer Selbstanklage zu beginnen. Thea habe nämlich im Moment ihrer Festnahme nach ihnen gerufen. Sie, Michaela, habe Thea sogar festhalten wollen, sei aber dann von dem Kordon der Uniformierten zurückgestoßen worden. Michaela brach erneut in Tränen aus. Einer der Polizisten, oder was für Uniformen das auch immer gewesen seien, habe sie gefragt, ob sie ebenfalls Lust habe, dorthin zu kommen.»Dorthin«, habe er gesagt, und es sei klar gewesen, daß»dorthin «etwas Schreckliches bedeute. Und nun frage sie sich, warum sie davor zurückgeschreckt sei, warum sie Thea nicht gefolgt sei, wie es sich gehört hätte.»Nein!«rief Michaela, alle unsere Tröstungsversuche abwehrend, es wäre ihre Pflicht gewesen, Thea zu begleiten und sich nicht abschrecken zu lassen von diesem» dorthin«. Sie könne Thomas verstehen, natürlich mache er ihr zu Recht Vorwürfe.»Ich habe es zugelassen! Ich habe sie allein gelassen!«

Robert saß völlig ratlos neben ihr. Dann stand Michaela auf und verkündete, jetzt zur Telephonzelle zu gehen, um Thomas anzurufen. Außerdem sei ihr nach frischer Luft zumute.

Robert und ich aßen allein. Beim Abwaschen erzählte er mir von seinem Klassenlehrer, Herrn Milde, der gesagt habe, wir würden niemandem eine Träne nachweinen, der unserer Republik den Rücken kehre (das war damals so eine Zeitungsparole), woraufhin Falk, sein Freund, geantwortet habe, er bedauere, daß Doreen, seine Banknachbarin, die vor ein paar Tagen mit ihren Eltern ausgereist war, nicht mehr da sei. Erst habe Herr Milde nicht reagiert, ihn dann aber ermahnt, sich zu melden, wenn er etwas sagen wolle. Da habe sich Falk gemeldet, sei aber nicht aufgerufen worden. Herr Milde hatte gesagt, einem wie ihm werde es doch leichtfallen, eine hübschere Freundin als Doreen zu finden. Robert fragte mich, ob er sich auch hätte melden sollen.

«Schlechte Nachrichten«, sagte Michaela. Mir kam es vor, als sei sie im Grunde stolz darauf. Karin sei bei Theas Kindern geblieben, Thomas habe einen Bericht über Theas Verhaftung verfaßt und in der Gethsemanekirche vorgelesen und ausgehängt. Karin habe als Zeugin unterschrieben und ihre Adresse angegeben. Karin habe Michaela versprochen, auch ihre, also unsere Adresse darauf zu schreiben.»Dort muß die Hölle los sein«, sagte Michaela.

Am nächsten Morgen waren wir kurz vor zehn im Theater. In der Dramaturgie, diesem niedrigen dunklen Raum unterm Dach, drängten sich die Leute.

Michaela griff sofort zum Telephonhörer, preßte ihn ans Ohr und hielt sich während des Gesprächs das andere Ohr zu.

Die meisten schien die pure Langeweile hierher verschlagen zu haben. Sie inspizierten unsere kleine Bibliothek, blätterten in alten Programmheften und sprachen über Aufführungen und Kollegen, als sei das ein Gebot der Stunde. Ging die Tür auf, stockten die Gespräche jeweils für einen Augenblick.

Amanda von der Requisite erschien und kurz darauf Olaf, der Inspizient. Norbert Maria Richter war noch nicht da. Amanda steckte sich eine Zigarette an und fragte, was wir denn planten.»Ich plane nichts«, sagte ich.

Die einen sprachen über eine Resolution des Dresdner Theaters, die auf der Bühne verlesen werden sollte, andere von Blutkonserven und freigeräumten Stationen. Das werde tatsächlich in Leipzig erzählt, bestätigte Patrick. Ellen habe ihn deshalb im Theater angerufen. Amanda zeigte uns einen Artikel aus der» Volkszeitung«.»Werktätige fordern: Staatsfeindlichkeit nicht länger dulden!«lautete die Überschrift. Eine Kampfgruppeneinheit namens Geifert fühlt sich von gewissenlosen Elementen nach der Arbeit, beim Genuß ihres verdienten Feierabends, belästigt. Die Folgerung daraus: Sie sind bereit und willens, das von ihrer Hände Arbeit Geschaffene zu verteidigen und zu schützen, die Störungen endgültig und wirksam zu unterbinden.»Wenn es sein muß, mit der Waffe in der Hand. «Ich las den Artikel laut vor und ließ die Zeitung herumgehen. Amanda hielt ihre Kippe unter den Wasserhahn und legte sie neben die Seife zu den anderen. Sie lächelte.

