Mittwoch, 11. 7. 90


Liebe Nicoletta!

Wie Sie sehen, habe ich eine neue Adresse und bewohne nun vier Zimmer, dessen kleinstes größer ist als mein bisheriges Wohnzimmer. Kämen Sie in den nächsten Tagen oder Wochen, so fänden Sie mich auf der frisch begrünten Veranda, von der ich einen traumhaften Blick auf Stadt und Schloß habe. Sie sähen Altenburg und glaubten doch nicht, daß es Altenburg ist. Zum Haus gehört ein großer Obstgarten, umrankt von einer Dornröschenhecke.

Soviel zur Gegenwart. An deren Beginn hoffe ich Sie mit dem heutigen Kapitel führen zu können.

Leider gab es noch keine Gelegenheit, Ihnen von Tante Trockel, Roberts Kinderfrau, zu erzählen.376 Jährlich veranstaltete sie ein» Neujahrsessen «für uns. Manchmal spielte sie uns dann auch auf dem Klavier vor.

Nachdem mir Michaela versprochen hatte, nicht lange zu bleiben, tat ich ihr den Gefallen und begleitete sie zu Tante Trockel, Robert war zum Geburtstag seines Freundes Falk eingeladen.

Als wir aus dem Bus stiegen, sahen wir noch, wie Tante Trockel hinter der Balkontür verschwand. Michaela beschleunigte ihre Schritte, der übliche Wettlauf begann. Im selben Moment, da Tante Trockel die Haustür öffnete, drückte Michaela auf den Klingelknopf.

Mir fiel es schwer, das Lächeln in Tante Trockels verrunzeltem Gesicht zu erkennen. In den letzten Monaten war sie regelrecht schrumplig geworden, ihr Bauch jedoch, der sich unter dem enganliegenden Kleid wölbte, täuschte nach Form und Größe eine fortgeschrittene Schwangerschaft vor, ein Eindruck, den ihre ansonsten mädchenhafte Figur zusätzlich beförderte. Als ich hinter Tante Trockel die Treppe hinaufstieg, konnte ich erneut ihre schlanken Waden bewundern.

Tante Trockel reichte uns Kleiderbügel, faltete ihre Hände vor dem Bauch zusammen und sagte, als wäre sie uns eine Erklärung schuldig, sie habe zuviel Schokolade gegessen und das sei nun das Ergebnis. Von dem bayrischen Begrüßungsgeld sei so gut wie alles für Schokolade draufgegangen. Nicht, daß sie nichts mehr hätte, aber wann immer ihre Nachbarn nach Hof fuhren, kauften sie in ihrem Auftrag bei Aldi zwanzig Tafeln, und sie erstatte ihnen gegen Vorlage des Kassenbons den Betrag. Habe sie die Tafeln einmal im Schrank, könne sie an nichts anderes mehr denken. Tante Trockels Stimme war unerträglich hoch geworden. Mich beunruhigte die Vehemenz ihres Redeschwalls.

Sie schaffe es einfach nicht, fuhr Tante Trockel fort, die Tafel erst am Abend zu öffnen. Im Gegenteil, sie verbrauche alle Kraft dafür, sich einen oder zwei Riegel bis zur Tagesschau aufzusparen. Gestern sei ihr das nicht gelungen, und so habe sie zwei Tafeln an einem Tag verspeist, von Überdruß könne jedenfalls keine Rede sein.

Sie trug die Vorspeise auf, Fenchel mit Mandelsplittern und Apfelsine, dazu der Aperitif in winzigen Gläsern, der Rand mit Zuckerkruste bekränzt.

Wie immer hatte sich Tante Trockel bei der Vorbereitung dieses Essens bis an die Grenze ihrer Kräfte verausgabt. Sie selbst nippte hin und wieder am Wasserglas und redete auch weiter, während sie in der Küche hantierte. Nur als sie den Rehrücken auf einer schweren Platte präsentierte, hielt sie inne, um uns Gelegenheit zu geben, ihrer Kunst zu huldigen.

Danach — mein Teller war gerade zum zweiten Mal gefüllt worden — erzählte Tante Trockel, wie eine Klassenkameradin sie einst am Stanniolpapier habe riechen lassen, um ihr eine Ahnung davon zu geben, was Schokolade sei. Und sie, die Achtjährige, sei ihr dafür dankbar gewesen.»Stell dir das mal vor!«rief Tante Trockel und sah mich an. Sie wurde immer lauter und erzählte es so, als ginge das nur mich etwas an. Ich versuchte ihren Blick, sooft es ging, zu erwidern, wurde unsicher, als hätte ich etwas überhört, was ihre ausschließliche Ansprache begründete, und aß immer hastiger. Dann erst bemerkte ich, daß Michaela sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen hatte. Tante Trockel saß steif auf der Sesselkante.

