Lieber Jo!
Gestern habe ich den Stadtspaziergang mit dem Baron nachgeholt, das Wetter war danach. An den Roten Spitzen vorbei gingen wir zum Großen Teich und dort ein Stück entlang der Hutfabrik. Ich empfahl ihm einen Spaziergang mit Georg, der könnte ihm alles über Barbarossa und den Prinzenraub erzählen, über Melanchthon, Bach, Lindenau, Pierer, Brockhaus, Nietzsches Vater und anderes mehr. Der Inselzoo war geschlossen. Ich wollte einen Abstecher zu Altenbourgs112 Haus machen, aber da ihm der Name nichts sagte, gingen wir zurück zum Kino und dann die Teichstraße hinauf, diese Ruinenstraße, in der kaum noch ein Haus bewohnt ist. Wir kamen nur langsam voran, weil Barrista ständig photographierte. Seine Schritte und Gesten waren behutsam wie die eines Archäologen oder Höhlenforschers. Viele Höfe konnten wir gar nicht mehr betreten, das Mauerwerk sank in sich zusammen, bildete organische Formen, bauchige Mauern, durchhängende Fensterreihen. Die jungen Birken auf den Dächern wirkten wie Federschmuck am Hut. Ich erzählte ihm, was alle erzählen: Selbst nach dem Krieg habe man es kaum schaffen können, in jeder Kneipe der Teichstraße ein Bier zu trinken, über zwanzig sollen es gewesen sein, jetzt gibt es noch eine.
Hin und wieder legte Barrista die Hand auf den Putz und strich darüber. Es war seine Anteilnahme, die mich beschämte und mir die Augen öffnete. Auf diesem Spaziergang habe ich die ganze Roheit begriffen, die Roheit in mir und in uns, die Roheit, die es bedeutet, so eine Stadt verkommen zu lassen, ohne darüber verrückt zu werden. Ihren Verfall habe ich immer als natürlich, als den Gang der Dinge angesehen.
Mir fiel das Froschexperiment ein, das der Baron bei jeder Gelegenheit erwähnt (wenn man die Temperatur des Wassers pro Stunde um ein Grad erhöht, behauptet er, wird der Frosch gekocht, obwohl er herausspringen könnte, wenn er wollte). Und vielleicht haben all jene, die einfach aus diesem Land herausgesprungen sind, richtig gehandelt. Das dachte ich, während ich zusah, wie der Baron die verblichenen Beschriftungen und Schilder über den zugemauerten oder hinter blinden Scheiben dämmernden Läden photographierte.
(Georg sitzt hinter mir am Tisch. Während ich Dir schrieb, hörte ich ihn stöhnen und seufzen. Ob ich ihm sagen könne, was er auf die Frage, warum wir die Zeitung gegründet hätten, antworten solle? Ich wiederholte ihm seine damaligen Worte, Öffentlichkeit schaffen, Demokratisierung begleiten, die Leute sollen ein Forum haben, die Bonzen … Das wisse er ja alles, unterbrach mich Georg, aber ob man das heute noch schreiben könne? — Wegen seiner Skrupel bekommt er keinen Artikel fertig, dafür mäkelt er an unseren ständig herum.)
Als ich mit Barrista endlich den Nikolaikirchhof erreichte, fragte er einen Mann undefinierbaren Alters, der seitlich an der Turmtür lehnte, ob wir uns sehr verspätet hätten. Der schüttelte den breiten Kopf, grinste, als kenne er mich, legte zum Gruß zwei Finger an seine Sportmütze (»Basecap «würde Robert verbessern) und zog an einem Bindfaden erst einen großen Schlüssel, dann einen Sicherheitsschlüssel und schließlich einen stattlichen Holzklotz hervor. Ich staunte, daß all das in seine Hosentasche gepaßt hatte. Abermals salutierte er und schlenderte pfeifend wie ein Straßenjunge davon. Er war jener Mann, mit dem Barrista auf der Treppe vor der katholischen Kirche gesprochen hatte, bevor wir unsere kleine Ausfahrt zu Larschen gemacht hatten.
Als der Baron den Sicherheitsschlüssel drehte, hallte das Geräusch des Schlosses im Turminneren wider.
«Nomen est omen«— ich würde wohl keine Probleme mit dem Aufstieg haben, sagte er und ließ mich vorangehen. Er folgte nach. Ich versuchte, etwas Abstand zwischen uns zu bringen. Doch er blieb mir dicht auf den Fersen, obwohl er weiterplauderte, der Turm sei wegen defekter Stufen geschlossen, ich solle mich vorsehen. In Proharsky habe er einen Mann gefunden, der ihm kleine Wünsche ohne viel Aufhebens erfülle. Proharsky sei eigentlich Kosak, das Kind von sogenannten Kollaborateuren, die auf abenteuerliche Weise hier unerkannt gelandet seien. Er sei Proharsky behilflich, für dessen Mutter eine spezielle Rente zu beantragen, die ihr längst zustehe.
