Dienstag, 13. 2. 90


Lieber Jo!

Hier habe ich in einer Woche so viele und seltsame Begegnungen wie früher nicht in einem Jahr. Vorgestern49 saß ich über ein paar Zeilen zum Tierheim (ein Tierheim soll es erst werden, noch ist es ein wilder Zoo, eher die Hundeabteilung der VP50). Material hatte ich genug, auch die Überschrift, doch es ließ sich nicht schreiben. Entweder klang es rührselig oder unterkühlt. Ich brauchte tausendfünfhundert Anschläge, nicht mehr! Nach einer Stunde hatte ich noch keinen vernünftigen Satz zusammen. Es war wie verhext. Als ich nachlegen wollte, war keine Glut mehr im Ofen. Und ich bekam den Geruch von» nassem Hund «nicht aus der Nase. Ich wusch mir die Hände, schnüffelte am Papierkorb, sah hinter die Maschine, fluchte. Sobald ich die Finger auf die Tasten legte, war» nasser Hund «wieder da.

In der Nacht träumte ich ununterbrochen und fühlte mich morgens zerschlagen. Den Tag über hatte ich Termine in Meuselwitz und in Lucka, sammelte zwischendurch in den Dörfern Nachrichten ein und ließ mir von der Wintersdorfer Sekretärin einen Kamillentee kochen.

Zurück in der Redaktion, fand ich in meinem Fach Photos, darunter jene, die ich im Tierheim gemacht hatte. Im Ofen war noch Glut. Diesmal stopfte ich ihn voller Briketts, als plante ich eine Nachtschicht, und setzte mich an die Maschine.

Die Augen schmerzten. Von Zeit zu Zeit ging ein Schauer über meinen Rücken. Die Kälte weicht aus den Knochen, dachte ich; mir war wohl bei diesem Gedanken. Und dann — es klingt mysteriöser, als es in Wirklichkeit war — hatte ich das undeutliche Gefühl, jemand würde mir vorsichtig von hinten einen Hut aufsetzen.

Am Tisch saß ein Mann (wenn nicht abgeschlossen ist, hält sich sowieso niemand an Öffnungszeiten), einer, den ich irgendwoher kannte, mit dem sich etwas Erfreuliches verband, kein Heimatforscher.

«Lassen Sie sich bitte nicht stören«, sagte er sehr liebenswürdig und grüßte mit einer angedeuteten Verbeugung.»Ich warte ergebenst, es ist allein meine Schuld, daß wir uns verfehlt haben, bitte, fahren Sie fort. «So in etwa drückte er sich aus, als wäre es in Ordnung, wenn ich ihn ignorierte und weitertippte. In seinem ganzen Gestus entsprach er dem, was man sich unter einem alten Kavalier vorstellt — er ist höchstens vierzig —, Wortwahl und Aussprache erinnerten mich an die ungarischen Studenten in Jena, die ihr Deutsch bei Rilke und Hofmannsthal gelernt haben, sein rollendes» r «paßte gut dazu.

«Wir waren für zwölf verabredet«, versuchte er mir auf die Sprünge zu helfen,»ich hoffe, Ihnen sind aus meinem Fernbleiben keine Unannehmlichkeiten entstanden. Ich stehe zu Ihrer Verfügung, wann immer es Ihnen konveniert. «Konveniert! Er verwendete ständig Worte, die er offenbar nur mit einer Verbeugung auszusprechen wagte. Gerade wollte ich sagen, daß ich mich an keine Verabredung erinnern könne, als aus seiner Richtung ein Laut kam, ein verhaltenes Jaulen — oder wie beschreibt man das Gähnen eines Hundes? Das also war’s! Der Hund auf den Tierheimphotos! Und daneben er, deutlich genug, obwohl die Brille das Blitzlicht reflektiert. Seinen Namen hatte er mir buchstabiert, ich hatte aber vergessen, ihn nach Beruf und Wohnort zu fragen, und mich darüber geärgert. Das konnte ich nun nachholen.

Den Hund hatte ich als» leicht wölfisch «charakterisieren wollen, vor allem die Schnauze, die Statur nicht so kräftig wie bei einem Schäferhund, das Fell schwarz-grau. Auf einem Auge ist er blind. Sein Schicksal sollte die Rahmenhandlung bilden.

