Ich war zurückgekehrt, aber ich hatte ein Problem mit nach Hause gebracht. Nikolai hatte mich eingeladen, mit ihm ein Wochenende in der Sächsischen Schweiz zu verbringen. Ich wußte nicht, wie ich diese zwei Tage mit ihm überstehen sollte.193
Als Nikolai mich abholte — in einem weißen halboffenen Hemd, ausgewaschenen Jeans und einer ins Haar geschobenen Sonnenbrille lehnte er am Geländer unseres Treppenhauses —, folgte ich ihm wie jemand, der ins Wasser geht, obwohl er weiß, daß er nicht schwimmen kann. Die Stunden mit ihm zu beschreiben ergäbe eine eigene Geschichte. Ich fühlte mich schuldig, Hoffnungen in ihm genährt zu haben. Er war es nicht gewohnt, werben zu müssen. Sobald er auf Widerstand stieß, wurde er herrisch. In der Nacht hätten wir uns fast geprügelt. Wir hatten unsere Schlafsäcke auf einem Felsvorsprung ausgebreitet. Ein paar Meter weiter ging es in die Tiefe. Nicht mal sein Gesicht habe ich in der Dunkelheit richtig gesehen. Nur am Klang seiner Stimme erahnte ich dessen Ausdruck. Mit seiner Arroganz, seinen Vorwürfen, seinem Hohn und Spott, ja selbst mit seiner Verachtung konnte ich umgehen. Entsetzlich jedoch war sein Selbsthaß. Ich hielt mir die Ohren zu, so unerträglich war das, was ich zu hören bekam. Auch trösten konnte ich ihn nicht. Die ganze Nacht habe ich ihn bewacht. Als er endlich schlief, begann es schon zu dämmern. Ich mußte nicht viel zusammenpacken. Ja, ich bin einfach davongelaufen. Nikolai habe ich nie wiedergesehen.
Achtzehn Monate lang hatte ich meine Rückkehr ersehnt. Wohin aber war ich zurückgekehrt? In eine Welt, die mich nicht interessierte, in der es nichts für mich gab, das aufzuschreiben sich lohnte. Bei der Armee war jede gut genutzte Minute ein unerwartetes Geschenk, jeder überstandene Tag ein Sieg gewesen!
Statt Zeugnis von der überstandenen Hölle zu geben, fühlte ich mich aus dem Paradies vertrieben. Meine Welt stand kopf. Und eins kam zum anderen.
Veras damaliger Freund war zum Kotzen. Daniel, das erfuhr ich erst später, schröpfte sie auch finanziell.194 Ich versuchte herauszubekommen, ob er schrieb oder malte oder was er überhaupt tat. Angeblich war er Pfleger, ging aber nie arbeiten und lebte (außer von Vera) von der Miete, die ihm Holländer oder Franzosen für seine Wohnung in Berlin zahlten. Daniel fand Dresden unerträglich provinziell. Er wollte keine Stunde länger bleiben, sobald Veras Berlin-Verbot aufgehoben wäre. Vera bewunderte Daniel, weil ihm Worte wie Rhizom und Anti-Ödipus vertraut waren und er West-Bücher besaß, die er nicht verlieh. Sprach er den Namen» Foucault «aus, schien er selbst stillzustehen und auf das Echo seines Fanfarenstoßes zu lauschen. Für Vera war Daniel das Maß aller Dinge.
Auch ich konnte mich ihm anfangs nicht entziehen. Sein Lächeln war wie ein Köder, den er beim ersten Treffen auswarf. Schon bei der zweiten Begegnung hatte man das Gefühl, ihn enttäuscht zu haben, denn hinter seiner Nickelbrille fand sich nur ein nach innen gerichteter — heute würde ich sagen: stumpfer — Blick. Alles, was ich sagte, was ich gut und richtig fand, verkehrte sich in seiner Rhetorik ins Gegenteil. Leistete man Widerstand, machte man sich zum Komplizen der Herrschenden, versuchte man zu helfen, galt das als eine besonders perfide Art, die Kontrolle über jemanden zu erlangen. Daniel schaffte es innerhalb einer halben Stunde, mich in Gegenwart Veras zum kompletten Idioten zu stempeln. Wie wollte ich heutige Prosa schreiben, ohne Foucault, Deleuze, Lacan, Derrida und all die anderen gelesen zu haben? Mit Habermas müsse ich mich nicht abgeben, Adorno und die ganze Frankfurter Schule könne ich vergessen.
Vera, die mich zur Tür brachte, wollte mich trösten. Daniel werfe mir ja nicht die Unkenntnis seiner Autoren vor, ich sollte nur nicht versuchen zu schreiben, ohne sie studiert zu haben.
Den Rest gab mir Vera, indem sie mir Arbeiten von einem ihrer Verehrer versprach, Texte über die Armee, die sie» nicht schlecht «fand. Gerade weil Vera ihn sonst nicht ernst nahm — sie machte sich über seine Eifersucht und seinen Hundeblick lustig, mit dem er sie überall verfolgte —, war ich alarmiert. Vor allem beunruhigte mich, daß jemand in meinem Territorium wilderte.195
Als ich meine eigenen, von Geronimo akkurat geordneten Aufzeichnungen zur Hand nahm, langweilten sie mich. Was ich da pfundweise in meinen Schreibtisch stopfte, war Plunder. So wie ich früher an der Ostsee Muscheln gesammelt und darauf bestanden hatte, sie ausnahmslos mit nach Hause zu nehmen — wo sie nach wenigen Wochen mit meinem Einverständnis im Müll gelandet waren —, so konnte ich nun die Bündel zusammenschnüren und zum Altstoffhändler bringen.
