Sonnabend, 9. 6. 90

Liebe Nicoletta!

Mit der Kirchenrede hatte ich mein Pulver verschossen, was in meiner Macht stand, war getan. Ich wußte nicht weiter. Ich empfand eine große Leere. Michaela sprach von Depression und ließ sich diesen Begriff auch nicht mehr nehmen. Verdenken konnte ich es ihr nicht. Schließlich hatte sie am meisten unter mir zu leiden.

«Die verstehen doch nur, wenn du ihnen die Faust unter die Nase reibst!«kommentierte Mutter meine» Brandrede«. Damit war die Sache für sie erledigt. Robert war unschlüssig, ob er stolz auf mich sein sollte oder ob es sich bei meinem Kirchenauftritt nur um eine weitere Peinlichkeit handelte.

Michaela hatte man am nächsten Tag aus der Probe gerufen. Zusammen mit Anna (die Frau mit der Narbe), dem Langhaarigen, dem Pfarrer Bodin, dem Forum-Mann und noch ein paar Frauen, die wir am Vorabend kennengelernt hatten, wurde sie vom ersten Sekretär der SED-Kreisleitung zu einem Gespräch ins Rathaus geladen. Michaela erzählte von dem alten Rathaussaal mit seiner Holzdecke, dem Sitzungszimmer mit den alten Möbeln und wie erschrocken sie beim Anblick Naumanns, des 1. Sekretärs, gewesen sei. Aus solcher Nähe habe sie ihn noch nie gesehen.

Der zerquetscht einen, ohne mit der Wimper zu zucken, habe sie gedacht. Die Chefs der Blockparteien hätten mit gesenkten Köpfen dagesessen und wären regelrecht zusammengezuckt, wenn Naumann das Wort an sie gerichtet habe. Nur der CDU-Mann, dessen Namen sie sich nicht hatte merken können (Piatkowski), habe sie unverhohlen gemustert. Der Bürgermeister dagegen habe vor Aufregung viel zu laut geredet. Naumann habe mehrmals wiederholt, wie sehr ihn die erste Demonstration in unserer Stadt bewege, was ihr, Michaela, etwas von der Angst genommen habe. Sie habe die ganze Zeit an Robert denken müssen. Piatkowski hingegen habe darauf beharrt, daß sie hier über eine illegale, ungenehmigte Demonstration sprächen, die Menschenleben gefährdet habe, was er als Christ mit seinem Gewissen nicht vereinbaren könne. Er meinte die fehlende Verkehrssicherheit. Sie sollten froh sein, habe darauf der blaulippige Pfarrer Bodin geantwortet, überhaupt Gesprächspartner zu finden. Es gebe da einige, die wären gar nicht mehr bereit zu reden, die wollten Taten sprechen lassen. Erst draußen auf dem Marktplatz sei ihr klargeworden, was Bodin, der Pfarrer, da eigentlich gesagt habe. Das sei eine Distanzierung von mir gewesen, wen sonst sollte er denn gemeint haben.

Sonnabend mittag brachten wir meine Mutter zum Zug. Auf der Rückfahrt fragte Michaela, ob wir nicht Lust hätten, nach Berlin zu fahren, sie habe keine Vorstellung am Wochenende. Ich war einverstanden. Robert hielt das für einen Scherz. Er wollte gar nicht glauben, daß ich bereit war, kampflos ein freies Wochenende, also zwei Schreibtage, zu opfern.

Nachdem Michaela das allabendliche Verlesen der Resolution organisiert hatte, mußte sie uns nur noch bei Thea ankündigen.

Deren Wohnung in der Hans-Otto-Straße, keine Minute vom Friedrichshain entfernt, hat Michaela immer als großbürgerlich bezeichnet. Verglichen mit unserem Neubau war sie es auch. Jedenfalls fanden die vierzig Leute, die sich an diesem Abend dort versammelten, bequem Platz.

Wie sehr hatte ich mich einst an der Vorstellung berauscht, eine solche Veranstaltung als derjenige bestehen zu können, dessen Buch gut sichtbar auf dem Couchtisch neben dem Jugendstilleuchter liegt, veröffentlicht in Frankfurt am Main. Jetzt aber standen dort Salzstangen, und daneben lümmelte, lang und dürr, ***, der vielversprechendste unter den jüngeren Berliner Schauspielern, der sich eine Salzstange nach der anderen in den Mund steckte und das herausstehende Stück geräuschvoll abbrach.

