Liebe Nicoletta!
Es geht mir besser, viel besser; am Mittwoch will ich in die Redaktion, probeweise, für ein paar Stunden. Und Sie? Wie geht es Ihnen? Wenn ich einmal nicht an Sie denke, erschrecke ich, als hätte ich mein Portemonnaie verloren.
Eigenartigerweise sind Sie der einzige Mensch, dem gegenüber ich mich frei fühle, von meiner Vergangenheit zu sprechen und zu erklären, warum ich so geworden bin, wie ich bin.96
Ich muß noch etwas vorausschicken.
Mein Vater ist Schauspieler gewesen — nicht mal ein mittelmäßiger, sonst hätte er bessere Rollen gehabt —, engagiert bei den Landesbühnen Sachsen. Er hatte einen Herzfehler und wußte, daß er kaum die 40 erreichen würde. Vielleicht wurde er deshalb zum Tyrannen. Er war besessen von der Idee, daß Vera, meine Schwester, eine begnadete Begabung sei, eine Schauspielerin, wie es nur eine in jeder Generation gebe — Vera war zwölf, als er starb.
Manchmal fürchte ich, sie glaubt bis heute, daß ihr nur der Vater zu einer großen Karriere gefehlt hat. Noch mit sechzehn, siebzehn gab sie mir die Schuld an seinem Tod (er sollte mich vom Hort abholen, war wie immer zu spät und lief vor ein Auto). Zudem behauptete er hartnäckig, er habe allein wegen des endlos langen Weges ein Zimmer in Radebeul gemietet. Dort hatten die Landesbühnen Sachsen ihr Stammhaus.
In Wahrheit lebte er mit einer Chorsängerin in diesem Zimmer und schlief nur bei uns, wenn meine Mutter Nachtdienst hatte. Die Sängerin bewunderte ihn im selben Maße, wie ihn meine Mutter einst bewundert hatte. Ihr konnte er wieder erzählen, daß er hoffe, auf der Bühne zu sterben, und sie tröstete ihn über die Hartherzigkeit meiner Mutter hinweg, die irgendwann gesagt haben soll, bei seinen Rollen werde das sowieso niemand merken und er möge endlich damit aufhören.
Ohne Photos wüßte ich wahrscheinlich gar nicht, wie mein Vater aussah, mit seinem merkwürdigen Lächeln, das er ganz in den linken Mundwinkel zog, weil er glaubte, das sei mephistophelisch. Vera — es gibt ein Photo, auf dem man das sieht — war bei der Beerdigung wie eine Erwachsene gekleidet, ganz in Schwarz. Geweint hat sie nicht oder nur, wenn sie allein war, so wie sie auch nicht mit uns sprach, sondern alles ihrem Tagebuch anvertraute. Niemand weiß, warum Vera meine Mutter abgelehnt hat, schon lange vor dem Unglück und vor der Pubertät. Dabei wurde Vera, solange ich denken kann, bevorzugt, was ich als natürlich empfand, weil Vera den Eindruck erweckte, sie hätte ihre Eltern verloren und müßte deshalb bei uns wohnen, wohingegen ich ja meine Mutter hatte. Unsere Mutter arbeitete sich an der Prophezeiung ihres Mannes ab und tat alles, damit aus dem erfolgreichen Dresdner» Sprecherkind «Vera Türmer eine Bühnendiva, eine Dietrich werde.
Obwohl meine Mutter eine wirklich gute OP-Schwester war und ist und Gott sei Dank keine künstlerischen Ambitionen hegte, galten bei uns die sogenannten ordentlichen Berufe nichts. Auf unseren Spaziergängen in der Dresdner Heide war immer von Mozart die Rede, den sie in einem Armengrab verscharrt hatten, von Hölderlin, der verrückt geworden war, von Kleist, dem Selbstmörder, von Beethoven, den das Publikum ausgelacht hatte. War nicht jedes wahre Genie verspottet worden, hatten sie nicht alle furchtbar gelitten — ausgenommen Goethe —, und hatten sie nicht trotzdem etwas geschaffen, wofür ihnen die Menschheit heute unendlich dankbar ist? Aus Dunkelheit durch Kampf zum Licht!
