Mitternacht war schon lange vorbei, aber der Gefreite Türmer konnte nicht schlafen. Auf das Lenkrad gestützt, fixierte er den Thermostat seines SPWs. Der Zeiger näherte sich dem roten Feld. Der Gefreite Türmer fragte sich, ob er den Mut aufbringen würde, ein Partisan, ein Agent, ein konsequenter Kriegsgegner zu sein und die Motoren des SPWs so heiß laufen zu lassen, daß sich die Kolben festfräßen. Doch jedesmal wenn der Zeiger das rote Feld überquerte, hatte der Gefreite Türmer die Kurbel betätigt und die Jalousien über den Motoren geöffnet. Und jedesmal war die Temperatur sofort gesunken und der Zeiger in die Senkrechte zurückgekehrt.
In den ersten Wochen nach seiner Einberufung hatte sich der Gefreite Türmer, der damals noch Soldat gewesen war, Vorwürfe gemacht, weil er das Soldatendasein gar nicht so schlecht gefunden hatte. Er hatte nichts auszustehen gehabt. Und sobald er im SPW am Lenkrad saß, war er froh gewesen. Fahren machte ihm Spaß. Und er liebte sein Gefährt, sein Nilpferd, mit dem ihm kein Weg zu steil oder zu sandig war und in dem er sogar über die Elbe schwimmen konnte.
Der Gefreite Türmer fand keinen Schlaf. Seine Hände lagen gefaltet im Schoß, sein rechter Fuß, vor dem Gaspedal auf die Ferse gestellt, war nach rechts gedreht, das linke Bein angezogen, alles wie immer, wenn er wartete. Die meiste Zeit seines anderthalbjährigen Grundwehrdienstes hatte er gewartet. Aber diese Nacht war seine letzte im Feldlager. Morgen würden sie zurück ins Regiment fahren — sozusagen nach Hause —, und dann wären es keine zwei Wochen mehr bis zur Entlassung. Ihn selbst überraschte die Wehmut nicht, die er bei diesem Gedanken empfand. Er hätte sich gern unterhalten. Er liebte es, mit den anderen Fahrern zusammenzustehen, zu rauchen und zu reden, während die Gruppen über den Acker rennen mußten.
Der Gefreite Türmer reckte sich. Die Lehne seines Sitzes hatte links eine Mulde. Andere Fahrer nannten das einen» Krüppelsitz«. Der Gefreite Türmer aber hatte den Fahrersitz bequem gefunden und die Mulde im Laufe seiner Dienstzeit weiter vertieft. Die Lehne war zu seiner Lehne geworden, wie auch die Fahrerhaube zu seiner Fahrerhaube geworden war. Überhaupt fühlte er sich im SPW wohl.
Der Gefreite Türmer hörte das Atmen seiner Gruppe, die wie eine Großfamilie auf den Abdeckblechen lag oder schräg auf der vorderen Bank oder auf dem Boden, unter dem Sitz des Richtschützen. Auf dem Sitz neben dem Gefreiten Türmer schlief Unteroffizier Thomas, sein Gruppenführer, den Kopf mit dem Stahlhelm gegen die Wand des SPW gelehnt. Ihn würde man für die zerstörten Motoren verantwortlich machen und nach Schwedt ins Militärgefängnis stecken. Denn Unteroffizier Thomas hätte dem Gefreiten Türmer verbieten müssen, den Motor anzulassen, ganz egal wie sehr die Gruppe fror — Mitte April waren die Nächte noch kalt, zumindest im Wald; die Pfützen in den Spurrinnen waren morgens von einer dünnen Eisschicht überzogen. Aber kein Fahrer ließ seine Leute frieren.
Der Zeiger erreichte die Mitte des roten Feldes. Die Hände des Gefreiten Türmer strichen von oben herab das Lenkrad entlang, bis sie sich über seinem Schoß berührten. Mit der Rechten bedeckte er die Radnabe und hätte beinah auf die Hupe gedrückt. Wie oft hatte er so den Vorausfahrenden gewarnt, wenn dieser von der Straße abkam. Er selbst war auf die Aufmerksamkeit des hinter ihm Fahrenden angewiesen, falls er einnickte.