Natürlich ermöglichten es die Briefe — es waren ja keine richtigen Briefe, sondern Notizen und Aufzeichnungen —, mir beinah jeden einzelnen der 541 Kasernentage wieder vor Augen zu führen. Aber wozu? Wo waren die Geschichten, von denen ich gehofft hatte, sie aus diesen Seiten herausfischen zu können wie im Herbst die fetten Karpfen aus den Moritzburger Teichen? Mein ganzer Eifer kam mir so kindisch, so eitel und unnütz vor, daß mir gar nichts anderes übrigblieb, als Daniel und Vera recht zu geben. Es war ein Höllensturz.
Plötzlich war ich ein Jedermann. Ich fühlte mich preisgegeben, ausgeliefert. Ohne das Schreiben war mein Leben wertlos!
Geronimo, der in Naumburg Theologie studierte, übte mit Franziska fürs Abitur und spielte in einer Band. Wir hatten uns gemeinsam auf dem Dresdner Kirchentag mit CDU-Leuten herumgestritten und Konsistorialrat Stolpe einen Abwürger genannt. Aber sonst hatten wir uns nicht mehr viel zu sagen. Ich beneidete ihn um Franziska und darum, daß er nun in der großen Villa auf dem Weißen Hirsch, von der aus man über die ganze Stadt sah, zu Hause war und mit ihren Eltern auf der Terrasse saß und Tee trank.
Zu allem Überfluß war mir auf dem Wehrkreiskommando196 mitgeteilt worden, daß man mich als Unteroffizier der Reserve entlassen habe, eine Schmach, gegen die zu opponieren es zu spät war und die ich nur geheimhalten konnte.
Meine Rettung war Tante Camilla, die mir jeweils hundert D-Mark zu Weihnachten und 50 D-Mark zu Ostern geschenkt hatte, so daß ich plötzlich 300 D-Mark besaß, zu denen meine Mutter mir ihre eigenen Restbestände gab und obendrein die Zugfahrt nach Budapest und zwei Ladungen Bettwäsche spendierte. Ich blieb zehn Tage und lebte wie ein Prinz.
Wäre dies eine Biographie, hieße ein langes Kapitel» Katalin«. Katalin war die Nichte von Frau Nádori und studierte in Szeged Englisch und Deutsch. Sie lernte für ihre Prüfungen. Morgens hockten wir stundenlang in Frau Nádoris Küche und rauchten deren Zigaretten, bis Katalin ins Wohnzimmer gejagt wurde, wo sie die mittelhochdeutsche Grammatik von Heinz Mettke studieren mußte. Nachmittags um vier trafen wir uns irgendwo. Katalin war verlobt und hielt sich an diese Rolle. Nach einem Abend in der Oper besuchte sie mich allerdings in meinem Zimmer. Ich zog den Schlafsack von der Liege und legte ihn auf das alte Parkett, direkt vor die weiße Kommode, die Frau Nádori immer als» echt Rokoko «bezeichnet hatte. Katalin öffnete nun diese weiße Echt-Rokoko-Kommode und bereitete uns aus der darin gehorteten Bettwäsche ein Lager. Sie wolle einfach nur bei mir liegen, sagte sie, streifte ihr Nachthemd ab und wärmte meine Hände zwischen ihren Schenkeln. Irgendwann schliefen wir kurz ein, doch als wir aufwachten, war alles einfach und schön und unvergeßlich.
Diesen Tagen im Juni verdanke ich noch etwas anderes, ein Buch, das ich genausogut in unserem Wohnzimmer hätte finden können. Doch dort war es in einen so abschreckenden Schutzumschlag gehüllt, daß ich es nie in die Hand genommen hatte.197
In Budapest empfing ich das gleiche Buch aus den Händen jener Antiquarin, die mir schon mehrere kleine blaue Bände Nietzsche in Packpapier eingewickelt hatte.
Noch im Laden las ich die erste Geschichte — und wußte plötzlich, was ich wollte. Genau solche Geschichten, nur eben heute, jetzt und hier, eine neue Reiterarmee! Ich hatte meinen neuen Gott gefunden.»Isaak Babel«, hatte die Dame geflüstert, zur Decke geblickt und dabei ihre schmale gefleckte Hand in winzigen, höchst eleganten Spiralen nach oben bewegt. Selbst wenn Vera und David hundertmal recht hatten, mit Babel hatte ich recht.
Katalin merkte, daß mir etwas Außerordentliches widerfahren war. Und ich spürte, daß ihr gefiel, wie ich sprach, wie ich nicht umhinkonnte, ihr Passagen vorzulesen, und wie ich in all meiner Begeisterung scheinbar blind dafür war, daß sie mich küssen wollte, am hellichten Tag, da jeden Augenblick das weiße Haupt ihrer Tante in der Tür erscheinen konnte.
Ihr Enrico T.