Die Erfahrungen mit meinem Vater änderten daran nichts, im Gegenteil, meine Mutter schraubte ihre Vorstellung von Genie und Werk nur um so höher. Mit anderen Worten: Wären meine Eltern mit ihrem Leben halbwegs zufrieden gewesen, hätten sie uns, besonders aber meiner Schwester, einiges erspart.
Ich teile Ihnen das allein aus Gründen der Vollständigkeit mit, es erklärt alles und nichts.
Ich will Ihnen ja nicht mein Leben erzählen, sondern allein jener Spur folgen, jenem Pfad, auf dem ich so jämmerlich in die Irre gegangen bin und den zu beschreiben am Ende eine Art Geschichte ergeben könnte, eine böse Geschichte, jedoch als abschreckendes Beispiel vielleicht nicht ohne Nutzen.97
In den Sommerferien der siebenten Klasse, ich war ein Jahr später als mein Jahrgang eingeschult worden, also immerhin fast vierzehn, verbrachte ich gemeinsam mit meiner Mutter drei Wochen in einem Bungalow. Der stand mitten im Kiefernwald in der Nähe eines klaren Sees, in Waldau im Südosten Berlins.
Das kleine Anwesen gehörte einem kinderlosen Ehepaar aus Jüterbog, Freunden meines Vaters, die im Sommer nach Bulgarien oder Ungarn fuhren und uns eine nicht ganz uneigennützige Treue bewahrten. Meine Mutter, die für unseren Aufenthalt zahlte, war es auch, die die Dachrinne säuberte, Gardinen wusch, Teppiche klopfte, mit dem Leiterwagen zum Altstoffhandel fuhr, die Propangasflasche nachfüllen ließ, die Grubenentleerung bestellte und selbst kleine Verbesserungen veranlaßte, wie die Installation eines Außenlichtes — sie wollte kein zweites Mal auf eine Kröte treten.
Da es im Bungalow keinen Fernseher gab, fürchtete ich die Langeweile bereits vor der Abfahrt. Langeweile bestimmte überhaupt mein Leben. Ich langweilte mich täglich, obwohl ich dreimal pro Woche zum Sportschießen fuhr (ich galt bei» Olympisch Schnellfeuer «als nicht unbegabt).
Es gibt ein Photo, auf dem ich in Waldau mit krummem Rücken, starrem Blick und kurzen Hosen am Tisch sitze und mich an den Waden streichle. Ich weiß noch genau, woran ich im Moment der Aufnahme dachte, nämlich an die neue Oberliga-Saison, sah Dynamo Dresden Spiel um Spiel gewinnen und mit einer makellosen Bilanz Meister und Pokalsieger werden.
Im Kindergarten hatte ich Lesen für eine Art Zauberei gehalten, die man ab einem bestimmten Alter ganz selbstverständlich beherrscht. Doch im selben Moment, da ich begriff, daß es sich beim Lesen um eine ebenso mühsame wie eintönige Buchstaben- und Silbenzusammenzieherei handelte, war es ein ödes Schulfach geworden.
Deshalb war die Frage meiner Mutter, welche Bücher sie für den Urlaub einpacken sollte, an Scheinheiligkeit kaum zu überbieten.
Mir zuliebe spielte sie Federball, Schach oder Schiffeversenken. Ich fuhr Rad und erledigte die Einkäufe im Dorfkonsum, wo es ab acht das» Sportecho «gab. Als Frühaufsteher verbrachte ich die erste Stunde des Tages, indem ich den» Stern«-Recorder unserer Vermieter auf den Gepäckträger des alten Herrenrades schnürte und im Wald zur Musik meiner Kassetten umherradelte.
Am dritten Tag unterschätzte ich bei einem dieser Frühausflüge eine Pfütze. Mein Vorderrad blieb darin stecken, als hätte eine eiserne Hand danach gegriffen — ich flog vom Sattel. Ein Schmerz, schlimmer als das schlimmste Seitenstechen, nahm mir den Atem, Sand brannte in meinen Augen. Fürchterlich aber war die Stille. Halb blind, mit gebrochenen Rippen, wie ich glaubte, heulend vor Wut und Schmerz, kroch ich zur Pfütze und zog den» Stern«-Recorder aus dem Modder. Einmal, zweimal, dreimal nahm ich die Kassette heraus, legte sie wieder ein, doch vergeblich. Nur das Radio funktionierte noch.
