Dienstag, 19. 6. 90


Lieber Jo!

Ich habe mich in die Arbeit gestürzt — mir blieb auch gar nichts anderes übrig. Die Verhältnisse klären sich mit einer Schnelligkeit, die ich selbst nicht für möglich gehalten hätte. Kaum mehr als eine Woche ist vergangen, und aus dem ganzen Tohuwabohu erstehen bereits die Konturen unserer Zeitung.

Auch mit uns geht eine Verwandlung vor. Ob Frau Schorba oder ihr Mann, der den Vertrieb organisiert, oder Evi und Mona, unsere Elevinnen am Computer, selbst der geschlagene Pringel — wir alle bewegen uns nicht nur rascher, zielgerichteter, geradezu begierig, gleich das nächste zu erledigen, wir sind auch freundlicher, offener, wir haben nichts zu verbergen, nichts zu verlieren! So wie jetzt sollte der Alltag immer sein. Ja, so soll es bleiben!

Offiziell arbeitet Herr Schorba noch bei der Wismut. Er ist aber freigestellt und wartet auf seine Kündigung samt Abfindung. Als Bergbauingenieur weiß er zu organisieren. Ich genieße es, wenn jemand die Dinge mit Verstand und Umsicht angeht. Er hat eine ganze Wand mit Landkarten tapeziert. Seiner Berechnung zufolge werden wir 120 000 Exemplare drucken. Schorba verteilt klare Aufgaben und kontrolliert akribisch. Als ich Kurt fragte, wie er sich das ab Juli vorstelle, sagte er:»Na, mit euch. «Fred hingegen ist völlig überfordert. Täglich, fast stündlich muß er sein Vertriebsnetz flicken, weil Verkaufsstellen schließen oder immer weniger Exemplare absetzen, so daß die Fahrt nicht mehr lohnt.

Zudem kalkulieren wir mit zehn- oder hundertmal größeren Beträgen. Im Vergleich zu uns spielen Jörg und Marion nur Kaufmannsladen. Jo, mein Lieber, jetzt beginnt ein neues Leben! Unsere Artikel haben, wenn überhaupt, ab und an ein bißchen Staub aufgewirbelt, der sich jedoch schnell wieder legte. Jetzt aber bringen wir wirklich etwas in Schwung. Unsere Anzeigen sind der Motor. Wir selbst verändern die Welt. Denk nur an unser Verlagshaus, an die Passage, die wir von hier auf den Markt bauen lassen. Vor allem aber: Wer außer uns schafft das — kostenlos und in jeden Haushalt?! Jörg ähnelt jenem Unglücksraben am Roulettetisch, der die Zahlen studiert und analysiert, aber wenn er setzt, verliert er. Wir jedoch machen das Spiel. Denn wir haben die Wahrscheinlichkeit und die Zeit auf unserer Seite. Und je mehr Geld wir haben, desto weniger kann uns der Zufall reinpfuschen. Jörg soll nur schön weiterstudieren und analysieren und darüber schreiben, während wir schon wieder ein neues Spiel machen, das er dann wieder studieren und analysieren kann. Es ist ein Glück, mit klarem Bewußtsein326 noch einmal anfangen zu können.

Der Wunsch des Barons, nach all dem Aufruhr und Durcheinander unser Projekt erneut von A bis Z abzuklopfen, war mir nur recht. Denn der rote Faden droht im Wirrwarr aller gleichzeitig zu erledigenden Aufgaben verlorenzugehen. Ich hatte an ein Abendessen gedacht, er sah mich jedoch als einen Referenten im nüchternen Interieur unserer Redaktion. Plötzlich wußte ich, was zu tun war: Jede und jeder in der Redaktion mußten eine Rolle und einen Auftritt bekommen. Und ich war der Regisseur.

Vier Tage lang habe ich kaum etwas anderes gemacht, als mit ihnen zu reden. Nichts soll fraglos hingenommen werden!

Fred und Ilona, zuerst froh, von» solchen Mätzchen «verschont zu bleiben, fühlen sich bereits vernachlässigt. Ilona schielt wie eine Elster, wenn ich Frau Schorba etwas gebe. Außerdem treibt sie die» Rolex-Affäre «fast in den Wahnsinn. Die Leute kommen in die Redaktion und knallen ihr die» Scheißuhr «auf den Tisch, entweder geht die Uhr nicht mehr, oder die neuen Abonnenten haben herausgefunden, daß es keine echte Rolex ist. Manche weigern sich zu gehen, bevor sie nicht ihr Geld wiederbekommen haben. Ilonas Erklärungen, daß in der Anzeige nichts von Rolex gestanden habe, sondern nur» Diese Uhr erhalten Sie …«, macht die Leute erst recht fuchsteufelswild! Ilonas einzige Rettung ist der von ihr geschmähte Wolf. Weil Astrid durch das Gezeter fortwährend geweckt wird, gähnt sie oft und entblößt dabei ihre Reißzähne. Auch ihr weißes blindes Auge flößt den geprellten Abonnenten Respekt ein. Gott sei Dank geht uns dieser Ärger nichts mehr an! Wir müssen keine Abonnenten werben! Ist das nicht eine wunderbare Emanzipation vom Leser?

