Donnerstag, 17. 5. 90


Liebe Nicoletta!

Bevor ich Ihnen weiter von Michaela berichte, muß ich ein Erlebnis aus dem Sommer von 1987 einfügen, über das ich mit niemandem sprach, weil es mir nicht weiter erwähnenswert schien. Wie hätte ich es auch verstehen sollen?

Vielleicht gibt es ja etwas in uns jenseits des Bewußten oder Unbewußten, etwas, was jener Empfindungsgabe verwandt ist, die die Tiere ein Erdbeben oder Unwetter lange vor uns spüren läßt. Soll ich es Instinkt, soll ich es Ahnung nennen? Oder einfach nur ein besseres Sensorium?

Im August war ich für zwei Wochen nach Waldau gefahren, um endlich mit meiner Novelle voranzukommen. Eines Nachts erwachte ich und vermeinte zu hören, wie ein Schuß im Haus, im ganzen Wald nachhallte.

Wäre nicht das Knarren des Bettes gewesen, ich hätte mich für taub gehalten. Ich schnippte mit den Fingern. Kein Rascheln, kein Wind, kein Vogel. Ich schwitzte und wußte, daß ich nicht wieder einschlafen würde.

Nackt, wie ich war, trat ich hinaus vor die Tür. Alles schien erstarrt. Um jedes Geräusch, das ich machte, schloß sich die Stille nur um so dichter. Je angestrengter ich lauschte, desto undurchdringlicher wurde das Schweigen, bis ich es schließlich wie einen riesigen schwarzen Quader über meinem Kopf zu spüren glaubte.

Mehrmals versuchte ich durchzuatmen, aber die Luft, die ich in meine Lungen sog, schien diese nur halb zu füllen, als befände ich mich in mehreren tausend Metern Höhe. Auch im Sitzen wurde mir nicht besser. In der Herzgegend empfand ich ein Kräuseln, ein Strudeln. Ich wunderte mich, daß ich nicht in Panik geriet. Wenigstens konnte ich das tiefere Schwarz der Fichtenstämme von dem Graudunkel der Zwischenräume unterscheiden. Ich war kurz davor, ein Gebet zu sprechen oder ein Lied zu summen, nur um dieser Stille, diesem Schweigen zu entkommen. Plötzlich erschien es mir unglaubwürdig, daß ich da allein mitten im nächtlichen reglosen Wald saß, ich, die einzige Unruhe in einer stummen Welt. Ich glaubte zu träumen oder den Verstand zu verlieren. Ich erschrak vor meinem Lachen.

Und da, als gewährte man mir eine Gnade, gesellte sich eine Fliege zu mir. Sie umschwirrte meinen Kopf, und mir stand plötzlich eine Abbildung aus dem Physikbuch vor Augen: die Flugbahn des Elektrons um den Atomkern.244

Die Fliege setzte sich auf meine linke Schulter — ich zuckte und hielt erschrocken inne. Hatte ich sie verscheucht? Die Fliege durfte mich nicht verlassen, sie sollte bleiben, das einzige Lebewesen, das mit mir wachte, meine einzige Gefährtin. Als ich sie wieder spürte, hielt ich still und genoß ihre Berührung wie eine Zärtlichkeit. Haben Sie je eine Fliege über Schulter und Rücken krabbeln lassen? Während ich fürchtete, von der Fliege über kurz oder lang im Stich gelassen zu werden, kam mir zum ersten Mal der Gedanke, daß mir die Welt, so, wie sie war, abhanden kommen könnte.

Das war nicht die Angst vor dem Atomkrieg, dem Weltuntergang. Es war die Angst, alles, worauf ich mich bezog, könnte mir verlorengehen; das Weltgefüge, dem ich mich durch Denk- und Gefühlsmutation angepaßt hatte, verschwände von einem Tag auf den anderen und ließe nichts weiter zurück als eine große Leere. So, wie ich gefürchtet hatte, zu spät zur Armee eingezogen zu werden, so fürchtete ich nun, bevor ich selbst zum Schuß kommen würde, könnte alles Großwild erlegt sein und für mich blieben nur Mäuse und Ratten übrig.