Während ich im Sand kniete und versuchte, mit den Fingern den Matsch aus den Ritzen der Holzverkleidung zu kratzen, lief auf Mittelwelle eine Morgenandacht. Wenn Gottes Wort wie Regen auf den Boden fällt, kann es sein, daß es nutzlos verrinnt. Um es aufzufangen, soll man Gräben ziehen. Der Pfarrer sprach die ganze Zeit vom Gräbenziehen, was nichts anderes hieß, als täglich das Neue Testament zu lesen, um auf Gottes Wort vorbereitet zu sein. Zudem gebe Gott jedem zu seiner Zeit ein Zeichen. Nach den letzten Worten des Pfarrers schaltete ich das Radio aus.
Ich wußte nicht, was ich tun sollte. An einer Ecke war die Holzverkleidung abgesplittert. Ein» Stern«-Recorder kostete mehr, als meine Mutter im Monat verdiente. Als ich aufsah, stand etwa zwanzig Meter entfernt ein Reh auf dem Weg. Es wandte mir den Kopf zu. Nachdem wir uns eine Weile angesehen hatten, stakste es weiter und verschwand in der Schonung.
Der Anblick eines Einhorns hätte mich nicht tiefer erschüttern können. Plötzlich betete ich. Ich dankte für das Zeichen, dafür, daß Gott mich in den Wald geführt und zu mir gesprochen hatte. Und zum ersten Mal war ich es selbst, der das Wort an Gottvater richtete, nicht irgendein Kind, das etwas vor dem Einschlafen aufsagte. Nein, jetzt betete ich. Ich bat um Hilfe, Hilfe in der Not, und schloß meine Mutter und den Radiopfarrer in meine Bitte um das ewige Leben mit ein. Ich versprach, ab heute meine Gräben zu ziehen, tiefe Gräben, in denen sich Gottes Wort sammeln sollte, aus denen ich schöpfen würde immerdar. Derart gestärkt und beruhigt, fand ich tatsächlich das abgesplitterte Holzstück und hoffte auf ein weiteres Wunder.
Ob ich unter die Räuber gefallen sei, fragte meine Mutter.
Ich durchstöberte das Bücherbord über dem Nachtspeicherofen. Herr, betete ich, gib mir Dein Neues Testament. In der Hand hielt ich dann ein dickes graues Buch ohne Schutzumschlag. Den roten Schriftzug entzifferte ich als Martin Eden. Jack London sagte mir etwas. Ich setzte mich in einen Liegestuhl und begann zu lesen, hätte aber wohl bald damit aufgehört, da weder von Wölfen noch Goldgräbern die Rede war, sondern von einem Schriftsteller. Allein daß mich dieses Buch ausgewählt hatte, konnte kein Zufall sein. Je weiter ich las, um so vertrauter erschien mir die Geschichte.
Als ich zum Mittagessen gerufen wurde, war es eins, ja schon nach eins, der ganze Vormittag war verflogen. Ich hatte mehr als drei Stunden gelesen! Da begriff ich: Ich mußte mich nicht mehr langweilen! Wer schon als Kind gelesen hat, versteht gar nicht die kopernikanische Dimension, die diese Einsicht für mich hatte!
Der Tag war noch nicht zu Ende, und was folgte, werden Sie erahnen. Schließlich las ich die Geschichte vom hungernden, aber hartnäckig weiterarbeitenden Schriftsteller, der es dennoch schaffen würde …
Als ich mich abends duschte, fragte ich mich nach der Bedeutung dieses Tausches: Ich hatte die Bibel gesucht und Martin Eden gefunden. Was wollte Gott mir sagen? Während das warme Wasser über mein Gesicht lief, traf mich die dritte Einsicht dieses Tages: Ich sollte Schriftsteller werden!
Reglos verharrte ich unter der Dusche. Ich sollte eine Geschichte über mein Erlebnis im Wald schreiben und wie wundersam es war, daß meine Kassette hatte schweigen müssen, das Radio aber unversehrt geblieben war und ich so Gottes Stimme hatte vernehmen dürfen. Ich würde schreiben, was andere sich nicht zu sagen wagten, zum Beispiel, daß der Westen besser ist als der Osten, daß wir nicht in den Westen fahren dürfen, obwohl wir das wollen. Wenn alle anderen auf Arbeit gingen, würde ich zu Hause bleiben und schreiben. Betrat ich eine Gaststätte, würden sich alle nach mir umdrehen. Denn alle kannten meine Rede, in der ich den Staat angeklagt hatte.»Wenigstens einer«, würden sie flüstern,»wenigstens einer, der den Mund aufmacht. «Ich und meine Familie aber hätten ein schweres Leben, denn der Regierung wäre ich ein Dorn im Auge.