Gestern war nun die große Besprechung. Ich hatte Frau Schorba gebeten, den Raum ein bißchen vorzubereiten, und damit nur gemeint, den Tisch abzuräumen und genügend Stühle heranzuschaffen.

Für meine Leute aber war diese Zusammenkunft etwas Feierliches. Sie hatten den langen Tisch mit Papierbögen bedeckt und Kerzen auf Untertassen gestellt. Für jeden gab es zwei Plastebecher. Sie hatten Mineralwasser und Wein gekauft, dazu jede Menge Salzstangen. Für die Kerzen war es natürlich zu hell.

Pringel und Schorba steckten in den gleichen grauen Anzügen, beide trugen dazu dunkle Hemden, beide hatten einen rotblauen Schlips um. Man hätte es für Betriebskleidung halten können. Kurt hingegen saß in Bermudas und einem kurzärmeligen gelben Hemd stumm am Rand, die Ellbogen auf den Knien, und betrachtete ungeniert und gleichgültig das Treiben der Frauen. Manuela, die sich die Warze am Kinn hat wegmachen lassen, führte wieder einen ihrer hochgeschlitzten Röcke vor, ihre Dekolletés werden immer gewagter. Evi und Frau Schorba waren beim Friseur gewesen und sahen unter ihren Dauerwellen gleich alt aus, wie die Tanten-Komparsen der Jugendweihefeiern. Mona hatte nur Lippenstift benutzt. Mir fiel zum ersten Mal auf, daß sie schön ist.

Alle Stühle standen auf einer Seite des Tisches, als seien es nicht wir, sondern der Baron, der eine Prüfung zu bestehen hatte.

Als er mit zehnminütiger Verspätung hereingefegt kam, durchquerte er den Raum im Laufschritt, warf seine Collegemappe auf den Besuchertisch, riß den Telephonhörer an sich und wählte.

Es war totenstill, als er seinen vollständigen Namen nannte. Die Unfallmeldung gelang ihm derart perfekt, als läse er sie aus einer DRK-Broschüre vor.»Ja, ich warte«, sagte er und sah sich zum ersten Mal nach uns um:»Direkt vor Ihrer Tür«, flüsterte er.

Ich weiß nicht, warum sich keiner von uns rührte. Erst nachdem der Baron aufgelegt hatte, folgten wir ihm hinaus.

Der Baron, der den verrückten Alten in die stabile Seitenlage gebracht hatte, kniete sich neben ihn und rief» Herr Hausmann! Hilfe kommt!«Der Alte stöhnte, blinzelte und schien uns zu mustern, auch mich, ohne daß ich eine Reaktion an ihm wahrgenommen hätte. Seine Hände waren blutverschmiert. Der Baron rief ständig» Herr Hausmann, Herr Hausmann!«— ich hörte zum ersten Mal den Namen des Alten — und ermahnte ihn, wach zu bleiben. Nachdem der Baron ein Glas Wasser für den Alten zurückgewiesen hatte, konnten wir nichts weiter tun, als immer wieder den Knopf für das Licht zu drücken. Der Baron half später, den Alten auf die Trage zu hieven. Dieser schloß im selben Moment die Augen, als wollte er nicht mit ansehen, wie man ihn durch das steile Treppenhaus nach unten bugsierte. Astrid, der Wolf, bellte ihm nach.

So kaltschnäuzig es klingt, aber dieser Unfall nahm die Anspannung und Befangenheit von uns. Der Baron dankte ohne einen Anflug von Ironie für das schöne Arrangement. Nach wenigen Augenblicken war es ihm gelungen, die gesamte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und so vergingen die nächsten Stunden wie im Flug.

Der Baron versprach jedem tausend D-Mark für den Fall —»und wenn ich ›jedem‹ sage, dann meine ich wirklich jede und jeden von Ihnen«—, daß die Stadtplanaktion gelingt. Wir müssen nur die ersten sein!