Denn wer stundenlang die roten Rückleuchten als einzige Orientierung hat, wird davon hypnotisiert. Er hatte Bahnübergänge oder haushohe Schrotthaufen halluziniert — und dann die Luke über seinem Kopf aufspringen lassen, um von der Kälte wach gerüttelt zu werden, er hatte sich beschimpft und ins Gesicht geschlagen. Trotzdem wollte er nichts anderes sein als Fahrer. Allein die Fahrer durchwachten die endlosen Nächte, während alle anderen schliefen, eingelullt von dem Rattern und der Wärme der Motoren. Der Gefreite Türmer war regelrecht betroffen, ja gerührt gewesen, wie fraglos die anderen ihm von Beginn an vertraut hatten, als wäre es selbstverständlich, daß er dieses tanzende, schlingernde Schiff sicher durch die Nacht steuerte. Darin hatte der Stolz der Fahrer seinen Ursprung. Sie waren wie Väter zu ihren Familien, sie, die Fahrer, waren es, die der Gruppe Geborgenheit schenkten.
Der Gefreite Türmer mußte sich nicht nach ihnen umdrehen. Das leise Schnarchen gehörte zu dem Soldaten Sommer, das Wimmern zu dem Gefreiten Kapaun, ein Wimmern, das so gar nicht zu dessen Bärenstatur und Lachen passen wollte. Soldat Petka, der mit seinem hutzligen Gesicht und dem Stahlhelm aussah wie ein Pilz, lachte manchmal im Schlaf. Nein, nie
[Brief vom 11. 7. 90]
würde er es über sich bringen, sie zu verraten und der Armee zu schaden. Nicht weil er es geschworen hatte, das wäre lächerlich, nein, der Gefreite Türmer war dankbar, weil bei der Armee — ob man das nun wahrhaben wollte oder nicht — alles an seinem Platz war. Der Gefreite Türmer mußte pinkeln. Er kurbelte die Jalousien über den Motoren auf. Dem Schalter gab er einen Klaps, so daß die Motoren verstummten. Er zog die neuen Stiefel an, die der Schreiber ihm verschafft hatte. Sie waren etwas zu groß, nur ein oder zwei Nummern. Aber das machte nichts.
Der Gefreite Türmer drehte den Lukengriff über seinem Kopf und stemmte sich, die Stiefel schon auf dem Sitz, nach oben. Den Hintern auf dem Lukenrand, zog er die Beine an und drehte sich heraus, drückte mit den Fingerkuppen die Luke herab, verschloß sie vorsichtig und ließ den kostbaren Vierkant lautlos in die rechte Beintasche gleiten. Er tastete hinab zum Fußlauf und hockte sich hin. Er hatte ein paar Lichter erwartet, zumindest im Zelt für die Wachen. Wie sehr wünschte er sich jemanden, mit dem er rauchen und reden konnte. Und vielleicht auch etwas trinken.
Der Waldboden empfing den Gefreiten Türmer lautlos, als wäre er barfuß gesprungen. Nur das Rascheln der Uniform war zu hören, und bei jedem Schritt das» schluppschlupp, schluppschlupp «der Stiefelschäfte.
Die kalte Waldluft erfrischte den Gefreiten Türmer. Von überall her strömten die Gerüche auf ihn ein, sie erhoben sich vom Boden, sie ließen sich von den Zweigen auf ihn fallen, er mußte nur die Hand ausstrecken, um die Luft in ihrer feuchten Körperlichkeit zu fassen.
Er öffnete die oberen Knöpfe seiner Wattejacke, griff mit beiden Händen in den Ausschnitt von Pullover und Unterhemd und leitete einen frischen Luftzug auf seine Haut. Plötzlich konnte er riechen, was sein Körper in der Winteruniform abgelagert hatte, vor allem den Zigarettenrauch, der vom kalten Eisen des SPWs gebeizt war, aber auch den Dunst der Eßgeschirre, in denen die braune Sauce mitsamt den Kartoffelresten klebte.
Der Gefreite Türmer suchte nach den Wachen, fand aber niemanden. Trotzdem wollte er nicht hier pinkeln, wo man ihn überraschen konnte. Außerdem war es angenehm zu gehen. Die Kiefern standen nicht dicht. Die Zweige und Äste unter seinen Stiefeln knackten selten, die meisten drückte er lautlos in das von Nadeln übersäte Moos. Er erkannte die hellen Stellen an den Stämmen, die von den SPWs geschrammt worden waren, bis jedes Fahrzeug seinen Platz gefunden hatte, diese dösenden Reptilien, von denen einige, als träumten sie lebhaft, ihre Motoren laufen ließen.
