Donnerstag, 21. 6. 90


Ach, Nicoletta,

mir scheint, als würden ungeahnte Reichtümer am Ende dieses Monats auf mich, auf uns warten. Alles wird sehr, sehr schön sein müssen! Seien Sie mir nicht böse, daß ich so lange nicht geschrieben habe, hier war so viel zu tun! Am liebsten würde ich fragen: Wie geht es Ihnen? Was machen Sie? Hätten Sie eine Stunde Zeit für mich, wenn ich nach Bamberg komme? Ich würde lieber in der Gegenwart mit Ihnen sprechen, als immer nur von der Vergangenheit schreiben. Aber wie es scheint, habe ich keine Wahl.

Zurück also nach Altenburg und der Pistole unter meinem Pullover.

Während der ganzen Demonstration war ich voll teilnahmsloser Ruhe. Wäre jemandem etwas aufgefallen, hätte ich meine Beute vorgezeigt, als erlaubte ich mir einen Scherz, und die Pistole bei nächster Gelegenheit abgeliefert. Michaela hielt mich untergehakt an ihrer Seite und war ganz davon in Anspruch genommen, Grüße zu erwidern, egal ob sie die Leute kannte oder nicht. Sie flüsterte mir zu, wen von unseren Nachbarn sie gesehen hatte, und machte mich hin und wieder auf jemanden aufmerksam. Manchmal rätselten wir, woher wir sie kannten — eine Verkäuferin, eine Postangestellte, auch Roberts Unterstufenlehrerin lief mit. Ein paarmal begrüßten sich Leute, um dann, nach ein paar Worten, die unerwartete Gemeinsamkeit mit einer Umarmung zu krönen.

Vor der Villa der Staatssicherheit gab es die üblichen Pfeifkonzerte und Sprechchöre. Als auf dem Marktplatz die Sache zu erlahmen drohte, verschaffte sich eine Stimme Gehör, die ans Grölen gewöhnt zu sein schien. Er war auf eine Bank gestiegen und schleuderte von dort seine Haßtiraden in die Menge. Der SED verpaßte er immer üblere Adjektive: verdorben, verhurt, verfickt. Bei jeder betonten Silbe stieß seine Faust gen Himmel. Nach sechs oder sieben Sätzen fiel ihm nichts Neues mehr ein, und er begann von vorn, so daß sich während seiner kurzen Rede eine Art Refrain herausbildete. Vor allem die Forderung, alle, aber wirklich alle diese verfickten Funktionäre in den Tagebau zu schicken, wurde jedesmal bejubelt. Dann aber, als ich glaubte, er werde nun zum Sturm auf das Rathaus aufrufen, ließ er es mit einem» Wir kommen wieder! Wir kommen wieder!«bewenden und stieg von der Bank. Von diesem Revolutionsredner habe ich Ihnen schon mal berichtet. Da bot er mir an, einen Leserbrief gegen die Plastik von Wieland Förster zu schreiben.330

Auf der Rückfahrt war Michaela euphorisch. Zum Triumph aber wurde der Tag, als wir zu Hause den Fernseher anschalteten. Es lief die Übertragung der Berliner Demonstration. Noch nie, sagte Michaela, habe sie mit so gutem Gewissen ferngesehen, denn schließlich hätten wir unseren Beitrag bereits geleistet. Sie rührte sich den ganzen Nachmittag nicht vom Bildschirm und rückte immer näher heran, weil sie hoffte, Thea entdecken zu können.

Mir hingegen war von einem Moment auf den anderen so jämmerlich zumute geworden, daß ich am liebsten losgeheult und alles gebeichtet hätte, in der Hoffnung, Michaela werde sich meiner erbarmen und die Pistole wieder aus meinem Leben entfernen. Ich war davon überzeugt, daß es jeden Augenblick eine Hausdurchsuchung geben würde. Ich machte dem Schicksal ein Angebot, indem ich die Pistole auf meine Liege warf, die Tür angelehnt ließ und in die Küche ging. Tatsächlich rief mich Michaela, doch nur, weil gerade der Salzstangenknacker aus Theas Wohnung sprach. Der gab sich den Anschein großer Nachdenklichkeit und Sorge. Dazu wiegte er seinen schmalen Kopf hin und her, als sollte man ihn sich von allen Seiten einprägen. Ich streckte den Arm aus, zielte über meinen Zeigefinger und ließ meinen aufgestellten Daumen nach vorne kippen —»Paff!«. Michaela lachte.