«Heute entscheidet sich alles«, hörte ich plötzlich Michaela.»Wenn wir heute versagen, dann haben wir für immer versagt. «Ihr Blick ging von einem zum anderen.»Wenn wir heute nicht selbst auf die Straße gehen, lassen wir alle, die inhaftiert und gefoltert wurden, im Stich. «Darauf folgte die Wiedergabe dessen, was Thea erzählt hatte.

Michaela nahm sich Zeit für ihre Rede, hob kaum die Stimme und ließ alle spüren, daß sie um Sachlichkeit rang und ihre Gefühle, schließlich handelte es sich um ihre beste Freundin, zu unterdrücken verstand. Sie ähnelte schon einer Nachrichtensprecherin, als sie ein Mädchen erwähnte, das sich habe ausziehen müssen und unter dem Gelächter der Polizisten nackt über den Gang gejagt worden war. Dieses Martyrium sei Thea erspart geblieben. Dafür spüre sie noch den Schlag auf den Kopf — minutenlang habe sie bewußtlos auf dem LKW gelegen; schlimmer noch seien die Rückenschmerzen, die ganze rechte Seite sei ein einziger Bluterguß. Sie seien bei jeder Gelegenheit geschlagen worden, sogar dann noch, als sie an der Wand standen, mit den Händen im Nacken. Immer wieder hätten junge Kerle Leibesvisitationen vorgenommen.

Nach 38 Stunden ohne Schlaf und Essen habe man sie entlassen. Gestern abend sei um die Gethsemanekirche die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet worden, dann hätten die Uniformierten losgeprügelt — unterm Sturmgeläut der Kirchenglocken.

«Wenn wir es heute nicht schaffen«, sagte Michaela, während sie am Kragen ihres Mantels zog,»haben wir unsere Chance für lange, vielleicht für immer vertan!«

Michaela hatte uns mit ihrer Rede in Verlegenheit gebracht. Deshalb löste die Nachricht, Norbert Maria Richter sei gekommen, einen etwas überstürzten Aufbruch aus.

Hätte es mich statt Thea getroffen, davon war ich überzeugt, wäre Michaela wohl kaum zu solch einer Rede inspiriert worden. Thea war ihr schon wieder einen Schritt voraus. Das fand Michaela unerträglich! Die große Freundin war daran schuld, daß Michaela glaubte, ihr Gesicht zu verlieren, wenn nicht auch sie Kopf und Kragen riskierte.

Liebe Nicoletta! Ich weiß, wie mißgünstig ich Ihnen erscheinen muß. Vielleicht habe ich immer noch zuwenig Distanz zu der ganzen Sache. Aber in diesem Falle teile ich Ihnen nicht nur meine damalige Meinung mit.

Gegen Michaelas Wahn war kein Kraut gewachsen.297 Ich wußte, sie würde nach Leipzig fahren. In Norbert Maria Richter oder Jonas mußte ich keine Hoffnungen setzen. Robert bliebe mein einziges Argument, aber Thea hatte schließlich auch keine Rücksicht auf ihre Familie genommen.

Mittags in der Kantine wußte jeder von leer geräumten Turnhallen und Notlazaretten zu berichten. Jonas, der lange geschwiegen hatte, sagte mit einem wissenden Lächeln, er rate jedem dringend davon ab, heute nach Leipzig zu fahren.

Als wir uns nach der Probe trafen — natürlich war an eine richtige Probe nicht zu denken gewesen —, fuhren wir zu Tante Trockel. Die würde, sollten wir uns bis zehn nicht gemeldet haben, nach Robert sehen. Danach gingen wir noch in die Kaufhalle — das Angebot war unglaublich gut, ich erinnere mich jetzt nur an die Gläser mit Gewürzgurken, plötzlich schienen davon Unmengen verfügbar zu sein, ebenso H-Milch und Ketchup. Unser Kühlschrank war später so vollgestopft wie vor Weihnachten. Michaela legte zweihundert Mark auf den Küchentisch, dazu unseren Vorrat an Telephonzwanzigern, das restliche Münzgeld und die Kliniknummer meiner Mutter. Ich schrieb die Nummer von Geronimo dazu. Robert begann erst beim Anblick der Geldscheine zu ahnen, wie sehr sich dieser Nachmittag von allen anderen unterschied. Er wollte mit. Ich war dafür, Michaela dagegen. Sie sprach mit ihm in seinem Zimmer. Als sie wieder herauskam, sah ich, daß sie geweint hatte. Gegen vier starteten wir; aus dem Theater hatte sich niemand von Michaelas komfortablem Angebot zum Mitfahren bewegen lassen.