Nun war es an mir, ihr mit gedämpfter Stimme Michaelas Pensum der letzten Wochen vorzutragen.

«Du mußt nicht flüstern«, sagte Michaela,»aber mit geschlossenen Augen kann ich mir die kleine Annemarie Trockel, die am Stanniolpapier riecht, besser vorstellen.«

Tante Trockel vollführte einen kleinen Hüpfer auf der Sesselkante und belohnte Michaela für ihre Ausrede mit einem Lob für den» klartext«. Das gab ihr zudem Gelegenheit, von ihrer Schwägerin zu berichten, die den» klartext «deshalb nicht kaufe, weil da Thüringen draufstehe. Altenburg, habe diese gesagt, sei Sachsen und gehöre zu Sachsen, das finde sie, Tante Trockel, natürlich auch, aber das lasse sich ja ändern, also der Zeitungskopf.

Michaela fragte schließlich, was sie von den Artikeln halte.»Sehr gut«, rief Tante Trockel,»wirklich sehr gut, kritisch eben, sehr kritisch. «Sie nippte an ihrem Wasserglas und behielt es in der Hand.

Die Kritik finde sie gut? Ja, was denn sonst, das sei doch jetzt überall so. Nun komme die Wahrheit ans Licht.

Beide Frauen, so schien mir, warteten darauf, daß der Rehrücken endlich von meinem Teller verschwand.

«Nein!«schrie Michaela auf, als Tante Trockel zwei Teller mit jeweils einem Achtel Schwarzwälder Kirschtorte hereintrug. Tante Trockel knüpfte daran die Geschichte von der bestellten Schlagsahne, die man ihr trotz mehrfacher Zusicherung nicht zurückgestellt habe, weshalb sie bis zum Kaufhallenleiter vorgedrungen sei, der schließlich zum Telephon gegriffen und am Steinweg noch zwei Flaschen für sie geortet hatte.»Zwei Flaschen!«rief Michaela. Zwei Flaschen Schlagsahne seien eine Zumutung, das dürfe sie nicht tun, sich und uns so zu mästen. Michaela war selbst über ihren Ausbruch erschrocken, als Tante Trockel die Teller abstellte und auf dem Absatz kehrtmachte. Auf dem höchsten Sahnegipfel eines jeden Stückes thronte eine Maraschinokirsche, um die herum der sirupartige Likör einen Bergsee bildete. Ich sah Tante Trockel bereits mit tränenüberströmtem Gesicht, die Stirn am Küchenfenster, da erschien sie mit einem noch größeren Stück Torte, das sie auf ihren Platz stellte. Plötzlich stand eine Flasche Obstler vor mir und drei Gläser.»Ach, Tante!«rief Michaela. Ich schenkte uns ein, wir stießen an.

Nach dem ersten Gabelstich löste sich aus dem Maraschino-Bergsee ein Rinnsal, das sich purpurfarben durchs makellose Weiß schlängelte. Wir aßen andächtig schweigend.

Dann tat ich etwas, was ich bei Tante Trockel nie versäumte, ich ging aufs Klo: spiegelnde, von keinem Tropfen verunzierte Armaturen, ein Klobecken, in dem der Abfluß so weiß war wie der obere Rand, eine Batterie Kämme, in denen nie ein Haar zurückblieb. Mit der Neugier eines Kindes öffnete ich jedesmal ihren Spiegelschrank, in dem es dezent nach Schlangengift und Franzbranntwein roch. Bei ihr wäre ich nie auf die Idee gekommen, im Stehen zu pinkeln.

Plötzlich erinnerte ich mich an eine seltsame Begebenheit in meiner Kindheit. Fast im selben Moment donnerte Tante Trockel gegen die Tür und rief geradezu flehentlich meinen Namen. Mit schreckensgeweiteten Augen riß sie zwei Schlüpfer von der Leine, preßte sie an sich und flüchtete mit ihrer Beute.

Als ich zurückkehrte, saß Tante Trockel zurückgelehnt im Sessel, die Hände neben sich, und betrachtete ihren Bauch. Michaela hielt bereits die Handtasche auf dem Schoß.»Hab ich euch schon mal das wichtigste Erlebnis meines Lebens erzählt«, fragte ich, ignorierte Michaelas Reaktion und begann einfach zu erzählen, woran ich mich gerade erinnert hatte.