Ich legte die Pistole in den Schrank auf die Manuskriptmappen und setzte mich zu Michaela. Mein Schwächeanfall schien überstanden. Als die Direktübertragung vorbei war, zeigten alle Sender in Ost und West Ausschnitte der Reden in ihren Nachrichten. Das gab mir Gelegenheit, der Frage nachzugehen, um die allein mein Denken kreiste: Auf wen sollte ich schießen?

Anfangs war mir jeder Redner recht. Dann wählte ich meine Opfer nach Sympathie und Antipathie aus. Schließlich begriff ich die Sinnlosigkeit, die Opposition zur Zielscheibe zu machen. Das beschränkte meine Wahl auf Schabowski und Markus Wolf, wobei ich mich für Wolf entschied, um die Truppen der Staatssicherheit zu mobilisieren. Immer wenn Wolf die Arme mit seinem Zettel sinken ließ, also die Pfiffe und Buhrufe am lautesten waren, drückte ich ab, mal aus der Menge, mal von hinten. Ich kroch fast in den Fernseher, um den besten Standort zu erkunden, und spürte in meinem rechten Handgelenk bereits den Schlag, mit dem der Schuß sich löste und die Waffe hochriß. Mir war klar, wie schwer es sein würde, unerkannt zu entkommen. Und vielleicht hatten sie auch irgendwo Scharfschützen postiert. Von der Polizei war weit und breit nichts zu sehen. Plötzlich wurde mir bewußt: Ich will ja gar nicht unerkannt bleiben! Warum soll ich nicht zu meiner Tat stehen?

Bei der nächsten Wiederholung befinde ich mich bereits auf dem Podium, nur zwei Schritte links hinter Wolf, und rufe, als das Pfeifkonzert seinen Höhepunkt erreicht:»Genosse General!«Wolf blickt herüber, ich ziehe meine Waffe und sage:»Verschwinde!«Ungläubig bis zur Dümmlichkeit ist sein Blick, während er sich herumdreht.»Verschwinde!«rufe ich erneut und deute mit dem Pistolenlauf in Richtung Treppe. Sekundenlang bewegt sich niemand. Dann, in ungeheuerlicher Verkennung der Lage, greift Wolf in seinen Mantel, die Napoleongeste, denke ich. Versteinert starren wir uns an. Wolf wird kleiner und kleiner. Die Bewegung, mit der er seine Pistole herauszieht, wischt wie ein Schatten über meine Augen. Dann bricht der Schuß, und die heiße Patronenhülse hoppelt übers Podium.

Ich sehe die kleine silberne Pistole in Wolfs rechter Hand, deren Lauf schräg nach unten zeigt, und denke noch, um wieviel moderner, leichter und treffsicherer sie sein mag, da schlägt er der Länge nach vor mir hin, seine Pistole schlittert an meinen Schuhspitzen vorbei unter einen Lautsprecher.

Ich nutze die Gelegenheit, um auf die Menge zu sehen, während das Pfeifkonzert abflaut. Unbehelligt verlasse ich das Podium. Lange muß ich gehen, bis ich den ersten Polizeiwagen sehe. Erleichtert und glücklich liefere ich meine Waffe ab, denn ich habe getan, was in meiner Macht stand.

Michaela hatte sich vor dem Fernseher unentwegt Notizen gemacht und an ihrem Redeentwurf für nächsten Sonntag gearbeitet. Im Bett schlief sie sofort ein.

Gegen halb eins stand ich auf, ging in mein Zimmer und setzte mich ans Fußende der Liege. Als gälte es, ein Tier zu wecken und aus seinem Käfig zu holen, scheute ich mich, die Schranktür zu öffnen.