Hinter Espenhain wurden wir herausgewinkt, Verkehrskontrolle. Ich hätte nur die Papiere zu Hause vergessen müssen oder ein Blinklicht demolieren, womöglich wäre dann die Reise schon vorbei gewesen. Man wünschte uns gute Fahrt. Bevor ich wieder ins Auto stieg, ließ ich meinen Blick auf den mickrigen Bäumen und Sträuchern ruhen, die den Parkplatz umgaben — in diesem Moment erschien er mir wie eine Idylle. Es war verhältnismäßig warm. Mir kam es so vor, als hätte ich seit Jahren nicht mehr ans Schreiben gedacht.

Kurz vor Leipzig begann sich Michaela zu schminken. Wir könnten doch noch einen Schaufensterbummel machen, sagte sie, Zeit hätten wir ja. Dabei legte sie mir eine Hand auf den Schenkel, als wolle sie mir Mut machen.

Was folgte, ist schnell erzählt:

Wir parkten vor dem Dimitroffmuseum. Direkt gegenüber, in einer Nebenstraße, standen LKWs der Kampfgruppen. Aus großen Kübeln wurde Tee an die Uniformierten verteilt. Sie schienen keine Waffen zu tragen. Wir überquerten die Straße und kamen bis auf zehn Meter an sie heran. Die wenigen, die uns bemerkten, sahen schnell weg.

Wir gingen am Neuen Rathaus vorbei zur Thomaskirche. Ein bißchen benahmen wir uns wie Touristen, denen man eine Stunde Freizeit gelassen hat, bevor ihr Bus weiterfährt. Wir umrundeten die Kirche und blieben eine Weile vor dem Denkmal Johann Sebastian Bachs stehen. Michaela zog es in den gegenüberliegenden Buchladen. Gerade in einer Situation wie dieser, sagte sie, sei es schön, von Büchern umgeben zu sein. Ich gehorchte meinem Reflex, doch noch bevor ich die ersten Meter des Regals überflogen hatte, war mir klar, daß ich nichts kaufen würde. Ich sah überhaupt keinen Sinn mehr darin, ein Buch auch nur in die Hand zu nehmen.298

Es muß dann schon in der Nähe der Oper gewesen sein, als wir auf eine ganze Reihe von diesen Mannschaftswagen stießen. Wir liefen an ihnen vorbei, und es war fast so, als würden wir sie besichtigen. Ein paar Uniformierte stapften hin und her, den Blick auf ihre Gerätschaften gerichtet. Sie hatten auch Hunde dabei und Wasserwerfer.

Am Gewandhaus blieben wir stehen. Von den Eingangsstufen aus konnte man den ganzen Platz übersehen.299

Liebe Nicoletta! Sie werden vielleicht annehmen, wir hätten in diesen Stunden irgendwelche gewichtigen Gespräche geführt, Gespräche über die Zukunft und über Robert, oder uns wenigstens versprochen, von nun an jeden Augenblick unseres Lebens zu genießen und einander zu lieben. Aber nichts von alldem.

Weil ich die Staatsmacht nie zuvor derart bedrohlich zu Gesicht bekommen hatte, war es gerade dieser Anblick, der alles so unwirklich machte. Jedesmal wenn eine Kolonne Mannschaftswagen aus Richtung Grassi-Museum auf den Ring einbog, hupten die Autos dagegen an, Pfiffe gellten. Waren die Wagen vorbei, wurde es wieder ein schöner Oktobernachmittag mit Leuten, die einander zulächelten, die Buchläden durchstreiften und auf die Straßenbahn warteten.

Ich erklärte Michaela, deren Einkäufe ich trug, aus welcher Richtung die Demonstranten kommen würden, falls man sie überhaupt bis auf den großen Platz ließe. Wären sie erst mal hier, könne sie nichts mehr aufhalten. Wir hatten einen geradezu idealen Standort gefunden. Von hier aus konnten wir flüchten oder teilnehmen oder einfach verharren. Wer wollte einem verbieten, mit einer Buchtüte unterm Arm vor dem Gewandhaus zu stehen?