Ich war zehn oder elf Jahre alt, als mich ein Junge vom Nachbarhof überredete, mit ihm bei seiner Großmutter zu übernachten. Bei ihr dürften wir uns die Schlagerparade ansehen und danach noch einen Film. Außerdem bekämen wir dort so viele Geleebananen, wie wir wollten. Obwohl es für mich nichts Schlimmeres gab, als ohne meine Mutter und Vera bei Fremden zu übernachten, stimmte ich zu, aus Feigheit und Mangel an Argumenten. Nachdem Schlagerparade und Film vorüber waren, die Geleebananen gegessen und ich im Dunkeln in dem fremden Bett lag, umgeben von fremden Dingen und fremden Gerüchen, begann ich bitterlich in mein Kissen zu weinen. Ja ich schluchzte vor Heimweh und Sehnsucht und weil ich es immer in solchen Situationen tat. Nach einer Weile stellte ich verwundert fest: Mein Weinen hatte aufgehört. Sofort wollte ich weiterheulen, aber es ging nicht.

«Wißt ihr, was passiert war?«fragte ich Michaela und Tante Trockel. Beide sahen mich an, als spräche ich Chinesisch.

«Also, was war passiert?«fragte Michaela gelangweilt.

«Ich wußte nicht mehr, warum ich geweint hatte«, rief ich.»Ich verstand selbst nicht, was denn so schlimm an meiner Situation sein sollte!«

«Das ist dir jetzt eben eingefallen?«fragte Tante Trockel.

«Ja«, sagte ich,»das ist mir auf dem Klo eingefallen.«

«Na gut«, sagte Michaela, nickte Tante Trockel zu und wollte sich erheben. Da bat ich um ein zweites Stück Schwarzwälder Kirsch. Tante Trockel eilte in die Küche, Michaela ließ sich zurückfallen. Den Kopf auf der Sofalehne, sah sie zur Decke. Ich füllte unsere Gläser nach. Tante Trockel kam kichernd aus der Küche und verwechselte vor Aufregung ihren und meinen Teller, was ich an der roten Spur erkannte, die die Maraschinokirsche an meinem Tellerrand hinterlassen hatte. Tante Trockel hielt mit. Wir stießen an. Ich würde Tante Trockel zugrunde richten, empörte sich Michaela.»Wieso ich?«fragte ich.»Wieso er?«echote Tante Trockel und kicherte.»Das ist tödlich!«rief Michaela und zeigte auf Tante Trockels Teller.

«Soviel ich weiß«, sagte ich,»haben Schwangere da nichts zu befürchten. «Michaela erstarrte. Tante Trockel warf sich zurück und begann aus vollem Hals zu lachen, so daß ein Sprühregen an Sahne und Krümeln vor ihr niederging.

«Ihr seid verrückt«, sagte Michaela, nahm ihre Handtasche und stand auf.

Ich hatte aber keine Lust zu gehen! Jedenfalls gab es, so fand ich, keinesfalls mehr Gründe aufzubrechen als zu bleiben. Im Gegenteil: Ich hatte Zeit! Ich mußte ja nichts mehr schreiben, nichts mehr lesen.

«Bringen wir’s hinter uns?«fragte ich, als unsere Teller wieder leer waren. Tante Trockel nickte.»Frisch schmeckt es sowieso am besten. «Sie nahm unsere Teller und tappte in die Küche.

Michaela starrte mich an.»Du hörst jetzt bitte auf damit«, rief sie.»Du hörst jetzt auf, du bringst sie um!«377

Statt der Teller trug Tante Trockel die Torte herein, über die eine durchsichtige Plasteglocke gestülpt war, mit einem roten Knopf in der Mitte als Griff.

«Trinken wir erst mal einen«, sagte ich.

«Viel Spaß«, rief Michaela, öffnete die Wohnungstür und zog sie, noch bevor einer von uns etwas sagen konnte, hinter sich zu.

Tante Trockel und ich aßen die Torte ohne Teller, direkt von dem Boden ihres Gehäuses. Wir achteten darauf, dasselbe Tempo zu halten. Beide trugen wir unsere Stücke von der Mitte her ab.

Ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können: Doch als ich mich gemeinsam mit dieser dickbäuchigen, verhutzelten Alten über die Reste der Torte hermachte, fühlte ich mich auf eine unerwartete Art und Weise frei, ja befreit; befreit von allem Druck, aller Hetze, allen Ansprüchen. Eine wundersame Ruhe hielt Einzug, ein Frieden, den ich der Wirkung des Alkohols zuschrieb.

Morgens erwachte ich gegen vier aus einem traumlosen, tiefen Schlaf, der mich vollkommen erfrischt und auch den letzten Rest Müdigkeit von mir genommen hatte.

Meine» gute Laune «reizte Michaela. Sie zu quälen bereite mir offenbar Vergnügen, behauptete sie. Was ich auch tat und sagte, es bot Anlaß zu Vorwurf und Kritik.

Und dann begann es zu schneien, es schneite den ganzen Abend und die ganze Nacht und auch noch den nächsten Vormittag. Vor dem Fenster sah ich Kinder mit Schlitten. Unser Nachbar schippte Schnee.

