[Brief vom 17. 4. 90]


STIMMABGABE

— Also zwanzig?

— Zehn, zehn Mark bei vier Knöpfen.

— Du Saftsack! Eben hast du noch gesagt, zwanzig! Bei vier Knöpfen zwanzig!

— Zehn! — Michael hielt ihm die Hand hin.

— Das kannste dir abschminken, Saftsack! Rolf blinzelte durch den Rauch seiner Zigarette. Die herabfallende Asche streifte seinen Pullover.

— Zwanzig!

— Zehn! Hab nur zehn, hier. — Michael lächelte und zog einen zerknitterten Schein aus der Tasche.

— Dann mach dir ’nen Kopp, wo du den Rest herkriegst. Bei vier Knöpfen zwanzig! — Rolf schnippte die Kippe ins Blumenbeet und setzte sich auf den Rand des Abfallkübels.

— Und wenn sie schon da war? — Michael sah auf die Uhr.

— Denkste, die warten auf dich? — Rolf nickte in Richtung des Wahllokals, an dessen Eingang zwei Photographen standen. Eine Gruppe von Frauen kam lachend heraus. Zwei von ihnen trugen rote Papierfähnchen in Händen. Ein Mann im hellen Anzug lief hinter ihnen her und sang:»Völker hört die Signale! Auf zum …«und verstummte, als sich einige Leute nach ihm umdrehten. Die Frauen pruschten und gicksten und liefen schneller.

Rolf kramte in seinem Beutel. Er nahm die rote Kappe von der Plasteflasche, füllte sie bis zum Rand und trank. Er schenkte erneut ein und reichte die Kappe Michael.

— Rauchen macht durstig.

— Was issen drin? — Michael kostete vorsichtig.

— Tee, was denn sonst! — Rolf grinste.

Michael nippte ein zweites Mal und verzog das Gesicht.

— Schau mal — flüsterte Rolf. Ein gutgekleidetes Paar mittleren Alters war nicht weit von ihnen stehengeblieben. Der Mann beugte den Oberkörper vor, als hätte er Seitenstechen. Die Frau sprach ihm gut zu und streichelte kurz seine Schulter. Der Mann richtete sich wieder auf. Untergehakt setzten sie langsam und mit kleinen Schritten ihren Weg zum Wahllokal fort.

— Volle Stimme — sagte Michael.

— Der hat bestimmt drei Tage nicht. Hab ich an meinem Alten gesehen.

— Drei Tage?

— Wenn ich’s dir sage! — Rolf trank aus der Flasche. — Für die ist das gar nichts. Früher haben die sogar ’ne Woche durchgehalten.

— Früher hatten die auch nichts zu fressen. Früher war das keine Kunst.

— Quatsch! Vor den Wahlen gab’s immer was, sogar Schokolade. Da haben die richtig gefuttert.

— Meine Mutter hat’s gestern nicht mehr ausgehalten und geheult, richtig geheult. Und mein Alter immer nur: Du schaffst das, du schaffst das, das schaffst du. Und als sie nicht aufgehört hat mit Heulen, hat er gesagt, na bitte, dann mach, wie du denkst.

Rolf wieherte. — Mach, wie du denkst? … wie du denkst!

— Mach, wie du denkst — wiederholte Michael ernst.

— Und, hat sie’s gemacht? — Rolf hustete. Er riß eine Packung alte» Juwel «auf und klopfte gegen den Boden der Schachtel, bis ein Filter etwas vorstand.

Michael zuckte mit den Schultern. — War Ruhe dann. Ist zurückgekrochen ins Bett oder so. Krieg ich eine?

— Schlaucher! — Rolf hielt ihm die Schachtel hin. — Ich denk, dir schmeckt’s morgens nicht? — Rolf gab ihm Feuer.

— Schau mal, wie die dackeln. — Michael sah zur Bushaltestelle.

— Sind die so gewöhnt. Die dackeln schon ihr ganzes Leben so.

Den alten Leuten fiel es schwer, vom Bus aufs Trottoir zu steigen. Wer es geschafft hatte, eilte so schnell wie möglich ans Ende der Warteschlange.