Es war ein absurder Gedanke, aber nicht weniger absurd, als nachts nackt im Wald zu sitzen, froh und dankbar über die Gesellschaft einer Fliege.

Allein der Schmerz über dem Herzen und die Fliege schienen zu existieren, die einzige Wirklichkeit, über die ich verfügte, das einzige, was meine Gedanken und Gefühle davor bewahrte, sich in der Schwerelosigkeit zu verflüchtigen.

Dort, wo der Schweiß noch nicht getrocknet war, spürte ich den Lufthauch und fröstelte. Mit leerem Kopf, leerem Herzen und ergeben in mein Schicksal kroch ich zurück ins Bett.

Als ich erwachte, war es warm, und Fliegen, ein ganzer Schwarm, summten über mir.

Wahrscheinlich halten Sie mich nun tatsächlich für verrückt oder zumindest für etwas wunderlich. Von heute aus gesehen, gehört dieses nächtliche Erlebnis zu den wenigen Episoden, bei denen ich im Rückblick Mitleid mit jenem Menschen empfinde, der ich damals gewesen bin.


Nun aber zurück nach Altenburg, wohin ich Anfang September 88, noch vor Beginn meines letzten Studienjahres, fuhr.

Über Flieders» Julie«-Proben zu schreiben wäre ein eigenes Kapitel wert. Lesen Sie noch einmal Strindbergs Stück und achten Sie auf die Brüche, auf das unentwegte Bleiben — Gehen — Bleiben — Gehen. Es war in einem Maß von mir selbst die Rede, daß es schon unheimlich war.

Nicht weniger unheimlich war mir die Erkenntnis, wie eng verwandt Regieführen und Schreiben sind. Von Flieder lernte ich, daß ein Dialog nicht dazu dient, etwas mitzuteilen, sondern die Verhältnisse unter den Figuren zu klären. Daß es egal ist, worüber man spricht, wenn man nur weiß, was man erzählen will. Daß es sich rächt, wenn man auch nur eine einzige Beziehung vernachlässigt, daß kein Gegenstand und kein Schritt in der Choreographie vergessen werden darf.

Gibt es etwas Schöneres als eine plausible Figur? Könnte ich im Schreiben je Flieders Niveau erreichen, würde meine Novelle ein Meisterwerk. Warum aber, fragte ich mich beunruhigt, ist Flieder kein berühmter Regisseur?

Doch was wären Flieders Proben ohne Michaela gewesen! Ich durfte Michaela anschauen, beobachten, studieren, und niemand, auch sie nicht, konnte mir daraus einen Vorwurf machen. Sie mit Blicken zu verschlingen gehörte ja zu meinen Aufgaben. Ich träumte davon, Michaela und ich seien ein Paar. Diese Vorstellung kollidierte allerdings mit meinem Wunsch, so bald wie möglich auszureisen. Nur aus Rücksicht auf Mutter, nur weil es mir besser schien, das Studium abzuschließen, nur weil ich von Vera seit ihrer Ausreise nichts gehört hatte, schob ich diesen Schritt vor mir her. Und ich blendete aus, daß Michaela Tag für Tag mit Max (unserem Jean) kam und ging. Sie hatte einen Sohn aus erster Ehe, der manchmal in der Kantine auf sie wartete, wo er malte oder mit der Küchenhilfe Karten spielte.

Zu Beginn der zweiten Woche, abends, nach der Probe, umarmte ich Michaela wie immer zum Abschied, unsere Wangen berührten sich. Ich wollte mich wieder aufrichten, sie jedoch hielt mich fest — eine Ewigkeit, wie mir schien. Danach stieg Michaela wie immer zu Max in den Wartburg. Ich glaubte, diese lange Umarmung sei Teil jener verwahrlosten Intimität, die für das Theater so typisch ist. Am nächsten Abend jedoch wiederholte sich dieser Abschied. Diesmal hielt auch ich Michaela fest, so lange, bis sie nicht mehr auf ihren Zehenspitzen stehen konnte. Am Mittwoch begegneten wir uns nach der Abendprobe auf dem Flur vor der Kantine, besser gesagt, wir liefen aufeinander zu. Ich hatte noch meine Schreibkladde in der Hand. Es wäre zuviel, wenn ich behauptete, bereits an ihrem Gang alles erkannt zu haben, doch es ist keine Übertreibung zu sagen, daß wir uns buchstäblich in die Arme flogen — wir hatten Glück, nicht über das wellenschlagende Linoleum zu stolpern.