«Ihre gute Tat wird bekannt werden!«sagte ich und brachte ihm die Photos. Er sah sie durch, doch bevor ich wieder saß oder mir gar Zeit geblieben wäre, seinen Namen zu finden, lagen sie wieder vor mir, genau an der Tischkante. Am liebsten hätte ich ihn gebeten, sein Kunststück zu wiederholen, derart lässig hatte er den kleinen Stapel aus dem Handgelenk geworfen. Nichts Herablassendes sprach daraus, eher eine sympathische Distanz sich selbst gegenüber.

Er beugte sich seitlich zu dem Hund hinab, ein Singsang, beruhigend, ja einlullend — auf englisch!

«Ich hoffe, keine Indiskretionen befürchten zu müssen!«rief er, wie ich fand, mit englischem Akzent.»Von Literatur und Ewigkeit verstehe ich nichts!«fuhr er fort.»Meine Visionen sind anderer Art!«Ich hatte keine Ahnung, warum er das sagte, und dachte, mir sei etwas entgangen.

Er wolle damit lediglich ausdrücken, sprang er mir bei, daß es besser wäre, wenn die Leute, zum Gegenstand eines Artikels geworden, das Gedruckte nicht selbst lesen müßten. Gezwungenermaßen nehme er das eine oder andere, das man über ihn in der Öffentlichkeit verbreite, zur Kenntnis. Oft seien es die Journalisten selbst — wenige, die sich so bezeichneten, verdienten ihren stolzen Titel —, die ihn zum Lesen nötigten und sich dann wunderten … — er winkte ab, hielt aber schon im nächsten Augenblick seine Visitenkarte zwischen den Fingern —»besser eine zuviel als keine«— und schob sie mir über den Tisch zu.

Clemens von Barrista — weiße Buchstaben auf schwarzem Grund. Sonst nichts. Ich erinnerte mich, den Namen schon einmal gehört zu haben.

Du bekommst natürlich keine Vorstellung von Barrista, wenn ich Dir die Beschreibung seiner Augen vorenthalte — gegen seine Brille ist Deine Fensterglas! Riesige Glupschaugen, als blickte er durch einen Spion. Ein dunkler Schnauzer verdeckt notdürftig seine Hasenscharte und läßt, wie auch sein schwarzes Haar, die aknevernarbte Haut noch blasser wirken. Offenbar hat er sich mit seiner Erscheinung ausgesöhnt, von Unsicherheit — keine Spur. Er rückte etwas ab vom Tisch. Über dem kleinen Kugelbauch spannte sich das weiße Hemd.

Je mehr ich mich in seinem Anblick verlor, um so weniger wußte ich, was ich tun sollte. Da erhob sich Clemens von Barrista, sagte etwas wie:»Da läßt sich nichts machen «und reichte mir zum Abschied die Hand. Wo war ich mit meinen Gedanken?!

«Setzen Sie sich doch«, sagte ich schnell.»Machen Sie es sich bequem. «Er dankte, sah sich in der Redaktion um und verfiel, nachdem er wieder Platz genommen hatte, in ein absonderliches Deutsch, das ich kaum oder gar nicht wiedergeben kann. Er mokierte sich über unsere harten Stühle, das heißt, er pries einen guten Sessel als das» Merkzeichen «von Vernunft, von tatendurstiger, von tatenhungriger Vernunft, und sang ein Loblied auf den Luxus, auf die Wiedergeburt des Menschen aus dem Geist des Luxus. Sein Rotwelsch gipfelte in der Sentenz:»Schön scheint schön zu sein, gut mag gut sein, doch besser ist besser!«

Ich fand seine Anspielungen taktlos, nahm das Kissen vom Drehstuhl und bot es ihm an.»Mit Luxus ist hier nicht viel«, sagte ich.

Das habe er beileibe nicht gemeint! Ein Zitat sei es gewesen, womit er mir ein Kompliment habe machen wollen, ein Zitat aus dem Schatzkästlein eines Verwandten, eines wahren Freundes der Tiere, ein Sprüchlein, das ihm ans Herz gewachsen sei.

«Was wünschen Sie? Womit kann ich dienen?«fragte ich und spürte, wie seine gestelzte Manier bereits auf mich abfärbte.

Clemens von Barrista blickte vom Meeresgrund herauf, verbeugte sich leicht und sagte ganz ohne Akzent:»Sie wollten sich bis heute entschieden haben!«

Nach einer Verbeugung, die seiner nachempfunden war, erwiderte ich, daß wir einander am Dienstag51 zum ersten Mal begegnet seien, am Hundezwinger der VP nämlich, wo wir zu meinem Bedauern kaum miteinander gesprochen hätten und ohne Verabredung auseinandergegangen seien …

«Ich habe mir gestern bei Ihnen mein linkes Knie ruiniert«, brauste er auf,»weil das Licht kaputt war und immer noch kaputt ist!«Mit jedem Wort zügelte er seine Ungehaltenheit besser.»Wir haben hier gesessen, und ich habe Vorschläge gemacht. Ihre Zeitung«, er nahm die Brille ab und massierte mit Daumen und Zeigefinger seine Augen,»ist mir doch empfohlen worden!«Ich beteuerte, davon nichts zu wissen.