«Wissen Sie«, sagte er, als ich die letzte Stufe nahm und mein Blick auf die Dächer fiel,»ich habe mich in diese Stadt verliebt. Ich habe es während meiner Abwesenheit deutlicher gespürt als zuvor. All das Gelaber und Gerede bei uns da drüben, ich hatte förmlich Sehnsucht, wieder hierherzukommen.«
Der Baron hatte sogar einen Schlüssel für die Türmerstube, die verwahrlost war und übel roch.
Verliebt hat sich der Baron aus einem seltsamen Grund: weil die Stadt so gut wie chancenlos sei und, wenn überhaupt, nur durch ein Wunder zu retten. Er lachte und massierte sein linkes Knie. Schon der Name,»Alten«, und dann noch» Burg«. Alt klinge nicht gerade einladend, eine Stadt mit diesem Präfix habe es a priori schwer. Und Burg — er lachte lauter —, mit Burg assoziiere man ja das Schlimmste, Kälte, Enge, Verlies. Er müsse nur Alten-Burg sagen, und schon würden die ausländischen Partner die Hände heben und an einen aufgegebenen Kolonialposten Karls des Großen denken. Da habe er noch nicht mal die weitab und hinter sieben Hügeln gelegene Autobahn erwähnt. Ein Blick auf die Karte der Zugstrecken verrate ihm, daß hier bald nur noch Bummelzüge verkehren würden. Außerdem könne ich fragen, wen ich wolle, die hiesigen Monsterbetriebe seien bereits jetzt am Ende, und die D-Mark, wann immer sie komme, werde sie vollends zur Strecke bringen. Mit DM-Löhnen ließen sich keine Staubsauger mehr zu Dumpingpreisen verkaufen, und was Industrienähmaschinen angehe, da sei der Zug längst abgefahren. Und NVA-Fahrzeuge, generalüberholte LKWs, etwa für die Bundeswehr?
Dann traten wir hinaus auf den Umgang. Ich brauchte lange, bis ich Georgs Garten und unseren Ausguck fand, dafür entdeckte ich gleich am nördlichen Horizont das Völkerschlachtdenkmal.
Die Braunkohle, fuhr der Baron fort, das wisse ich besser als er, habe, wenn seine Informationen stimmten, einen Wasseranteil, der eine Verarbeitung zu Löschsand rentabler mache. Die Dreckschleuder113 von Rositz werde spätestens der Umweltschutz schließen, sobald die Krebsrate bekannt wird. Und was das Uran betreffe, wir sahen gen Westen in Richtung der Pyramiden, darüber lasse sich nur spekulieren.
«Was also bleibt? Altenburger Likör? Altenburger Senf und Essig? Ein paar Skatkarten? Die Brauerei vielleicht?«Und plötzlich, sich zu mir umwendend:»Das frage ich Sie!«
Woher ich das denn wissen solle, antwortete ich. Er ließ nicht locker. Ich müsse mir doch Gedanken darüber gemacht haben, schließlich hänge eins am anderen, und wenn die Leute kein Geld in die Hand bekämen, nütze das schönste Angebot nichts. Von jemandem, der eine Zeitung gründe, also kein unbeträchtliches Risiko eingehe, dürfe man doch eine gewisse Prognose erwarten.
«Damit hat die Zeitung nichts zu tun«, erwiderte ich. Ich meinte aber, solche Überlegungen hätten bei der Gründung keine Rolle gespielt. Barrista machte mir angst. Ich dachte an die Prophezeiung meines Großvaters. Ich würde noch erfahren, wie hart es sei, sich sein täglich Brot zu verdienen.
Reden Sie weiter, hätte ich am liebsten gesagt, wie einer, der hören möchte, wie der Erzähler entgegen aller Wahrscheinlichkeit den Gefahren entkommen ist.
«Es bleibt tatsächlich nicht viel«, sagte Barrista schließlich,»außer diesen Türmen, Häusern, Kirchen und den Museen. Das Theater, bei allem Respekt«— er verneigte sich —,»werden Sie wohl nicht in Betracht ziehen, zwei Jahre, drei vielleicht, dann ist es aus mit der Herrlichkeit. «Und nach einer Pause:»Die Sicht ist wunderbar, nicht wahr?«Danach versank er in Schweigen und spazierte herum. Wir sahen im Süden das Vogtland und den Kamm des Erzgebirges, und im Westen vermutete ich hinter dem Schloßberg die sanften Hügel von Geithain und Rochlitz.