— Warum bestellen die nicht die fliegende Wahlurne? Ich würde mit der fliegenden Wahlurne wählen.

Rolf verzog das Gesicht. — Is mir zu eklig.

— Eklig isses, aber immer noch besser als so ein Gemache.

— Absolut eklig. — Rolf trank die Flasche auf einen Zug leer, schraubte sie zu, schlug die letzten Tropfen aus der roten Kappe und drückte sie auf die Flasche.

— Fliegende Wahlurne ist saueklig! — Rolf beugte sich zur Seite und ließ seine Spucke auf den Rand des Kübels fallen.

— Die Rollmann hat gesagt, daß die FDJ drei Türen ausgehängt hat, mindestens drei!

— Drei Türen? Dürfen die gar nicht, wegen der Gesetze und so!

— Quatsch doch nicht, wirst ja sehn. War ’ne FDJ-Initiative, von ganz oben.

— Meine Oma ohne Tür, nee.

— Deine Oma kriegt ja ’ne Tür.

— Und Tina?

— Biste so blöd, oder tuste nur so? — Rolf ließ die Spucke zwischen seine Turnschuhe auf die Fußwegplatte klatschen.

— Mann, Mann! — Michael verbarg die Zigarette in der hohlen Hand. — Kacke, die winken, eh, die winken uns!

— Piß dich nicht voll. — Rolf wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Seine Zigarette fiel zu Boden, er schlang den Beutel ums Handgelenk und folgte Michael.

— Schlaft nicht ein, Sportsfreunde! — Michael und Rolf begannen auf den letzten Metern zu laufen.

— Was gibt’s denn hier rumzuspucken? — Der Polizist hakte seine Daumen ins Koppel.

— Hab nur einmal …

— Nicht wie oft, Sportsfreunde, sondern warum lautete die Frage!

— Mir ist schlecht — sagte Rolf.

— Aber rauchen wie ein Schlot?

— Gelegenheitsraucher.

— Und das da? — Der Polizist deutete auf Rolfs rechte Hand, auf die gelben Stellen an Zeige- und Mittelfinger.

Rolf verzog den Mund.

— Erstwähler, was?

— Ja — antworteten Rolf und Michael gleichzeitig.

— Ihre Dokumente!

Rolf und Michael übergaben dem Polizisten ihre Personalausweise.

— Was machen Sie denn dauernd in der ČSSR?

— Bergsteiger — sagte Michael hastig. Aus dem Wagen war die Funksprechanlage zu hören. Der Beifahrer meldete sich mit Toni 17.

— Rote Bergsteiger, mal davon gehört? — Der Polizist blätterte in den Ausweisen vor und zurück.

— Kurt Schlosser, klar, kenn ich — sagte Michael.

— Den Beutel mal her. — Rolf reichte ihm den Beutel. Der Polizist schraubte die Flasche auf und roch daran.

— Kamillentee, wofür denn das?

— Mir ist übel — sagte Rolf.

— Und warum gehen Sie dann nicht zur Wahl?

— Warten auf ’n Kumpel.

— Und wie heißt Ihr Kumpel?

— Sebastian — sagte Michael — Sebastian Keller.

— Keller, Sebastian also. Und wo wohnt dieser Keller, Sebastian?

— Georg-Schumann-Straße einhundertund…

— Haben Sie kein Blauhemd?

— Hab ich drunter — Michael zog an dem Rundkragen seines Pullovers und stülpte den blauen Kragen darüber.

— Und Sie?

— Bin nicht in der FDJ.

— Nicht im Jugendverband?

— Religiöse Gründe.

— Aber wählen, ich meine, Ihre Stimme, Sie werden doch Ihre Stimme abgeben?

Rolf nickte bedächtig. — Hatte ich vor. — Rolf wandte sich um und spuckte auf die Wiese.

— Na dann, viel Vergnügen, gute Verrichtung! — Er reichte Rolf beide Ausweise. — Und herzlichen Glückwunsch zum Erstwähler! — Er salutierte flüchtig. Als er die Fahrertür des Lada öffnete, sagte der Beifahrer gerade — Verstanden!