Plötzlich drangen von allen Seiten Geräusche auf uns ein. Aus Lautsprechern tönte ein Aufruf zur Gewaltlosigkeit300, und zugleich hörte ich die Sprechchöre laut und nah. Unversehens war sie da, die Demonstration, wir hatten es gar nicht gemerkt. Von einer Sekunde auf die andere war der Opernplatz voller Leute, als hätten sie Tarnkappen abgeworfen. Wir selbst waren die Demonstration! Jetzt ist es zu spät, dachte ich. Michaela knetete meine Hand. Ich wollte ihr sagen, sie brauche nun keine Angst mehr zu haben, als sie mich wegzog. Michaela strebte auf einen Mann zu, der mit seinem Schnauzer und dem kahlen Kopf aussah wie eine Robbe. Sie umarmten sich. Er trug eine Brille aus dem Westen und tat so, als habe er mich gar nicht bemerkt. Mindestens eine halbe Minute lang wartete ich hinter Michaela und sah ihn über ihre Schulter hinweg an. Irgendwann sagte sie:»Das ist Enrico, der ist auch am Theater. «Ich fragte, was er denn mache, worauf Michaela» Das ist ***!«rief. *** nickte kurz wie in Gedanken und richtete seine Robbenaugen wieder auf Michaela. Und schon gingen wir drei nebeneinander in Richtung Post. Ich schob mich neben Michaela und winkelte meinen rechten Arm an, damit sie sich bei mir unterhakte. Sie aber tat nichts dergleichen und wandte kein Auge von der Robbe. Ich wußte nicht einmal, woher sie sich kannten.»Irre«, sagte die Robbe mehrmals,»irre!«

Ohne mich wären sie einander wohl noch öfter um den Hals gefallen. Michaela erzählte von Thea. Sah so der Regisseur aus, der Michaelas Träume erfüllen konnte?

Unerträglich war mir der Gedanke, daß er nun unauslöschlich mit diesem Tag verbunden sein würde. Wie eine Zecke würde er von nun an in unserer Erinnerung hängen. Genosse Robbe war dazu übergegangen, statt» irre«»schlimm «zu sagen. Jedem Satz von Michaela gab er mit» schlimm, schlimm «seinen Segen. Sie fühlte sich davon angespornt. Plötzlich zeigte er zu der Kamera hinauf und sagte:»Wenn das ein Maschinengewehr wäre!«Jemand hatte angefangen, der Kamera zuzuwinken, und nun winkten alle um mich herum hinauf. An der Fußgängerampel machten wir halt.

Sie kennen ja die dunklen Fernsehbilder. Haben Sie die Langsamkeit bemerkt, mit der die Leute einen Fuß vor den anderen setzten, und die großen Abstände zwischen ihnen? Ich kannte nur Maidemonstrationen, bei denen man sich ewig die Beine in den Bauch stand, ab und an ein paar Meter voranschlurfte, wartete und schließlich zum Laufschritt angetrieben wurde, damit vor der Tribüne keine Lücke im Demonstrationszug entstand. Hier aber schlenderte man zu zweit, zu dritt, in Grüppchen über den Platz, darauf bedacht, den anderen nicht zu nahe zu treten. Die Ampel wurde grün. Wir aber blieben stehen und warteten. Ein Mann fragte:»Beim nächsten Grün gehen wir los?«Und so betraten wir, als das grüne Männlein wieder aufleuchtete, endlich die Straße.

Wir wandten uns nach links, in Richtung Hauptbahnhof. Die Leute in den Autos, für sie war kein Durchkommen mehr, saßen wie festgefroren, angststarre Blicke. Von den Einsatzwagen, überhaupt von Polizei war nichts zu sehen. Nur ein einziger Polizist zeigte sich breitbeinig in einer Nebenstraße, als wollte er sich die Demonstration einmal persönlich anschauen. Nach zwei- oder dreihundert Metern drehten wir uns um. Sie erinnern sich vielleicht, die Straße fällt zum Hauptbahnhof hin leicht ab. Michaela jubelte und umarmte mich, die Robbe schrie:»Irre, irre!«Die ganze Stadt schien eine einzige Demonstration!

Auf einmal brüllte die Robbe los:»Reiht euch ein! Reiht euch ein!«Beim zweiten Mal hatte er sogar seinen Arm erhoben und skandierte es mit geballter Faust, als drohte er den Leuten in dem Restaurant, die an die Fenster gekommen waren und winkten.»Reiht euch ein!«brüllte er, und Michaela fiel beim vierten oder fünften Mal mit ein. Dann wechselten sie zu» Gorbi, Gorbi!«. Es war grausam. Die beiden machten ein solches Geschrei, daß alle Gespräche verstummten und den anderen nichts weiter übrigblieb, als einzustimmen.