Das Sperrgebiet war gut für den Wald. Hierher kam kein Förster oder Holzfäller, erst recht kein Pilzsucher. Hier gab es nichts als das langsame Werden und Vergehen, hier keimten die Bäume, sie wuchsen und lebten ihre Jahrzehnte oder vielleicht auch ein ganzes Jahrhundert und gingen wieder zugrunde, wenn ihre Zeit vorüber war. Dann rissen sie andere mit und schlugen dröhnend auf den Waldboden. Ihnen folgte das Sonnenlicht und erweckte das Unterholz, ließ Farne und Buschwerk gedeihen, tausenderlei Unkraut, bis der Schnee alles begrub und ein paar Flechten und Moose auf dem zerfallenden Holz die einzigen Farbflecken blieben. Alles förderte die Fäulnis, alles war nur dazu da, das Leben der modrigen Erdoberfläche in Gang zu halten, den Humus allen Seins. Selbst die Stille hier schien alt und undurchdringlich, und die Luft satt von Düften, an denen der Windhauch immer wieder wie an einem schweren Vorhang ermattete.
Der Gefreite Türmer war schon ein gutes Stück gelaufen, als ihm schwindlig wurde, mit einer Hand an einen Stamm gestützt, ruhte er aus, als hätte er sich überanstrengt. Er hatte Hunger. Vor allem aber war er durstig. Der Gefreite Türmer atmete durch den Mund. Doch ein verborgenes Kraut, dessen Namen er nicht kannte, erfrischte ihn und trieb ihn weiter auf seinem Pfad, der nicht von Menschen angelegt war, sondern vom Wald selbst. Die Tiere und die Launen der Vegetation führten ihn voran, wenn er nur die ihm gegebenen Winke verstand. Ihm gefiel es, sich in der Nacht zwischen den Bäumen zurechtzufinden. Erst im Dunkeln erwacht der Körper tatsächlich, erst da vertraut er dem Wissen, das in seinen Gliedern steckt.
Der Gefreite Türmer verfiel in einen leichten Dauerlauf, wobei er Arme und Schultern in der Art eines Slalomläufers bewegte. Ihm war anzusehen, wieviel Freude ihm das machte.
Gegen das erste Morgengrauen zeichneten sich die abgestorbenen Äste der Kiefern wie Schlangen ab, manche jedoch liefen nicht spitz zu, sondern waren zerspellt, so daß ihre Enden Fledermäusen glichen oder den Fratzen gotischer Wasserspeier. Schneller und schneller lief er, wandte den Kopf, duckte sich, wich in der Manier eines Boxers den Zweigen aus — manche trafen ihn dennoch, peitschten ihn wach, trieben ihn an. Mehrmals hatte er schon geglaubt, eine Lichtung erreicht zu haben, aber dann war es nur der Beginn einer Schonung gewesen oder ein Weiher. Die Stiefelschäfte schlugen gleichmäßig gegen Schienbein und Wade — schluppschlupp, schluppschlupp. Er hörte Vögel. Eben war es noch still und dunkel gewesen und er das einzige schlaflose Wesen. Nun schien der ganze Wald erwacht zu sein.
In den Eingeweiden spürte der Gefreite Türmer Nadelstiche. Nur noch ein paar Schritte, und er erreichte ein weites, schier endloses Feld. Er trat aus dem Wald heraus, warf die Wattejacke ab, streifte die Hosenträger von den Schultern, riß sich die Hosen herunter und hockte sich hin. Einmal stöhnte er vor Schmerz, dann kam es aus ihm heraus. Er versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal gekackt hatte. Es war lange her. Der Gefreite Türmer genoß seine Entleerung.
Wenige Augenblicke später jedoch beunruhigte ihn dieser Vorgang. Er wollte kein Ende nehmen, und es stank bestialisch. Der Gefreite Türmer watschelte vorwärts, weil ihn der eigene Haufen wie ein Tier gestupst hatte. Er sah sich um, als würde ihn die eigene Kacke verfolgen. Nasses Gras streichelte seinen Hintern.