Die Waffe war gut gepflegt und das Magazin voll. All die dazugehörigen Handgriffe stellten sich von allein ein.331 Selbst das Entnehmen der Munition gelang problemlos. Die linke Hand in die Hüfte gestützt, atmete ich ein, hob die Waffe übers Ziel und senkte sie am Fensterrahmen herab, bis die Unterkante des Fensterknaufs genau in jenem Moment auf Kimme und Korn saß, der zwischen Ausatmen und Luftholen liegt und in dem der Finger den Druckpunkt erreicht. Beim ersten Schuß verriß ich beträchtlich. Auch bei den nächsten Versuchen war es der übermäßig harte Druckpunkt, der mir Probleme bereitete und die Waffe aus ihrer idealen Lage trieb. Es würde kaum möglich sein, aus mehr als fünf Metern gezielt zu treffen. Ich trainierte eine Weile, stopfte die Patronen in eine Streichholzschachtel332 und wickelte die Waffe in das Unterhemd, das ich beim Ausziehen über die Stuhllehne geworfen hatte. Mehrmals wusch ich mir die Hände, doch sie rochen immer noch rauchig und nach Waffenöl, als hätte ich bereits das ganze Magazin abgefeuert.

Nach wenigen Stunden Schlaf war ich hochgeschreckt, weil ich, ganz wie einen Monat zuvor in Dresden, glaubte, die Türklingel gehört zu haben. Jede Minute rechnete ich damit, ein Streifenwagen werde vor unserem Haus halten. Kurz nach sieben klingelte es tatsächlich. Michaela ging in Roberts Zimmer. Ich öffnete.

Ruth, Emilie Paulinis Tochter, sah mich reglos und stumm an. Ich bat sie herein.»Sie ist tot, Herr Türmer«, sagte sie.»Jetzt ist sie tot!«

Ich bat sie erneut einzutreten.»Sie hat so darauf gewartet, daß Sie kommen, Herr Türmer, ach, hat sie darauf gewartet. «Ruth machte zwei Schritte in den Vorraum und blieb stehen.

Michaela begrüßte sie gleichermaßen erleichtert und verärgert. Doch Ruth überhörte ihr Beileid und übersah ihre ausgestreckte Hand. Ruths Blick suchte immer nur mich.»Warum sind Sie denn nicht gekommen?«jammerte sie.»Aaah, Herr Türmer! Unser Muttchen hat so auf Sie gewartet.«

Ich sagte, daß gerade jetzt, in diesem Herbst, so viel los gewesen sei. Wir seien, verteidigte mich Michaela, in den letzten Wochen kaum nach Hause gekommen.»Aaah, Herr Türmer!«rief Ruth.»Warum sind Sie denn nicht mal für ein Stündchen gekommen?! Neeeh!«Wie zur Strafe blieb meine Frage, wann ihre Mutter gestorben sei, unbeantwortet.

«Zur Beerdigung kommen Sie!«befahl Ruth. Sie nannte das Datum, machte kehrt, öffnete die Wohnungstür und ging davon, ohne sich zu verabschieden.

Nach Ruths Auftritt kehrten die Ängste zurück. Den ganzen Tag über verhörte ich mich selbst. So wie man sich an der Vorstellung der eigenen Beerdigung berauscht, ging ich ganz darin auf, detailliert und lückenlos aufzuzählen, was ich vor drei Tagen getan hatte oder wann ich am Abend vor zwei Wochen ins Bett gegangen war.

Dann wieder stand ich als Mörder von Markus Wolf vor Gericht. Panzer waren infolge meiner Tat über den Alex gerollt, in jeder Stadt standen sie jetzt, Seite an Seite mit den Russen, das Kriegsrecht war verhängt worden. Ich sollte in einem Schauprozeß verurteilt werden. Wie Dimitroff333 verteidigte ich mich selbst vor den Augen der Weltöffentlichkeit.

Am Abend fuhr ich ins Theater und versteckte die Pistole in der herrenlos gewordenen Requisite. Die Munition drückte ich in die Erde eines Blumentopfes, der auf dem Schreibtisch einer Kollegin stand.

Am Montag fuhr ich mit Michaela und Robert nach Leipzig. Es sollte meine Generalprobe sein. Aber Uniformierte bekam ich gar nicht mehr zu Gesicht. Die Demonstration löste sich nach dem Marsch um den Ring schnell auf. Man wollte rechtzeitig zurück sein, um sich in der Tagesschau zu sehen.

Am Dienstag wurde ich in die Intendanz gerufen. Dort saßen — ich hatte es erwartet — die beiden Polizisten, Blond und Schwarz. Jonas sagte, er stelle uns nur sein Zimmer zur Verfügung, mehr nicht.