In den letzten Wochen hatte ich dem Wetter keinerlei Beachtung geschenkt, jetzt aber freute ich mich wie ein Kind über die weiße Pracht. Ich wollte hinaus und zog mich an. Robert rief, er komme mit.

Als Michaela, die im Bett lag und Text lernte, uns hinausgehen sah, zog auch sie sich an.

Wir waren ein merkwürdiges Trio. Robert rannte vorneweg, ich hinter ihm her und mir dicht auf den Fersen Michaela. Sobald Robert außer Hörweite war, begann sie zu zetern, wieso ich mich plötzlich für Robert interessiere und ob ich ihr den Jungen abspenstig machen wolle.»Warum bist du so? Was hab ich dir getan? Warum bist du so?«rief sie immer wieder.

Wir liefen querfeldein. Der Boden unter dem Schnee war nicht überall gefroren, und manchmal mußten wir rennen, um nicht einzusinken. Michaelas Gerede erschöpfte mich mehr als die körperliche Anstrengung. Gern wäre ich umgekehrt. Aber Robert wollte noch zum» Silbersee«.

Der Teich war zugefroren und spiegelglatt. Robert und Michaela schlitterten um die Wette. Mehrmals glaubte ich schon, das Eis brechen zu hören. Ich wandte mich zum Gehen, damit die beiden zusammenblieben. Als ich mich noch einmal nach ihnen umsah, traf mich ein Schneeball ins rechte Auge. Es war nicht nur Schnee, wie Michaela behauptete, jedenfalls tat es so höllisch weh, als habe ein Steinchen oder Splitter mein Auge verletzt. Ich sah nichts mehr und befürchtete das Schlimmste.

Robert nahm mich an der Hand, als müßte ich geführt werden. Er ließ meine Hand auch auf dem Feld nicht los, während Michaela mir riet, mich nicht so anzustellen.

Werden Sie mir glauben, wenn ich sage, daß ich auf dem Weg über das verschneite Feld vollkommen glücklich gewesen bin? Doch genau so war es. Ja, ich weinte, weil mein rechtes Auge so sehr schmerzte, aber viel mehr weinte ich vor Glück.

Wie soll ich es erklären?

Der Schmerz hatte mich aufgeweckt! Endlich begriff ich, was ich seit der Nacht am Kreuzweg und dem Besuch bei Tante Trockel wußte: Mein altes Leben lag hinter mir. Oder besser: Jetzt begann ich überhaupt erst zu leben.

Seit meinem Sündenfall hatte ich mit der Zeit gegeizt, kein Augenblick, in dem ich nicht ein Getriebener gewesen war, der allein dafür lebte, aus jedem Tag und jeder Stunde noch mehr Schreiben, noch mehr Literatur, Werk und Ruhm zu schinden.378

Endlich hatte ich mich von der Kunst, von der Literatur befreit und mit ihr von der Zeit. Plötzlich war ich einfach nur noch da, um zu leben, zu genießen, ich mußte nichts mehr schaffen!379

Es gab Robert und Michaela, den Schnee und die Luft, in der Ferne das Bellen der Hunde und die Geräusche der Straße, all das nahm ich wahr, als hätte ich soeben erst diese Erde betreten, als befände ich mich erstmalig inmitten der Welt. Ach, Nicoletta, werden Sie mich verstehen?380

Leicht, befreit und glücklich lief ich hinter Robert her. Und als aus Oberlödla ein großer Hund auf uns zugerannt kam und Robert und Michaela sich hinter mir zu verstecken suchten, brachte ich den kläffenden Köter schnell dazu, sich an meine Knie zu drücken und die Augen zu schließen, während ich ihm Hals und Kopf kraulte.

Das verwahrloste Tier begleitete uns bis zur Straße. Robert hatte einen Wagen angehalten, der uns in die Poliklinik brachte. Vor dem Eingang lief ich Dr. Weiß, meinem Arzt, in die Arme. Er glaubte wohl, ich hätte einen Vorwand gefunden und käme, um mich weiterhin krank schreiben zu lassen. Deshalb behandelte er mich etwas von oben herab. Doch als ich ihm sagte, daß ich, ganz gleich, was mit dem Auge sei, keine Krankschreibung wolle, und er mir fast mit Gewalt das rechte Auge öffnete, war es das freundliche Gesicht von Dr. Weiß, das ich als erstes wieder mit beiden Augen erblickte.

Damit bin ich am Ende meiner Geschichte. Was weiter geschah, wissen Sie selbst. Nun wäre die Reihe eigentlich an Ihnen. Was mich angeht, stünde einer Reise nach Rom nichts im Weg.

Ihr

Enrico Türmer

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