Michael und Rolf schlurften in Richtung Wahllokal.

— Was erzählst du da für ’nen Scheiß, religiöse Gründe? — flüsterte Michael.

— Haste gemerkt, wie der Schiß gekriegt hat?

— Und wenn er’s nachprüft?

— Was solln der nachprüfen?

Der Toniwagen fuhr an ihnen vorbei und hielt direkt vor dem Wahllokal.

— Religiös hilft immer. Die sind sogar froh, wenn du religiös sagst und sagst, daß du deine Stimme abgibst.

— Stell dir mal vor, du wärst der einzige, der so was macht.

— Was macht?

— Na, wählen gehen!

— Wieso der einzige?

— Nur mal vorstellen! Du gehst hierher und alle anderen nicht, nur du gibst deine Stimme ab, du allein.

— O Mann …

— Ich würde sterben, lieber würde ich sterben.

— Warum sterben?

— Weil es so peinlich ist! Alle würden sagen, das ist der, der seine Stimme abgegeben hat, und dann würden sie kichern und mir was hinterherrufen.

— Du hast Probleme, nu ma wirklich.

— Mensch, Röhre, da is Tina! Da!

In die Menge vor dem Wahllokal war Bewegung gekommen. Die beiden Photographen trabten in Richtung Bordstein, ein zweiter Toniwagen stoppte, ein Mann mit umgehängtem Tonband und Mikrophon trat als erster vor die Familie, in deren Mitte eine junge mittelgroße Brünette im Blauhemd stand, eine hellrote Schleife im Pferdeschwanz.

Rolf und Michael rannten das letzte Stück und hörten, wie Tina dem Mann mit dem Tonband sagte — Ach, ganz normal, wie immer, viel Bewegung, gesunde Ernährung, viel frische Luft. — Als der Reporter schon zur zweiten Frage ansetzte, fügte sie lächelnd hinzu — Und nicht zu spät ins Bett!

Alle lachten, Tinas dunkle Augen leuchteten.

Michael zog den Pullover aus, so daß auch er jetzt im Blauhemd dastand.

— Vier, es sind genau vier! — triumphierte Rolf. Sie mußten sich auf die Zehenspitzen stellen. — Zwanzig, Mischi, ich krieg von dir zwanzig, vier Knöpfe!

Michael sah gebannt auf das Blauhemd von Tina und nickte. — Is ja gut!

— Schon im Kindergarten — sagte Tina — habe ich mir vorgestellt, wie das ist, das erste Mal die Stimme abzugeben. Wir haben es gemalt, immer wieder. Und einmal durften wir es auch mit Plasteline kneten. Das haben wir heute noch bei uns im Wohnzimmer.

Vater und Mutter nickten. Tina war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Selbst die in der Mitte zusammengewachsenen Augenbrauen waren die gleichen.

— Meine Stimme ist meine Gesundheit. Das haben mir meine Eltern ganz früh schon beigebracht. Und ich hab meine Eltern immer beneidet, weil die jedesmal so richtig glücklich waren, wenn sie ihre Stimme abgegeben hatten. Ja, wirklich, die kamen immer so strahlend nach Hause. Und da dachte ich, das will ich auch machen.

Die Gesichter der Wartenden wirkten konzentriert und angestrengt, wenn überhaupt gesprochen wurde, dann leise. Da es so langsam voranging, hatten sich einige hingehockt und standen selbst beim Vorrücken nicht auf.

— Ist das wirklich nötig? — fragte ein hagerer Mann mit Halbglatze, der gerade aus dem Wahllokal gekommen war. Doch die Frau, die sich auf die Stufen des Eingangs gesetzt hatte, antwortete nicht. Sie sah nicht einmal auf. Der Wahlhelfer schüttelte den Kopf, ging weiter, grüßte hin und wieder jemanden und griff an seinen Krawattenknoten. Neben Michael blieb er stehen.

— Genosse Becker! — rief er. — Genosse Be… — Ein Ellbogen traf sein Brustbein. Der Wahlhelfer krümmte sich.