Natürlich war es naheliegend, mich zu verdächtigen.»Warum sollte ich eine Pistole klauen?«wollte ich so amüsiert wie möglich sagen. Ihre Gesichter waren tiefernst, sie wirkten müde. Ihr Gerede von» Sicherheitspartnerschaft «für die Demonstration am 12. konnte nur ein Vorwand sein. Obwohl sich viel mehr freiwillige Ordner gemeldet hatten, als gebraucht wurden, ließen sich ihre Bedenken nicht zerstreuen. Sie gaben Sätze von sich wie:»Davon können wir nicht ausgehen «oder» Die Genossen müssen wissen, was passiert. «Ich schwieg, weil ich keinem harmlosen Gespräch Vorschub leisten wollte, aus dem heraus die eigentliche Frage mich überrumpeln konnte. Schließlich saßen wir ratlos da und blickten stumm auf den leeren Intendantenthron.

Später am Tag geschah etwas, das mich dann doch noch überrumpelte. Meine Gedanken, die unablässig um Tod und Töten kreisten, folgten offenbar einem alten Reflex: Plötzlich lag vor mir eine Idee, die Idee für eine Geschichte, ein Science-fiction-Stoff. In der Gesellschaft, die ich beschreiben wollte, werden Schwerverbrecher lebenslänglich auf einer gutbewachten Insel inhaftiert, der Insel der Sterblichen, auf der es ihnen an nichts mangelt, nicht mal an Vergnügungen. Jedoch, und das ist ihre eigentliche Strafe, sind sie dazu verurteilt, eines» natürlichen Todes «zu sterben. Alle anderen können infolge irgendwelcher genetischen Manipulationen oder Hirnverpflanzung mit einem wenn nicht ewigen, so doch tausend- oder zweitausendjährigen Leben rechnen.

Das Weitere ergab sich von selbst: Ein zur Normal-Sterblichkeit Verurteilter — man hat ihm das Jugend-Gen bereits entnommen, und er altert nun mit jedem Tag — entkommt der Insel der Sterblichen und versetzt die Hauptstadt in Angst und Schrecken. Er gilt als völlig skrupellos, weil er ja nichts mehr zu verlieren hat. Denn ob er jetzt erschossen wird oder in zwanzig oder vierzig Jahren eines natürlichen Todes stirbt, läuft in der Vorstellung der Ewigen auf dasselbe hinaus.

Plötzlich saß ich wieder an meinem Schreibtisch. Ich arbeitete an der Beschreibung, wie die Medien in der täglichen Berichterstattung einen fanatischen Ekel vor der Endlichkeit schüren. Wer kein ewiges Leben mehr hat, so das Fazit, ist a priori skrupellos.

Mein Held spricht über seine Todesangst und das Grauen, das der Gedanke an den Tod in ihm auslöst, weil er den anderen fremd ist. In immer neuen Ansätzen umkreiste ich den Augenblick des Todes, die Untröstlichkeit, wenn man eine Erfahrung allein machen muß.334

Was mich belebte, war auch die Hoffnung, wieder in die Deutsche Bücherei zurückkehren zu dürfen. Ich sah mich bereits die gesamte medizinische Fachliteratur durchpflügen. Waren nicht Körper und Tod die letzten Themen, die mir geblieben waren?

Michaela, die spät von der Hauptprobe kam, war überrascht, mich am Schreibtisch zu finden. Sie lächelte und ging gleich ins Bett.

Am Mittwoch weckte uns Robert frühmorgens. Er stand im Zimmer und rief etwas. Ich sah als erstes Michaelas Waden. Michaela rannte! Und dann hörte ich — viel zu laut — das Radio.

Roberts Stimme, das grelle Lampenlicht, der Wetterbericht — plötzlich schämte ich mich unendlich, der Versuchung zu schreiben nachgegeben zu haben. Jetzt verstand ich, was Robert rief.

Den Fall der Mauer empfand ich als harte, doch gerechte Strafe für meinen Rückfall. Ich zog mir die Bettdecke über den Kopf.

«Jetzt kommt keiner mehr zur Demo«, murrte Michaela. Später glaubte ich, ihre Absätze auf den Fußwegplatten zu hören. Allein gelassen, erlag ich dem Gefühl, persönlich für den Fall der Mauer verantwortlich zu sein, weil ich gezögert hatte, weil ich es nicht fertiggebracht hatte, einfach abzudrücken. Nicht mal in die Nähe einer Tat war ich gekommen. Das also war das 6:3, das unfaßbare fünfte Tor in der zweiten Halbzeit, das Aus, das K. o.