«Dann sind Sie also gar nicht Herr Schröder?«Er glupschte wieder durch seine Gläser.

Ich stellte mich vor, erwähnte erneut unser Treffen bei der VP und wollte hinaus, um das Flurlicht anzuschalten, als er mich mit einer nachdrücklichen Bewegung seines Oberkörpers stoppte.

«Es geht um den Besuch des Erbprinzen!«

Endlich fiel bei mir der Groschen! Natürlich wußte ich von einem Abgesandten des Erbprinzen! Barrista ist ein Bekannter, wenn nicht gar ein Verehrer von Vera! Nur hatte ich ihn mir ganz anders vorgestellt!

«Sie sind uns angekündigt worden, natürlich mit schönsten Erwartungen allerseits«, entschuldigte ich mich. Ich war aufgesprungen und spürte, als hätte diese Erkenntnis mich meiner Kräfte beraubt, wie schwer mir das Sprechen fiel. Sofort fürchtete ich, ich könnte etwas verderben, etwas sehr Wichtiges. Hatte sich nicht schon bei meinen» schönsten Erwartungen allerseits «ein Lächeln über seine Lippen geschlängelt? Es kann nicht nur an mir gelegen haben, wenn ich von seinem Sermon bloß einzelne Worte und Brocken aufschnappte, so als kämen sie abends um neun auf Mittelwelle.»… exzellenter Ruf! — Leistung, Einsatzbereitschaft, Wille — beträchtlich — kann mir vorstellen — neue Kraft, neue Kräfte — darauf gewartet — auferstanden aus — Vertrauen, Unbescholtenheit — solchen Zeiten — spekuliert — gratulieren, ja, gratulieren.«

Er drechselte Komplimente. Soviel hatte ich verstanden. Seine Diktion reizte zum Lachen.»Sind höchst willkommen. Ja, sind Sie«, brachte ich hervor und fürchtete schon, er könnte das als Parodie deuten. Wie ausgefallene Plomben bewegte ich die Worte im Mund, und nicht viel fehlte, und ich hätte mich wie ein Lakai verbeugt.

Barrista hatte sich warmgeredet, sprach, wenn ich mich recht erinnere, weiter akzentfrei und bewegte seine Hände wie unter einem Wasserhahn. Voller Entschiedenheit rief er:»Ich nicht! Gehöre nicht zu denen, Reden ist Silber, Schweigen Gold! Alles Mumpitz, nein, nein, mein Lieber«, er lächelte,»Rücksichten nicht mal im Interesse der Betroffenen, weiß jedes Kind, wirklich, jedes Kind! Das Jammern, je früher, desto besser, abgewöhnen, weiß selber, hilft nichts, keine Erziehung, werden es merken, niemand mehr da, nirgendwo, kein Beichtvater, unbesetzte Stelle, zweiwertig, dreiwertig, eine enorme Veränderung, absolute Leere, hüben wie drüben, einzigartige Chance!«

Ich versuchte gar nicht mehr, seinen Gedankensprüngen zu folgen, sondern bereitete ein paar Sätze über mich vor. Barrista, auf den Stuhl gefläzt, nickte mir übertrieben zu, als ich mich anschickte zu reden, zog die Augenbrauen hoch und ermunterte mich, seinen schüchternen Schüler, der an kurzen Hauptsätzen Halt suchte, mit ständigen Ahs und Ohs. Das war alles schrecklich simpel, doch es half, sein Zuspruch beruhigte mich. Als ich verstummte, stutzte Barrista. Was erwartete er? Ich zuckte mit den Schultern.

«Nun wird er wohl nicht mehr kommen!«seufzte er und kramte in seiner Hosentasche. Bevor ich fragen konnte, wen er meinte, entschuldigte er sich.»Oh, pardon, pardon! Es ist spät geworden. «Eingehend betrachtete er eine Uhr ohne Armband.»Zehn vor zwölf«, sagte er und unterdrückte ein Gähnen.