Das kalte Wasser riß mich aus meiner Traumwelt. Meine Mutter nannte mich gedankenlos und egoistisch, weil ich ihr kein warmes Wasser übriggelassen hatte, obwohl sie es gewesen war, die den Ofen geheizt und das Holzstückchen wieder an den Recorder geklebt hatte.
Ihre Vorwürfe trafen mich doppelt. Ich mußte schweigen. Eines Tages jedoch würde ich darüber schreiben, und meine Mutter würde es lesen und schließlich verstehen, daß dies kein Egoismus gewesen war und auch keine Gedankenlosigkeit, sondern das genaue Gegenteil davon. Sie würde stolz auf mich sein, lachen und zugleich ein bißchen weinen müssen, weil sie von der Geburt des Schriftstellers nichts geahnt hatte, obwohl diese vor ihren Augen geschehen war.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, lächelte ich, als ich das graue Buch neben dem Kopfkissen erblickte. Wie brüderlich fühlte ich für Martin Eden. Und dann lächelte ich darüber, daß ich gelächelt hatte.
Ich fuhr zum Bäcker und wartete, bis der Dorfkonsum öffnete. Mein erstes Schreibheft, eine A5-Kladde, versteckte ich im Schuppen.
Nach dem Frühstück verzog ich mich in den Liegestuhl. Doch zum Lesen war ich zu aufgeregt. Mich drängte es, das Erlebte festzuhalten, ich fürchtete, etwas zu vergessen. In einem unbeobachteten Augenblick brach ich auf, die Kladde unterm Hemd, den Kuli in der Satteltasche. Am Ort meiner Bekehrung würde ich meinen ersten Satz schreiben! Den ersten Satz eines großen Dichters. Denn weder damals noch später hegte ich irgendwelche Zweifel an meiner Begabung.
Als ich endlich ansetzte, versagte der Kuli. Deshalb beginnen meine Aufzeichnungen vor Datum und Uhrzeit mit wilden Kringeln. Punkt zehn schrieb ich schließlich:»Gelobt sei Jesus Christus!«
Was dann geschah, ließ sich nur mit dem Wirken des Heiligen Geistes erklären. Er führte meine Hand sieben Seiten lang, ohne daß ich auch nur einmal stockte, ohne daß ich auch nur ein Wort verbessern mußte. Die Formulierungen begeisterten mich selbst. Ich schenkte der Welt etwas, was sie in dieser Form noch nicht kannte. Selbst wenn ich nie wieder eine Zeile zu Papier bringen sollte, diese hier würden bestehenbleiben!
Bei meiner Rückkehr ereignete sich etwas Merkwürdiges, das mich, jetzt schon mit Wundern vertraut, ängstigte. Auf dem Blechdach unseres Häuschens lag Schnee! Ich stieg vom Rad. Was ich sah, sah ich: Schnee! Ein Schneefeld von der Größe unseres Blechdaches. Nirgendwo sonst war es weiß, selbst als ich schon die Hälfte des Grundstücks überquert hatte, waren Anschauung und Urteilskraft nicht zu vereinen. Plötzlich stand meine Mutter vor mir.»Träumst du?«rief sie. Mein Blick aber blieb auf das Blechdach gerichtet.»Schnee«, sagte ich.»Stimmt«, sagte sie.»Das leuchtet wie Schnee.«
Nun kamen glückliche Tage. Morgens zwischen sieben und acht saß ich bereits an einem kleinen Tisch in vollkommener Stille, beobachtete die Sonne, wie sie vorsichtig mit ihren Spinnenarmen durch die Kiefern tastete, sich aufs Moos legte, das meine Mutter mit der Harke von Nadeln und Zapfen befreit hatte, und es zum Leuchten brachte. Die Kladde lag unter dem aufgeschlagenen Martin Eden, und sowenig das Buch sie verdeckte, gab auch ich mir keine Mühe mehr, meine Berufung zu verbergen. Es war gar nicht möglich. Denn ich wechselte so häufig zwischen Buch und Kladde hin und her, daß Lesen und Schreiben zu ein und derselben Tätigkeit wurden, der einzigen, zu der ich Lust hatte und zu der ich geboren schien. Plötzlich fand ich in mir hundert Gedanken, wo früher kein einziger gewesen war.