Beinah heiter kehrte Michaela zurück. Sie hatte ihre Mutter aus dem Bett geklingelt und erzählte, wie eigenartig ihr zumute gewesen sei, ES jemandem zu sagen, wie merkwürdig dieser Moment war, da der andere noch ahnungslos in der alten Welt lebe.

Auf der Generalprobe, an die ich sonst keine Erinnerung mehr habe, sagte ich in Anwesenheit von Jonas und Norbert Maria Richter, daß ich von einer Premiere abrate. Jonas stimmte mir zu, stellte es aber Norbert Maria Richter frei, ob er seine Inszenierung zur Aufführung bringe.

Michaela nannte mich daraufhin einen Verräter.»Ich lebe mit einem Verräter zusammen!«Ich suchte wohl Streit, ich wolle wohl nur noch zerstören, alles, alles mutwillig zerstören, Familie, Arbeit, alles.

Michaela und ich sprachen bis zum Sonntag kaum miteinander, und wenn, dann nur über die Demonstration. Ich bat sie, für meine Rede auf dem Markt höchstens zwei Minuten einzuplanen. Sie fragte, worüber ich denn sprechen würde.»Über die Zukunft«, sagte ich, eine Bemerkung, die mir selbst absurd vorkam, weil ich überhaupt keine Zukunft mehr sah.

Zur Demonstration kamen nur halb so viele wie am 4. November. Vor der Villa der Staatssicherheit und der SED-Kreisleitung gab es wieder Katzenmusik, aber niemand blieb stehen. Überall waren Ordner — Michaela hatte die weißen Armbinden verteilt, trug selbst eine und hatte auch Robert und mir eine angetragen. Ich sah den dicken Polizisten vom letzten Sonnabend wieder, Schwarz und Blond jedoch zeigten sich nicht.

Als der Demonstrationszug auf den Markt schwenkte, sah ich vor der Rednertribüne rote Fahnen und DDR-Fahnen in einer Gruppe von hundert oder zweihundert Leuten, fast ausschließlich Frauen. Sie trugen auch alte Transparente und Schilder:»Die DDR — mein Vaterland «oder» Sozialismus und Frieden«.

Ein kleiner Schnauzbart umkreiste den Haufen und rief:»Zusammenbleiben, zusammenbleiben«, obwohl sich niemand von ihnen bewegte. Der rote Haufen wurde umstellt, und ein nicht enden wollendes» Schämt euch was!«ging auf sie nieder. Sie schwenkten ihre Fahnen.

Vom Rednerpult aus bemerkte ich die wütenden, aber auch ängstlichen Blicke dieser Frauen. Eine von ihnen, ganz vorn, hatte ihre Stirn an die Schulter ihrer Nachbarin gelehnt und schluchzte. Ihnen, liebe Nicoletta, mag es merkwürdig erscheinen, wenn ich behaupte, in diesen Frauen zum ersten Mal Menschen begegnet zu sein, die aus freien Stücken für die DDR eintraten.

Ich hatte mir einen Zettel mit Stichpunkten gemacht, Michaela sollte nicht glauben, ich nähme die Sache zu leicht.

Während meiner kleinen Rede habe ich immer nur auf die Frauen gesehen. Ich sprach zu ihnen wie ein Arzt, der versucht, ihnen die notwendigen Therapieschritte zu erklären. Im Grunde sagte ich dasselbe wie vor drei Wochen in Berlin, als ich von Thea zur Rede gestellt worden war.

Ich war der einzige, der an diesem Tag ein paar Bemerkungen über das Geld machte.»Der Kurs von D-Mark zu Ostmark beträgt in den Westberliner Wechselstuben eins zu sieben. «Das war eine Behauptung, ich wußte es nicht genau, aber Vera hatte es einmal erwähnt. Zudem erfand ich einen Mindestlohn von 11 D-Mark pro Stunde und sagte, nun könne sich jeder ausrechnen, wie viele Tage man im Westen arbeiten müsse, um auf ein hiesiges Monatsgehalt zu kommen.»Die meisten von uns«, sagte ich,»werden wohl keine zwei Tage dafür brauchen!«Dafür erhielt ich Applaus. Nur die Frau, auf deren Schulter sich die Weinende gestützt hatte, rief, Geld sei doch nicht alles.