«Zehn vor zwölf?«

«Ich dachte erst«, überging er meinen Ausruf,»Ihre Augen leuchteten vor Begeisterung. Aber, lieber Herr Türmer, Sie sollten sich schonen. Darf ich Sie mitnehmen, darf ich Sie nach Hause fahren?«

Ich zeigte zum Fenster.»Habe selbst — «war alles, was ich hervorbrachte. Ich meinte das Auto.

«Dann darf ich Sie vielleicht hinausgeleiten?«Einer Collegemappe, die mir bis dahin verborgen geblieben war, entnahm er zwei rote, bereits etwas abgebrannte Kerzen, hielt ihre Dochte zusammen und entzündete sie gleichzeitig mit einem Feuerzeug. In jeder Hand eine Kerze, die Collegemappe unter dem linken Arm, stand er da wie eine Weihnachtsfigur aus Seiffen, die Tiefseeaugen auf mich gerichtet. Du kennst meine Schwäche für zuvorkommende Leute, trotzdem mußte ich lächeln. Er wartete, bis ich meine Sachen zusammenhatte. Der Wolf bewegte die Vorderpfoten. Bevor ich das Licht ausschaltete, sah ich, wie Barrista Wachs über den Handrücken rann und vor der Schnauze des Wolfs auf die Dielen tropfte. Ich schob mich an den beiden vorbei, öffnete die Tür zum Vorraum, dann die zum Flur und tastete nach dem Schalter.

«Warum mißtrauen Sie mir?«fragte er. Seine Augen schwammen auf mich zu. Außer dem Klacken des Schalters tat sich nichts.»Kein Problem, kein Problem«, rief er und hob die Kerzen höher. Ich war beschämt und wütend, letzteres um so mehr, als ich schon Freds Ausreden hören konnte.

«Im Osten habe ich mir ganz fix angewöhnt, auf alles vorbereitet zu sein. «Wieder deutete er eine entschuldigende Verbeugung an, weil er mir nicht den Vortritt ließ.»Es ist eine Kunst, mit den Leuten umzugehen, wirklich eine Kunst. «Unbeirrt humpelte er vor mir her, die brennenden Kerzen hielt er, so weit es ging, vom Körper entfernt.»Auch das Arbeiten will gelernt sein, machen Sie da bloß keine Ausnahmen!«Er kam mir zuvor und öffnete mit dem Ellbogen die Haustür. Der Zugwind löschte die Kerzen. Clemens von Barrista jedoch schritt in dem trüben Laternenlicht weiter, als leuchtete noch immer er den Weg. Da begann die Glocke der Martin-Luther-Kirche zu schlagen. Im nächsten Augenblick wurden die Laternen abgeschaltet. Ein kurzes Flackern, und die Nacht hatte Barrista und seinen Wolf verschluckt. Eine Weile lauschte ich seinen Schritten und dem englischen Singsang, rief ihm zweimal» Auf Wiedersehen!«hinterher und erwartete, jeden Moment das Licht seines Autos zu sehen. Es blieb dunkel, und nach dem letzten Glockenschlag war es überall still.

Ich schlief wie ein Stein.

Enrico


PS: Als ich heute in die Redaktion kam, wußte Jörg bereits alles und fragte, wie ich denn Barrista fände.»Speziell«, sagte ich und wollte mich gleich verbessern. Ich mag dieses Wort nicht. Doch Jörg stimmte mir sofort zu.»Speziell «treffe es vielleicht am besten.»Wie auch immer«, sagte er, an Georg gewandt,»Barrista will uns! Uns und niemanden sonst!«

Jörg war gegen acht in den» Wenzel «gefahren, wo er Barrista tatsächlich beim Frühstück getroffen und mit ihm gemeinsam» ein Ei geköpft «habe, wie er sich ausdrückte. Barrista habe ihn nicht nur über die anderen Gäste aufgeklärt, sondern auch deren Gestik und Redeweise nachzuahmen gewußt.»Saukomisch!«hatte Jörg das gefunden.

Was Barrista vom Erbprinzen erzählt habe, lasse ihn, Jörg, bei aller gebotenen Vorsicht mit Interesse und Neugier der Visite des alten Herrn entgegensehen. Der einzige Vorbehalt auf seiten Barristas sei ein» vernünftiger Wahlausgang «gewesen.

Als Fred auftauchte, stellte ich ihn zur Rede. Er aber machte auf der Stelle kehrt, ließ die Türen hinter sich offen und — schaltete das Licht an. Der Flur erstrahlte in nie gekannter Pracht. Fred behauptete, er habe die Glühbirnen bereits gestern vormittag ausgewechselt, was alle außer mir bemerkt hätten …

In der Hoffnung, daß wenigstens Du mir glaubst!

Dein E.

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