Der Gefreite Türmer verstand nicht mehr, wie er so eingesperrt, zusammengepfercht und anspruchslos hatte leben können. Die Vorstellung, wieder in den SPW zurückzukehren, ließ ihn schaudern.
Selbst mit geschlossenen Augen, ganz seiner Nase vertrauend, hätte er sagen können, woraus diese Haufen bestanden. Am schlimmsten roch der letzte, der vom Komplektetag. Aber auch das Gulasch von vor zwei Tagen und das Weißkraut, das mit irgend etwas versetzt gewesen war und nach Auspuff geschmeckt hatte, verpesteten diesen silbergrauen Morgen. Seine Schenkel und Knie schmerzten.
«Verdammt! Verdammt!«schrie der Gefreite Türmer.»Verdammt!«Er hatte seine Hosen bepißt, er hatte es gar nicht gemerkt. Er richtete sich auf. Die Hosen zog er gar nicht wieder hoch, sondern trat darauf, bis er sie samt der Stiefel und Socken los war.
Er knöpfte die Pistolentasche auf, zog die Pistole heraus, warf sie im weiten Bogen von sich und sah, wie sie lautlos in dem hohen feuchten Gras verschwand. Er wollte nichts mehr mit der Armee zu tun haben.
Schnell entledigte er sich der restlichen Sachen. Ihn fröstelte ein wenig, dafür aber genoß er die Entspannung seines Schließmuskels. Jeder Schritt war nun eine Wohltat, die seinen Gang geschmeidiger machte. Die Kondensstreifen der Düsenjäger färbten sich bereits rötlich, die neueren sahen aus wie Äderchen im Weiß des Auges, andere waren breit und durchscheinend, als hätte jemand einen Pinsel abgestrichen.
Er verlangte nur ein wenig zu trinken und etwas Nahrung für sich, doch selbst diesem Wunsch maß er keine weitere Bedeutung bei. Würde er zukünftig überhaupt Wünsche hegen? Und was würde an Erinnerungen bleiben? Vielleicht ein Lied, eine Melodie, oder nicht mal das? Er nahm es hin, nein, es kümmerte ihn nicht, er dachte schon gar nicht mehr daran.
Der Gefreite Türmer kratzte sich am Bauch. Er sah an sich herab und betrachtete unglücklich, ja fast angeekelt seinen käsigweißen und mit Pickeln und Leberflecken übersäten Körper. Wie merkwürdig der Mensch doch roch. Die Kühe hatten sich erhoben und glotzten ihn an. Es tröstete ihn, lebendige Wesen in seiner Nähe zu wissen.
Ihn verlangte danach, sich in das hohe feuchte Gras zu legen, sich zu reinigen und zu erfrischen. Der Gefreite Türmer ging auf die Knie, ließ sich zur Seite fallen und spürte im nächsten Moment den Morgentau an seinem Rücken. Genau über sich erblickte er den erblaßten Mond. Wohlig stöhnend wälzte sich der Gefreite Türmer vom Rücken auf den Bauch und wieder zurück, er scheuerte sich die Schultern, den Hintern, Bauch und Brust und drückte seine Stirn auf die Erde.
Wieder auf dem Rücken, streckte er seinen linken Arm zum Himmel und löste das Armband seiner Uhr — da traf ihn an den Fingerkuppen der erste Sonnenstrahl. Der Gefreite Türmer spürte noch, wie er aufschluchzte und wie die Uhr von ihm abfiel.
Im nächsten Augenblick sprang er auf alle viere, schüttelte sich und heulte hinauf zur rosafarbenen Mondscheibe. Er fletschte die Zähne. Die Kühe begannen zu brüllen, machten kehrt und versuchten zu fliehen. Er wollte etwas rufen, er wollte sprechen, aber alles, was er hervorbrachte, war Knurren und Winseln.
Dann hielt er inne. Nur die Kühe waren zu hören und ganz entfernt das Glockengeläut einer Dorfkirche. Der Wolf schnüffelte an der Uhr, wich den im Gras liegenden Stiefeln und Uniformteilen aus und trabte lautlos davon, durstig, hungrig, gierig.