«Wir haben also nur zwei Möglichkeiten, entweder wir schließen die Mauer wieder, oder wir führen auch hier die Marktwirtschaft ein, andernfalls wird keiner bleiben. «Meine Conclusio mußte ich wiederholen, weil das Wutgeheul des roten Haufens losbrach. Es waren Beschimpfungen, wie man sie vielleicht noch zu Beginn des Jahrhunderts Streikbrechern zugerufen hat.»Kapitalistenknecht «war dabei, auch» Reaktionär «und» Konterrevolutionär«. Eine zieh mich, wohl in Anspielung auf meine weiße Ordnerarmbinde, einen Weißgardisten. Die Frauen behielten die Oberhand, bis sich die große Menge erneut zu einem» Schämt euch was!«aufgeschaukelt hatte und sie übertönte.

Je schneller wir begreifen würden, rief ich, daß es nur ein Entweder-Oder gibt, desto besser wäre es für uns alle.»Oder wollt ihr als Bettler nach Paris fahren?«Weil ich das nächste Stichwort nicht fand, trat ich vom Mikro zurück und wandte mich ab, der Applaus für den letzten Satz nahm dadurch noch zu. Als Begleitmusik zu meinem Abgang hatten einige Frauen die» Internationale «angestimmt, ein Gesang, der sich, kaum daß ich wieder auf dem Marktpflaster stand, über den Applaus erhob. Zuerst gab es Pfiffe, dann aber begann die Mehrheit selbst die» Internationale «zu singen, so wie ich es bereits in Leipzig erlebt hatte.

Ich hockte mich auf einen der Beton-Blumenkübel und hoffte, daß der ganze Zirkus schnell vorübergehen möge.

Sie werden wohl den Verdacht nicht unterdrücken können, daß ich hier versuche, mich post festum ins rechte Licht zu rücken, mich zum einzigen zu stilisieren, der bereits damals verstand, wohin der Hase läuft.

Aber dem war nicht so. Wie beim Schachspiel versuchte ich nur, ein paar Züge vorauszuspekulieren. Ich hatte nicht mal die Vereinigung vor Augen, die damals schon von einigen gefordert wurde. Und ich hatte wie gesagt auch keinen Begriff von Zukunft. Denn meine persönliche Zukunft hatte sich durch den Fall der Mauer in nichts aufgelöst. Hätte ich nicht Michaela zuliebe auf die Rednerkanzel steigen müssen, nie wären solche Sätze über meine Lippen gekommen. Natürlich hätte ich auch etwas anderes sagen können. Aber was? Was gab es denn sonst noch zu sagen? Es gab nichts mehr zu sagen!

Wann immer Michaela auf das Podium gestiegen war, um den nächsten Redner anzukündigen und, wie es in dem LVZ-Bericht hieß, die Demonstranten zu» Mäßigung und Anstand «aufzufordern, hatte sie frei und souverän gewirkt und mehr Beifall für ihre Schlagfertigkeit erhalten als die meisten für ihre Reden. Nun, da sie sich aus dem Pulk derer, die mit ihr reden wollten, herauswand und auf uns zukam, schien sie bedrückt. Mich würdigte sie keines Blickes. Auf der Rückfahrt kippte ihre Stimmung vollends ins Dunkle. Ich hielt es für Premierenangst.

Als ich sie zu Hause endlich fragen konnte, was denn passiert sei, sagte sie» Nichts «und zog sich in ihr Zimmer zurück. Sie weinte.

«Ist es das?«fragte sie, als ich eintrat. Sie hielt mir ein Kuvert hin.»Bist du deshalb so?«Ich erkannte Nadjas Handschrift auf dem Kuvert.»Du mußt keine Rücksicht nehmen«, sagte Michaela,»wir kommen schon zurecht. «Sie schneuzte sich.

Es war einer der seltenen Momente meines Lebens, in denen mein Gewissen rein war, bereit für jede Art von Verhör.

Ich bat Michaela, das Kuvert zu öffnen. Sie schüttelte den Kopf. Bitte, sagte ich. Nein, sagte sie. Das wolle sie sich nicht antun.