«Aber es muß doch weitergehen«, rief ich. Er drehte sich um, und nachdem er mich eine Weile aus seinen Tiefseeaugen bestaunt hatte, zog er die rechte Braue in Stummfilmmanier hoch.»Na, sagen Sie’s …!«rief er.
«Wieso ich?«entfuhr es mir.
«Und wieso ich?«echote er und lachte. Ja, er lachte mich aus. Man müsse sich halt Gedanken machen. Ein guter Feldherr, der nur halb so viele Soldaten wie sein Gegner habe, müsse sich eben was einfallen lassen — oder sein Heil in der Flucht suchen. Ich hätte doch in Jena studiert und sicher nicht vergessen, wie es dort zugegangen sei Anno Domini 1806.114 Von allein komme kein Weltgeist in die Stadt geritten.
Mich durchfuhr ein Schauer, als habe mir jemand Eis in den Hemdkragen gesteckt. Der Baron hatte den Jackettkragen hochgeschlagen.»Wenn das der Erbprinz sehen könnte«, sagte er.»Für diese Aussicht, was gäbe er da wohl nicht alles.«
Der Baron lachte und begann gleich darauf, sich wie besessen die Hände zu reiben.»Wir müssen hier etwas finden, eine Silberader, Edelsteine, irgend etwas liegt immer vergraben. Wir müssen es nur finden!«Er lachte übermütig und präsentierte mir seine roten Handflächen, als wäre daraus gerade etwas aufgeflogen.»Schlagen Sie ein«, sagte er, und ich drückte ihm die Hand, ohne zu wissen, welchen Pakt ich da einging. Und weil er so bedeutungsvoll dreinblickte und seine Hand warm war, ergriff auch meine Linke seine Hand, woraufhin er, sichtlich bewegt, seine freie Hand obenauf legte.
Unten empfing uns Proharsky. Schweigend nahm er den Schlüssel in Empfang und ging davon.
Wir liefen quer durch die Stadt in Richtung Redaktion. Allmählich verstand ich, was er gemeint, das heißt, welchen Entschluß er gefaßt hatte: Von der Nansenstraße kommend, den Markt in ganzer Länge vor uns, prophezeite er fröhlich, daß ich in nächster Zeit sehen werde, wie alles, was er anfaßte, zu Gold würde. Er selbst habe aufgehört, sich darüber zu wundern. Als erstes brauche er jetzt ein Büro, ein geräumiges Büro mit Telephon und allem, was dazugehöre. Er wäre mir dankbar, wenn ich ihm in den nächsten Tagen bei der Auswahl helfen könnte.
Jetzt lachte ich. Stellte er sich doof, oder hatte er wirklich keine Ahnung? Heute, da jeder händeringend um ein paar Quadratmeter trockenen Gewerberaums bettelt, will er Auswahl?!
Er werde jetzt im» Wochenblatt «die Eröffnung seines Immobilienbüros bekanntgeben.»Wegen Bauarbeiten in der nächsten Woche nur schriftlich zu erreichen. «Bis die Anzeige erscheine, habe er sicher die Gewerbegenehmigung. Ich solle ihm einen Namen vorschlagen.»LeBaron«, sagte ich, ohne zu überlegen. Nicht schlecht, befand er und fragte, ob Fürst der Nachname meiner Lebensgefährtin sei, er habe das an unserem Türschild gelesen. Ich nickte.»Na also!«rief er und schien vor Freude seine Beine nach vorn zu werfen. Das sei doch was, besser im Plural, also Fürst & Fürst, was wohl wenig Probleme bereite, wie er meinte, da es diesen Namen in Altenburg sicher nur einmal gebe. Er werde, wenn ich das erlaube, meine Lebensgefährtin um Zustimmung bitten, ein Handel, der sich für Michaela, er sagte tatsächlich Michaela, in klingender Münze auszahlen werde.
Am liebsten hätte ich ihn gleich zu Roberts Geburtstag eingeladen, schon wegen des Wolfs, der nachmittags von Georgs Kindern ausgeführt wird. Aber es hat schon genug Streit gegeben, weil morgen die Großmütter anrücken, Robert aber nicht davon abzubringen ist, auf dem Markt Zeitungen zu verkaufen. Michaelas Mutter hat darauf bestanden, wenigstens das Lenkrad von Jimmy zu behalten. Das werde ich ihr also morgen überreichen, sozusagen die Urne des seligen Gefährts. Den LeBaron darf ich vorerst behalten.
Barrista solltest Du einmal kennenlernen, und sei es nur, um seinen Wein zu probieren und Dir einen literarischen Helden der Gegenwart anzusehen.
Sei umarmt, E.
PS: Georg brütet immer noch, atmet aber ruhig und regelmäßig.