Michaela wandte sich mir zu, als wollte sie sagen:»So wird’s gemacht!«

Wenn die Robbe pausierte, sprach Michaela weiter von Thea. Sie nahm es klaglos hin, daß die Robbe sie mitten im Satz unterbrach, um die» Internationale «anzustimmen.

Wir liefen unter der dichtbesetzten Fußgängerbrücke hindurch und betraten die riesige Kreuzung dahinter, die völlig leer war. Ich genoß es, mitten auf der Straße gehen zu können. Im selben Moment sah ich die Helme und Schilde, vielleicht dreihundert Meter von uns entfernt. Wir blieben stehen. Die Robbe klärte uns darüber auf, daß dort die» Runde Ecke «sei, das Gebäude der Staatssicherheit.

Wie schon an der Fußgängerampel warteten wir, daß die Leute aufrückten und der Demonstrationszug dichter wurde. Auf dieser Kreuzung hörte ich zum ersten Mal» Wir sind das Volk«(im Originalton:»Mihr sinn das Vouhlg«), was mir damals wie eine Antwort auf den Leserbrief der Kampfgruppe vorkam.301

An der» Runden Ecke«— kein einziges Fenster war in dem ganzen großen Haus erleuchtet — sah ich erst, wie klein der uniformierte Haufen war, der sich da vor dem Eingang Schild an Schild drängte. Ich glaubte zu erkennen, daß diese Hopliten wie Pferde zu scheuen und auf der Stelle zu tänzeln schienen.302 Um sie zu beruhigen, hatte sich eine Reihe von Demonstranten vor die Schildbewehrten gestellt. Sie hielten sich an den Händen und sahen den anderen Demonstranten zu, wie diese brennende Kerzen zu ihren Füßen auf das Pflaster stellten.

Plötzlich verschwand die Robbe von unserer Seite und zwängte sich in die Menschenkette vor den Uniformierten. Dabei sah er nach links und nach rechts, als ginge es darum, sich beim Schlußapplaus gleichzeitig mit den anderen zu verbeugen. Statt weiterzugehen und ihn dort stehen zu lassen, trat Michaela vor ihn hin. Er aber, ganz ergriffen von seiner neuen Rolle, ignorierte sie jetzt.

Schweigend trotteten Michaela und ich an der Thomaskirche vorbei, bis wir zum Neuen Rathaus kamen.

Ich wunderte mich über das Freudengeschrei um uns herum. Ich hatte eher das Gefühl, wir seien ins Leere gelaufen. Was sollte man tun? Noch einen Schwenk, zurück zum Gewandhaus?

Michaela wollte bleiben. Ich ging weiter geradeaus zum Auto. Notgedrungen folgte sie mir. Was ich gegen *** habe, rief sie, und warum in aller Welt ich den Beleidigten spiele. Von ihm, sagte ich, habe sie mir nie erzählt. Da gebe es auch nichts zu erzählen, sagte sie, sie hätten sich nur einmal in der Kantine des BE getroffen und Thea habe sie einander vorgestellt. Ich sagte, daß ich ihr das nicht glaubte … Ich wolle einfach nicht kapieren, unterbrach sie mich, wie es unter Theaterleuten zugehe; sie seien eben eine große Familie und so eine Begrüßung habe gar nichts zu bedeuten. Ganz egal wie es sei, sagte ich, auf jeden Fall habe sie mich verleugnet.

Wir schwiegen während der gesamten Rückfahrt.

Als ich die Wohnungstür aufschloß, glaubte ich erst, Tante Trockel sei gekommen, aber es war meine Mutter, die mit Robert Abendbrot aß. Ich dachte, sie würde uns Vorwürfe machen wegen unseres Leichtsinns und weil wir Robert allein gelassen hatten. Aber das schien sie nicht zu interessieren. Sie habe mal wieder vorbeischauen wollen, sagte sie und hörte Michaela mit schiefgelegtem Kopf zu, als berichtete sie von ihrer letzten Premiere. Tante Trockel hingegen, von der ich den Schlüssel holte, verlangte einen vollständigen Bericht. Den sei ich ihr schuldig, schließlich habe sie bereits ihre Sachen gepackt. Sie klang vorwurfsvoll, als hätte ich sie um eine Reise, um ein Abenteuer gebracht.

Ihr Enrico T.

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