Mit der Nagelfeile, die auf ihrem Tisch lag, schlitzte ich den Umschlag auf, faltete das Blatt auseinander und begann vorzulesen. Gleich zu Anfang schrieb Nadja, sie wisse bereits, daß ich eine Familie habe. Sie selbst lebe mit Jaroslav, einem Tschechen, zusammen, und Ende Februar erwarte sie ihr erstes Kind. Sie erkundigte sich nach meinem Manuskript und klagte über ihre Arbeit.

Michaela schwieg. Auch als ich den Brief vor ihr ablegte, rührte sie sich nicht. Schließlich fragte sie, ob sie die Briefmarken haben dürfe. Dann faltete sie den Brief wieder zusammen und steckte ihn zurück ins Kuvert.

«Und woran liegt es dann?«Sie sah mich an.

«Was?«fragte ich.

«Daß du so bist!«

Bevor ich antworten konnte, klingelte es bei uns Sturm. Meine Mutter stand da und reckte ihr Kinn, um überhaupt noch unter ihrer Mütze hervorsehen zu können. Aus ihrer Rechten ragte drohend ein Alpenveilchen empor, mit der Linken hielt sie ein hin und her schaukelndes Einkaufsnetz hoch, in dem ich die vertraute Springform erkannte.

«Die Gerechtigkeit siegt!«rief sie. Sie sprach sehr laut und benahm sich überhaupt wie eine Schwerhörige, jede ihrer Bewegungen begleitete irgendein Krachen, Schaben, Scheppern.

Robert aß hingebungsvoll den Käsekuchen und störte sich nicht an Mutters Gerede. Der Fall der Mauer war ihr persönlicher Triumph, und über uns machte sie sich lustig, weil wir noch nicht im Westen gewesen waren. Sie wollte unbedingt mit uns nach Bayern fahren, weil dort das Begrüßungsgeld am höchsten sei335, und zusammen ergebe das 560 D-Mark, eine Summe, mit der man etwas anfangen könne.

Später im Theater gestand mir Mutter, wie sehr Michaelas Aussehen sie schockiert habe. Ob wir uns denn nicht freuten?

Bis auf eine Frau, von der niemand wußte, wer sie war, blieb die gesamte erste Reihe leer. Den Rang hatte man gar nicht erst geöffnet. Von den knapp 60 Zuschauern zählten etwa 15 zu Norbert Maria Richters Entourage und etwa 30, so wie wir, zum Anhang der Schauspieler.

Zu Beginn folgte das Publikum den alten Reflexen und beklatschte jede Spitze. Bald aber verlor sich dieser Enthusiasmus, als sei den Leuten endlich zu Bewußtsein gekommen, was in den letzten Tagen geschehen war.

Nach der Pause, etliche waren nicht mehr auf ihren Platz zurückgekehrt, siechte das Stück vollends dahin. Die Schauspieler wurden immer schneller, weil die Reaktionen auf ihre Pointen ausblieben.

Zum Schluß schaffte es Norbert Maria Richter kaum noch, sich zu verbeugen.

Am Dienstag wurde ich mal wieder in die Intendanz gerufen.

Jonas und die Sluminski saßen hinter dem Tisch, als erledigten sie gemeinsam Hausaufgaben. Beide erhoben sich gleichzeitig, wir gaben uns wortlos die Hand und setzten uns. Jonas sah auf das Schreiben vor ihm. Seine Haare fielen ihm ins Gesicht.»Ich gehe«, sagte er. Und dann, indem er den Kopf hob und seine Haare zurückfliegen ließ:»Ich habe gekündigt.«

Er genoß meine Überraschung. Der Sluminski glänzte das Glück in den Augen. Ob es wegen» Krähwinkel «sei, fragte ich. Er schüttelte den Kopf, und auch die Sluminski bewegte ihren leicht.

«Was soll ich denn noch hier?«sagte er und sah mich mit seinen ewig feuchten Augen an, als läge ihm tatsächlich etwas an einer Antwort.

«Ja«, sagte ich.»Die Frage stelle ich mir auch.«

Statt ihm alles Gute zu wünschen, die Hand zu reichen, aufzustehen und zu gehen, blieb ich sitzen. Ich bedaure seinen Weggang, sagte ich. Aber verstehen könne ich ihn sehr gut.