— Was pläkst du rum! Hier is kein Rummel! — zischte ein junger kräftiger Mann im beigefarbenen Anorak. — Siehste nicht, daß die auf Sendung sind!

Der Wahlhelfer nickte und hob beschwichtigend eine Hand. Er keuchte, er räusperte sich, stand aber wieder gerade und griff nach seinem Krawattenknoten.

— Mein Lieblingsbuch ist ›Ein Menschenschicksal‹ von Michail Scholochow, das hat mich sehr bewegt, dieses harte und schwere Leben, und wie er kämpft und hofft, weil er will, daß das Leben schön wird. Und dann muß ich sagen, wie es Scholochow gelingt, ein Menschenschicksal auf hundert Seiten zu bannen, wo andere dicke Wälzer schreiben und viel weniger sagen,


[Brief vom 21. 4. 90]

ja, Scholochow. Den bewundere ich. Und Aitmatow, Djamila, das schwere Glück, ja, Aitmatow und Scholochow.

Der Wahlhelfer hielt seinen linken Arm hoch und tippte penetrant auf seine Armbanduhr. Der junge Mann in dem beigefarbenen Anorak sah ihn mißtrauisch an.

— Laß das jetzt mal.

— Der Zeitplan. Wir haben einen Zeitplan!

— Wir auch. — Der junge Mann im beigefarbenen Anorak grinste hämisch.

— Ich denke, ich bin gut vorbereitet. Und ich freue mich darauf, meine Stimme jetzt abgeben zu dürfen. Und daß ich das zusammen mit anderen Erstwählern tun kann, darüber freue ich mich auch.

Der Wahlhelfer griff in die Ärmel seines Jacketts und zog die Hemdsärmel vor. Aus den Augenwinkeln beobachtete er Michael.

— Erstwähler?

Michael nickte.

— Und Sie?

— Auch Erstwähler.

— Und Ihr Blauhemd?

— Vergessen.

Der Wahlhelfer zupfte noch immer an seinen Ärmeln. — Sie kommen mit, gleich mit rein — sagte er zu Michael.

— Ich?

— Ausweis dabei? Vorbestraft?

— Nein, also ja, den Ausweis hab ich.

— Ich auch?

Der Wahlhelfer schüttelte kurz den Kopf. Er nahm seine Brille ab, rieb sich die Augen und sah Michael an.

— Kämm dich mal und schlaf nicht, wenn’s losgeht.

Der Wahlhelfer reichte Michael einen kleinen weißen Kamm und stellte sich auf die Zehenspitzen.

— Wir, mein Freund und ich, er ist auch Erstwähler, wir wollten eigentlich zusammen …

— Ohne Blauhemd? Tut mir leid!

— Und wenn ich’s hole, ich wohn gleich …

Der Wahlhelfer machte einen Satz zur Seite. — Genosse Becker, Wilfried, hier, hier bin ich! — Er winkte mit beiden Armen und lief an der Warteschlange entlang Richtung Eingang. Michael und Rolf folgten dem Wahlhelfer.

— Saftsack! So ein Saftsack!

— Kann ich doch nichts dafür, ich hab ihn gefra…

— So ein Arsch!

Plötzlich zog der Wahlhelfer Michael am Arm — einen Augenblick später befand sich die hellrote Schleife von Tinas Pferdeschwanz genau vor seiner Nase. Der Kragen ihres Blauhemds stand etwas ab. Sie roch nach Shampoo und frischer Wäsche. Von hinten wurde geschoben — Saftsack! — rief jemand.

Im nächsten Moment wurde Michael gegen Tina gedrückt. Er spürte ihren Hintern, ihre Haare, eine Schulter.

— Oh, oooh.

Sie drehte sich halb zu ihm um, so daß er das Grübchen auf ihrer rechten Wange sehen konnte.

— Oh, Entschuldigung, aber …

Michael tastete nach seinem Ausweis. Als er aufsah, waren Schleife und Pferdeschwanz verschwunden. Es roch ungelüftet, Schritte hallten durch den großen gefliesten Raum, dessen Rückseite aus Glasziegeln bestand. Die Wahlkommission hinter den aneinandergeschobenen Tischen hatte sich wie eine Schulklasse erhoben und wartete. Genau in der Mitte stand die Wahlurne, ein A4-Blatt bedeckte den Schlitz. Das Transparent an der Wand dahinter verkündete in weißer Schrift auf rotem Grund: Unsere Stimme den Kandidaten der Nationalen Front!