«Kannst du Auto fahren?«war das erste, was Michaela mir ins Ohr flüsterte. Sie bat mich zu warten, ging in die Kantine und kehrte mit dem Schlüssel für den Wartburg zurück. Er gehörte ihr, eigentlich ihrer Mutter, aber die hatte auch keine Fahrerlaubnis.

An diesem Abend brachte ich Michaela zum ersten Mal nach Hause. In Roberts Zimmer brannte Licht. Sie rief mir noch zu, wann ich sie am nächsten Tag abholen sollte, und rannte los. Ihre Absätze hallten in dem Neubau-Hufeisen, was mich aus irgendeinem Grund mit Stolz erfüllte. Ich stand in der offenen Fahrertür, einen Ellbogen aufs Dach gestützt, als hätte ich den Hauptpreis einer Tombola gewonnen.

Am nächsten Morgen fragte sie, ob ich denn überhaupt frei sei, ob mir der Unterschied von sieben Jahren (das hatte sie irgendwie herausbekommen) etwas ausmache und ob mir klar sei, daß sie immer Rücksicht auf Robert nehmen müsse. Bevor ich antworten konnte, küßte sie mich, und dann klopfte Max an die Heckscheibe.

Nach der Probe wartete ich am Auto auf Michaela. Als sie endlich erschien, sah sie aus, als wollte sie mit mir ausgehen. Sie sagte, daß ich heute genau das Hemd trage, in dem sie mich am liebsten sehe. Ich ließ den Wagen an, sie schob mir ihre linke Hand unter den Kragen, ich fuhr los, und beide starrten wir nach vorn, als wäre dichter Nebel.

Wir huschten an der Rezeption vorbei, ich hatte den Zimmerschlüssel extra nicht abgegeben. Sie sei sich schon wie eine Hochstaplerin vorgekommen, sagte Michaela im Fahrstuhl, weil sie die ganze Zeit über die Pille genommen habe. Robert sei heute nicht vor halb fünf zu Hause, wir hätten also ein bißchen Zeit. Aus ihrer Handtasche nahm sie einen Wecker und stellte ihn.

Im Zimmer zog Michaela die Vorhänge vor und ließ die Rollos herunter. Mir entwand sie sich, als ich ihre Bluse öffnen wollte. Sie erlaubte mir nicht einmal, ihr beim Entkleiden zuzuschauen, und rief mich erst aus dem Bad, als sie bis zum Hals zugedeckt im Bett lag. Zuerst hielt ich das für ein Spiel, aber Michaela hatte in allem sehr klare Vorstellungen, was ich durfte und was nicht.

Vor Beginn der Abendprobe sagte Flieder, er habe umdisponiert, er brauche nur Max und die Petrescu. Michaela und ich fuhren ins Hotel, und wieder wartete ich im Bad, bis sie mich rief. Ich fragte sie, warum sie sich vor mir schäme. Das werde ich schon noch erfahren — oder auch nicht, sagte Michaela und hielt mir den Mund zu, als ich weiterfragen wollte.

Später waren wir eingeschlafen und erst nach zwölf erwacht. Michaela konnte sich vor lauter Panik kaum anziehen, bestand aber darauf, daß ich mich zur Wand drehte.

In Roberts Zimmer brannte Licht. Ich wartete und horchte wieder auf das Echo von Michaelas Schritten.

In den Tagen bis Semesterbeginn sahen wir uns nur auf den Proben. Jetzt war es wieder Max, der sie ins Theater fuhr und nach Hause brachte.

Einige Wochen später verriet mir Michaela den Grund ihres befremdlichen Rituals.»Es hängt mit Robert zusammen«, sagte sie,»mit seiner Geburt. «Ich verstand nicht.»Ein Kaiserschnitt«, sagte sie und sah mich beinah ängstlich an, um mich dann anzufahren:»Ich hab da eine Narbe, groß und häßlich!«Ich sagte, daß das nichts Neues für mich sei, und begriff den Zusammenhang erst in diesem Moment.