Ich erinnere mich allerdings kaum noch an Martin Eden und an nichts mehr, was ich damals schrieb. Heute scheint es mir, als hätte ich das alles nur betrieben, damit sich zwischen den Seiten die Welt verfing, um mir nun, in der Erinnerung an diese Tage, mit all ihren Geräuschen, Gerüchen und Farben in den Schoß zu fallen. Würde ich mich sonst an die Igelit-Tischdecke98 mit dem grünweißen Würfelmuster erinnern, die mir beim Schreiben an den nackten Knien klebte? Wie oft nahm ich mir vor, sie zu verschieben, was nur ein Handgriff gewesen wäre; ich habe es nie getan, als fürchtete ich, damit die Quelle meiner Inspiration zu verlieren.
Sah ich vom Liegestuhl aus durch die Kiefernkronen — die Sonnenbrille, die ich im Küchenbuffet gefunden hatte, färbte alles türkis —, glaubte ich vom Meeresgrund aus hinauf zum Wasserspiegel zu blicken. Glitt die Sonne hinter einen Stamm, dunkelte das Hellrot zu Purpur. Am schönsten war das Abendlicht, das beinah waagerecht über den See kam und die Stämme rostrot glühen ließ. Schließlich, wenn das Licht aus den Baumkronen verschwand, tauchte es die Bäuche der Wolken in ein Violett, von dem sich abzuwenden Frevel gewesen wäre. Morgens, wenn ich Brötchen holte, hingen zwischen den Gräsern Spinnennetze im gleichen Weißgrau wie der Morgenmond, zurückgebliebene Schemen, Nachtschatten.
Jedes Geräusch diente nur dazu, mich der Stille zu versichern (einer Stille, von der später, viel später noch zu reden sein wird).
Meine Mutter, glücklich, daß ihr Sohn endlich zu Verstand gekommen war, dankte es mir, indem sie mich umhegte und bewachte, während ich mit den 26 Zeichen spielte.
Zu den Mahlzeiten setzte ich mich als Schriftsteller, erschöpft von der Arbeit. Und auch davon wollte ich schreiben, wie es ist, wenn man nach der Arbeit ruht. Jeder Gedanke, jede Regung, jede Beobachtung war kostbar und vergänglich. Ich war wie ein Sammler, ein Entdecker, unterwegs, um all das Merk- und Denkwürdige aufzulesen, zu beschreiben und der Menschheit mitzuteilen. Wie hatte ich bisher nur gelebt? Wie hatte ich dieses Leben ertragen? Wie ertrug meine Mutter ihr Dasein?
In den letzten Tagen besuchte uns Vera. Sie stellte keine Fragen. Sie sah nur auf das Buch in meinen Händen und verkündete:»Oh, Enrico liest ein Buch mit dem interessanten Titel ›Vater Goriot‹«oder:»Ah, mein Bruder Enrico macht sich mit dem Werk des großen humanistischen Schriftstellers Charles Dickens vertraut!«Mehr hatte ich von ihr nicht zu befürchten. Zudem profitierte ich davon, daß derjenige, der las oder schlief, bei meiner Mutter als unantastbar galt, eine Regel, die mich bisher benachteiligt hatte.
Die Ankunft in Dresden erlebte ich, der fast die Hälfte der Kladde mit den Abenteuern seiner Seele gefüllt hatte, als Triumph. Vor drei Wochen war ich von hier als dummer Junge aufgebrochen, der nichts von sich und der Welt und seiner Bestimmung in ihr geahnt hatte. Als junger Schriftsteller, der bald sehr berühmt sein würde, kehrte ich zurück.
Sie, Nicoletta, werden das für Kinderei halten. Für mich aber war es der Beginn meines Irrweges. Ich werde ja wohl zu hören bekommen, was Sie davon halten.
In Gedanken ganz bei Ihnen, Ihr Enrico T.