Das Licht wurde angeschaltet, die Neonröhren flackerten. Die Stimmen verloren sich wie in einer Schwimmhalle.

Eine Fliege krabbelte über Michaels rechten Handrücken. Er hob die Hand, die Fliege verschwand und kehrte einen Augenblick später auf dieselbe Stelle zurück. Es knallte, als Michael zuschlug.

Der Wahlhelfer sah kurz auf und winkte Michael. Mit ihm traten eine FDJlerin und ein FDJler heran. Sie warteten auf Tina. Ein Mann mit dottergelben Haaren und einer schwarzen Lederjacke schüttelte ihr die Hand und lächelte. Die Frau neben ihm bewegte ihre dünnen hellroten Lippen im aschfahlen Gesicht. Eine Brille mit Goldrand hing ihr um den Hals.

— Stellt euch mal hierher, Jugendfreunde. Jetzt noch mal zusammenreißen. So, jetzt geht’s los! Los! Viel Glück!

Nacheinander traten sie an den langen Tisch heran, nannten ihre Namen, gaben die Ausweise ab und nahmen sie kurz darauf wieder entgegen. Tina erhielt ihren Stimmzettel zuletzt.

— Mensch, Junge, träum nicht, da rüber jetzt!

Michael wandte sich, ohne die Namen auf dem Stimmzettel anzusehen, den Wahlkabinen zu. Von denen ohne Tür war noch die mittlere frei.

— Mach hin, Junge, mach hin. Wir haben hier einen Zeitplan! — Der Wahlhelfer klatschte wie ein Sportlehrer in die Hände.

Von der Wahlkabine aus sah Michael, wie der dottergelbe Mann und die Frau den Tisch festhielten, auf den Tina stieg. Vorsichtig richtete sie sich auf und ging, ohne eine der vielen ausgestreckten Hände zu ergreifen, bis zur Wahlurne. Sie legte ihren Stimmzettel über die Urne, öffnete rasch den Reißverschluß, die Hose glitt an ihren Beinen herab. Schnell streifte sie ihren Schlüpfer nach unten, hockte sich über die Wahlurne und begann sofort zu drücken. Mit halbgeschlossenen Augen sah sie auf die kaputte Fliese vor Michaels Füßen, über ihrer rechten Schläfe trat eine Ader hervor, das Gesicht wurde bronzefarben.

Der Wahlhelfer, der sich halb abgewandt hatte, rief plötzlich: — Mit dem Gesicht zur Wahlkommission! Tina! Zur Wahlkommiss…!

Erschrocken erhob sich Tina. Selbst für eine junge durchtrainierte Frau war es nicht einfach, sich auf den kippelnden Tischen zu bewegen. Tina korrigierte die Lage ihres Stimmzettels und hockte sich wieder über die Urne. Ihre FDJ-Bluse verdeckte den größten Teil ihres Hinterns.

Michael hatte inzwischen seinen Stimmzettel quer in die Porzellanschüssel gelegt, Hose und Unterhose in einem heruntergezogen und sich gesetzt. Auch er drückte. In der Kabine links von ihm traf ein Urinstrahl das Wasser im Becken, wurde allmählich schwächer und endete abrupt, ohne nachzutröpfeln. Von rechts hörte Michael einen kurzen Furz und ein Stöhnen, dann fiel etwas Schweres auf den Stimmzettel, es knisterte. Der Wahlhelfer nickte mehrmals anerkennend und schloß dabei die Augen.

Michael ließ Tina nicht aus den Augen. Ihr Blauhemd, unter dem sich der breite Verschluß eines BHs abzeichnete, betonte ihre sportliche Figur.

Plötzlich hob sie den Hintern, raffte die Bluse hoch — etwas erschien zwischen ihren Pobacken, wurde länger, ein dünnes Würstchen fiel herab, Gase entwichen, ein verhaltenes — Aaaahh — folgte und dann eine etwas dunklere und kürzere Wurst.