«Das muß ja nicht gleich jeder sehen!«rief sie ungehalten.

Sie werden fragen, warum ich Ihnen all das erzähle? Was hat diese Liebesgeschichte mit meiner Beichte zu tun?245 Haben Sie Geduld.

Robert kämpfte gegen mich. Zudem haßte er alles, was vom Theater kam. Und ich mußte mir eingestehen, daß Robert mich störte. Ich war es nicht gewohnt, Rücksichten zu nehmen. Ich wollte lesen, schreiben, ins Theater und in Ausstellungen gehen, Filme sehen. Und Michaela wollte das auch. Aber ich greife vor. In den ersten Wochen war allein schon der Gedanke abwegig, ich könnte in Michaelas Wohnung übernachten. Für diesen Fall hatte Robert angedroht, von zu Hause wegzulaufen. Als ich das erste Mal offiziell zu Besuch erschien, schloß er sich in seinem Zimmer ein und heulte so laut, daß Michaela mich nach zehn Minuten bat, wieder zu gehen. Manchmal fuhr ich nach Altenburg, um Michaela für eine halbe Stunde zu sehen. Und auch dann drehte sich alles nur um Robert.

Zum ersten Mal blieb ich Ende November über Nacht, und das nur, weil Robert meine Schuhe aus dem Fenster geworfen hatte und diese nun auf der Heizung trocknen mußten.

Doch Robert war nicht nur ein Störenfried, ich empfand ihn auch als ein Makel an Michaela. Sowenig ich auf Roberts Seite stand, so sehr wünschte ich ihm mitunter den Sieg. Denn eine Liebe hatte ich mir anders vorgestellt.246 Außerdem wollte ich ja nicht hier bleiben, hier in Altenburg, hier in diesem Land. So schrieb ich es jedenfalls an Vera.

Als mir Michaela strahlend verkündete, Robert habe eingewilligt, mit mir und ihr nach Dresden zu fahren, auch er wolle meine Mutter kennenlernen, hätte der Zwiespalt in mir nicht größer sein können.

Meine Mutter hatte gebacken und gekocht, auf unseren Betten — Robert schlief allein in meinem Zimmer — lagen Lakritzstangen, wie ich sie seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, und Schokoladentiere. Die Handtücher waren neu und weich, und jeder bekam ein Paar Pantoffeln geschenkt. Robert schien nichts anderes erwartet zu haben. Während wir beim Kaffee saßen, streunte er durch die Wohnung, warf eine Vase herunter und sah in alle Schränke und Schubladen. Mutter fand nichts dabei und besänftigte Michaela. Sie rauchten um die Wette, und Mutter schenkte ihr dann die Schuhe, die sie ein halbes Jahr zuvor am Tag von Veras Ausreise gekauft hatte. Alle paar Minuten präsentierte uns Robert neue Entdeckungen. Er fand nicht nur meinen alten Teddy und die Kinderbücher, sondern auch meinen ersten Patronenfüller, dessen Kappe deutliche Nagespuren aufwies und mir so vertraut war, als hätte ich ihn eben erst aus der Hand gelegt. Zuletzt schleppte Robert den Zirkelkasten meines Großvaters an. Der blaue Samt, in dem die Zirkel eingebettet lagen, schimmerte. Robert fragte, ob er ihn behalten dürfe. Zu meinem Entsetzen stimmte Mutter zu. Doch Michaelas Nein war so entschieden, daß ich nicht einschreiten mußte. Danach waren die Photoalben an der Reihe, und am Abend schlug Robert sämtliche Eier in die Pfanne und nannte sein Gericht Omelett.

Kurz vor unserer Abfahrt am nächsten Tag bestand Robert darauf, mit mir im Hof Federball zu spielen. Ja, allein mit mir. Auf der Rückfahrt schlief er ein, so daß sich Michaela zu mir herüberlehnen konnte. Ich habe eine Familie, dachte ich da zum ersten Mal, eine Familie, und wußte nicht, ob sich ein Traum erfüllt hatte oder ob ich in der Falle saß.247

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