Er wisse, sagte er, was man über ihn tratschen, wie man über ihn herfallen werde, aber zu bereuen habe er nichts. Wenn er auch nur die geringste Chance sähe, hier noch etwas Sinnvolles zu tun, würde er bleiben. Aber davon könne ja keine Rede mehr sein. Ich nickte. Und dann sagte er, daß die Sluminski vorerst die Geschäfte weiterführen werde, die daraufhin aufsah und sagte, daß ihr dabei jede Unterstützung willkommen sei. Ich nickte wieder.»Oder willst du das machen?«fragte Jonas und grinste wie früher.»Willst du?«Ich schüttelte den Kopf, und dann gaben wir uns wieder die Hand.

Als ich in die Kantine kam, wurde Jonas’ Weggang bereits als Sieg gefeiert. Ich saß abseits wie einer vom alten Regime und war froh, daß man mich in Ruhe ließ.

«Jonas geht«, sagte ich zu Michaela, die nicht im Theater gewesen war. Und weil sie mich ansah, als wolle sie sich keinen Bären aufbinden lassen, fügte ich hinzu:»Das hat er mir selbst gesagt.«

Ich konnte ihr nicht erklären, warum ausgerechnet mir diese Aufmerksamkeit zuteil geworden war. Michaela vermutete dahinter einen Trick von Jonas, irgend etwas ganz Durchtriebenes. Da ich schwieg, fragte sie, ob ich denn tatsächlich so eitel sei zu glauben, ihm sei es um mich persönlich gegangen. Ich zuckte mit den Schultern.»Nein, mein Lieber«, sagte sie,»dahinter stecken Strategie und Taktik. Ist vielleicht jemand kurz ins Zimmer gekommen und hat euch gesehen?«

Ich verneinte, erwähnte nun aber die Sluminski. Bei diesem Namen sprang Michaela auf.»Was hatte denn die dabei zu suchen?«rief sie.

Schon als ich Jonas’ Worte wiederholte, trat Michaelas Stirnader hervor.»Vorerst die Geschäfte weiterführen? Die? Die Parteisekretärin?«

«Als Verwaltungsdirektorin«, sagte ich.

«Und du?«rief sie.»Was hast du getan?«

Ich versuchte mich an meine Worte zu erinnern.»Nichts hast du getan«, rief sie, bevor ich antworten konnte,»nichts, gar nichts!«Michaela sah mich an, ihr Kopf schien zu zittern, sie wollte weiterreden, schwieg jedoch, als wagte sie nicht auszusprechen, was sie dachte, und verließ das Zimmer.

Mir war bereits jenes Empfinden abhanden gekommen, das Michaela in solchem Übermaß besaß. Ich war taub, stumm und gefühllos geworden. Ich spürte die Verletzungen nicht mehr.

Als ich am Ende der Woche nichtsahnend Mutter anrief, war das erste, was sie fragte:»Hast du es gewußt? Hast du?«

«Was?«fragte ich. Und als sie nichts sagte, fragte ich:»Was soll ich gewußt haben?«Statt zu antworten, legte meine Mutter auf.

Ich rief wieder an. Ich wußte, daß sie das nicht überleben würde! Ich hatte keine Hoffnung, aber sie nahm ab.

«Mutter!«rief ich. Wahrscheinlich habe ich niemals so flehentlich geklungen.

«Von wegen Schauspielerei! In einem Stoffladen arbeitet Vera! Eine Verkäuferin! Und du hast es gewußt! Stimmt’s?«

Ich war glücklich, diesen Vorwurf von ihr zu hören.336

«Du wolltest es doch glauben!«rief ich.»Warum hast du dich denn nie gewundert, daß Vera dir keine Kritiken schickt?!«

Sie habe immer gedacht, sagte meine Mutter, die seien von der Staatssicherheit aus den Kuverts genommen worden.

Zum Schluß sagte sie:»Ich verlange nur eins, nicht von meinen Kindern betrogen zu werden. Das hält man doch nicht aus, Enrico, in der eigenen Familie. Wer soll denn das aushalten?«Dann legte sie auf.

Ich ging nach Hause. Auf dem Weg dachte ich zum ersten Mal wieder an Emilie Paulini, die wohl an einem der vergangenen Tage beerdigt worden war.

Ihr

Enrico T.

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