Der Erstwähler rechts von Michael schob bereits seine gewaltige Stimmabgabe vor die Kabine und riß hastig am Klopapier. Auch die Erstwählerin zu seiner Linken hatte allen Kandidaten ihre Stimme gegeben.

Michael erhob sich und nahm behutsam sein Werk aus der Schüssel. Oben war der Stimmzettel etwas feucht geworden. In der Mitte jedoch ruhte rund und glatt seine Stimme, die in einer kecken Spitze endete.

— Wie eine Baiserschnecke, nur eben hellbraun.

Michael konnte ein Lächeln nicht ganz unterdrücken, als er es vor sich ablegte. Überall raschelte jetzt Klopapier. Keine roten Punkte, sondern Marienkäfer hatte Tina als Muster auf ihrem Slip. Ihre Wangen waren gerötet, auf Oberlippe und Stirn glänzte Schweiß. Die Wahlkommission nahm bereits die Blumensträuße aus den Wassereimern. Michael mußte sich beeilen.

Plötzlich preßte jemand seinen Arm. — Es wird im Block gewählt, nicht einzelne Kandidaten! — Michael sah den Wahlhelfer ratlos an.

— Na da, da, Wilfried Becker, bekommt der etwa nicht deine Stimme? Hast du was gegen die GST?

— Soll ich … — Michael hob seinen rechten Zeigefinger.

— Ja natürlich, los, los, alle warten auf dich!

Michael versuchte, das runde Würstchen nach oben und unten zu verschmieren, aber es war zäher als erwartet. Er spuckte, er spuckte ein zweites Mal, es ging gerade so. Aber jetzt sah es schäbig aus, unästhetisch. Michael stopfte als letzter seinen Stimmzettel in die Wahlurne und sah sehr ernst auf den Thälmann-Pionier herab, der ihm drei Nelken mit viel Grün überreichte. Der Handschlag nach dem Pioniergruß war lasch und feucht. Nun, da jeder einen Nelkenstrauß hatte, begann der Applaus.

Draußen wurden die vier Erstwähler stürmisch empfangen. Alle, die vor dem Wahllokal anstanden, hatten sich ihnen zugewandt und spendeten herzlichen Beifall.

Michael war wie betäubt. — Ich dachte, die sind sauer auf uns.

— Warum denn? — Tina lachte. — Warum sollen die denn sauer auf uns sein?

— Ich dachte halt … — Michael hatte Rolf erkannt, der wie wild klatschte. Michael nickte ihm zu und lächelte gequält. Rolf hingegen schien bester Laune zu sein und machte ihm ein Zeichen mit der rechten Hand, die er unterm Gürtel hin und her bewegte, wobei Daumen und Finger immer wieder wie ein Maul zuschnappten.

— Ist das dein Kumpel? — fragte Tina.

— Na ja, Kumpel, wir waren zusammen in der Schule.

— Sag ihm, daß er ein Ferkel ist, mit schönem Gruß von mir. Ein richtiges Ferkel!

— Wegen der vier …

— Der will, daß du mich in den Hintern kneifst. Siehst du das nicht?

— Ach, der tut nur so.

— So ein Ferkel! Der ist neidisch.

— Neidisch?

— Klar doch. Aber wir haben es uns verdient!

Michael zählte die geöffneten Knöpfe an ihrer Bluse. Es waren tatsächlich vier. Er hatte die Wette verloren. Aber dafür sah er den Ansatz ihrer Brüste, den Schatten zwischen ihnen.

Tina lächelte.

— Du bist selbst ein Ferkel! — Ihre Augen leuchteten wieder. Die Leute wollten einfach nicht aufhören zu klatschen.

— Winken, winken! — flüsterte sie.

Michael begann, seine rechte Hand hin und her zu bewegen.

— Na siehste, Mischa, es geht doch! — rief Tina.

Michael war es unangenehm, weil seine Finger klebten. Aber das störte beim Winken nicht. Und so bewegte er weiter seine rechte Hand hin und her.

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