Evi und Mona wissen nun, daß es auf der ganzen Welt keinen besseren, keinen moderneren, keinen effizienteren Arbeitsplatz in der Werbung gibt als ihren. Vielleicht seien sie überhaupt die ersten in Ostdeutschland, die jetzt schon an einem Apple-Macintosh arbeiten könnten.

Herrn Schorba und Kurt bezeichnete er als das Rückgrat des Unternehmens. Der Vertrieb werde von Woche zu Woche mehr Bedeutung erlangen. Ob ihnen klar sei, daß sich mit ihrer Arbeit Wohl und Wehe eines mittelständischen Betriebes entscheiden werde?

Pringel nannte er das Salz in der Suppe, Frau Schorba das Herz des Unternehmens und Manuela die Diva und den Star der Truppe. Denn ohne sie und ihre Kolleginnen könnten wir noch so gut sein und rackern, wir hätten schlichtweg nichts zu tun. (Er verschwieg, daß ihr Verdienst zu einem ernsthaften Problem wird. Manuela hat ihre Mutter bei sich einquartiert und zieht nun, da sie keine Rücksicht mehr auf ihre Kinder nehmen muß, Tag und Nacht durchs Land; ich fürchte, sie kann bald allein von ihren Verträgen leben.327)

Eine Zeit wie die kommenden Monate und Jahre würden wir alle —»wir alle, wie wir hier sitzen«— so schnell nicht wieder erleben.»Einhundertzwanzigtausend Exemplare!«Das sollten wir uns mal auf der Zunge zergehen lassen. Und das sei erst der Anfang.»Wissen Sie, welch geballte Macht das ist? Vom Völkerschlachtdenkmal bis an den Rand des Erzgebirges, von den Wehrkirchen Geithains bis zu den Pyramiden von Ronneburg — das ist Ihr Gebiet! Das sind Sie!«Sein Blick wanderte unablässig von einem zum anderen.

«Und dann denken Sie einmal daran, daß Sie als einzige gegen die Großen der Branche ankämpfen. Hier, diese Zeitung, Sie, die Sie hier versammelt sind, trotzen den internationalen Konzernen! In einer Nußschale ziehen Sie gegen eine ganze Armada zu Felde. Ob Sie es wollen oder nicht, aber Sie verteidigen damit etwas, was diese Welt lebenswert macht!«

Der Baron hielt die Blicke in seinem Bann wie ein Zauberer. Und wenn doch einmal ein Augenpaar abirrte und sich im Zimmer verlor, dann nur um sich zu vergewissern, daß das alles kein Traum war.

In naher Zukunft wird das Unternehmen wachsen müssen. Wir werden neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen. Doch jeder von uns hat das Glück, von Anfang an dabeizusein, und jeder von uns wird bald eine kleinere oder größere Abteilung leiten. Das ist enorm viel Verantwortung. Denn wenn einer versagt, werden das alle zu spüren bekommen.328 Mich ermahnte er, hart und unnachsichtig gegenüber Schlamperei zu sein und keine Ausnahmen zu dulden, das Steuerrad immer fest in Händen.

Erst als wir aufbrachen, dachte ich wieder an den Alten. Er hat auf den Holzdielen ein paar Blutflecken hinterlassen. Deshalb machte jeder von uns einen großen Schritt, fast so, als läge er noch immer dort.

Sei umarmt

Dein Enrico


Lieber Jo, ich vergaß heute früh, den Brief mitzunehmen. Schon jetzt kann ich Vollzug melden: Die Verhältnisse sind geklärt. Wir hatten einen Termin beim Notar. Ich saß Jörg und Michaela, die den Baron vertritt, gegenüber.

Mit Jörg kann ich ja reden. Wenn nur Marion nicht wäre! So wie sich Dreck immer an derselben Stelle sammelt, finde ich in ihren Augen jeden Morgen neuen Haß. […] Außerdem ist sie zu einem Zwirnsfaden abgemagert. Nur noch der Gürtel hält ihre Hose. Mich behandelt sie wie Luft, wenn ich ihr nicht ausweiche, rempelt sie mich an. Ließe ich mich von ihr provozieren, gäbe es hier täglich ein Handgemenge. Neuerdings behauptet sie, ich schriebe allein deshalb Artikel, um möglichst viel Platz zu blockieren, damit das Wesentliche nicht erscheinen kann. Das Wesentliche sind meine» Umtriebe«, mein schändliches Verhalten. Marion hat sogar eine Theorie entwickelt, der zufolge Journalisten gewählt werden sollten.

Wie schnell sich das Blatt gewendet hat! Nun könnt Ihr ganz beruhigt Euren Umzug nach Altenburg planen.

Sei umarmt, Dein Enrico

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