Michaela saß wie ein Hofnarr zu Füßen des Sessels, auf den sich Thea mit untergeschlagenen Beinen zurückgezogen hatte. Sie zupfte an dem Schafsfell, das sie wie eine Eisscholle umgab, und erzählte von Leipzig und der Robbe. Mich erwähnte sie mit keinem Wort. Zuvor hatte Thea mich in der Küche beiseite genommen und in ihrer stets fürsorglich vereinnahmenden Art gemahnt, keine Dummheiten zu machen, nicht den Helden zu spielen, Micki (wie sie Michaela nennt) mache sich große Sorgen. Thea belehrte mich über den Unterschied zwischen Tollkühnheit und Mut. Trotzdem könne sie nicht umhin, mich zu bewundern, wobei sie unvermittelt jenen mädchenhaft-scheuen Ausdruck annahm, der sich bei Schauspielerinnen regelmäßig einzustellen scheint, wenn sie selbst bewundert werden möchten.

Das Berliner Gerede unterschied sich nicht von dem, was ich aus Altenburg kannte, allerdings wurden hier die Berühmtheiten meist nur beim Vornamen genannt, so daß ich oft nicht wußte, wer gerade gemeint war.

Theas Mann, ein perfekter Gastgeber, war der einzige, mit dem ich mich ein paar Minuten unterhielt — über die Kinder, ihre beiden Mädchen, in deren Zimmer Robert verschwunden war.

Gegen elf wollte ich mich schlafen legen, als endlich jemand das Wort an mich richtete. Es war Verena, eine gelernte Töpferin. An ihr fiel mir zuerst die frische glatte Haut ihrer Wangen auf. Von ihrer Arbeit gebe es nicht viel zu erzählen, sagte sie und tat meine Nachfragen mit einem Kopfschütteln ab, wobei sie auf ihre rauhen Handflächen sah. Geradezu demütig hatte sie von» diesem Kreis «gesprochen und ihre Arbeit durch das Lob von» Menschen wie Thea «als geadelt betrachtet.

«Wenn die Mauer weg ist«, entgegnete ich,»werden die alle hier wie die Fische auf dem Trockenen liegen und große Augen machen. Dann wird es gut sein, einen richtigen Beruf zu haben. «Das, was ich als Ermunterung gedacht hatte, ließ sie vor mir zurückschrecken. Jetzt gehe es doch erst richtig los, sagte sie, ohne Zensur, ohne Beschränkung, bald könne man spielen, was man wolle, alles, was verboten sei oder in den Schubladen warte. Von einem» unvergleichlichen Aufbruch «sprach sie und von» nie gekannter Blüte«.

«Aber keiner wird sich mehr dafür interessieren«, sagte ich.

«Warum denn nicht?«rief sie aufgebracht.»Aus welchem Grund?«

«Weil es einfach zu schön wäre«, wich ich aus und spürte, wie schwer Gedanken auf einen zurückfallen, mit denen man allein bleibt.

«Thea findet immer und überall ein Theater«, sagte Verena, dessen sei sie gewiß.

Vielleicht wäre der Eklat vermieden worden, wenn mich nicht Thomas gebeten hätte, mit ihm ein paar Flaschen aus dem Keller zu holen. Ich sah noch, wie sich Verena zu dem Kreis um Thea setzte.

Später, vor dem Bücherregal, registrierte ich reflexhaft, was wir nicht besaßen, den ganzen Proust zum Beispiel, aber ich empfand keinen Neid mehr. Ich stand vor den Büchern wie einer, dem erst an der Tür seines Freundes einfällt, daß dieser umgezogen ist.

Plötzlich hörte ich Theas Stimme hinter mir. Ich fühlte mich irgendwie ertappt und griff nach dem orangefarbenen Strindberg-Bändchen.

Ich verstand sofort. Trotzdem fragte ich:»Mit welchen Fischen?«Sie wiederholte, was ich zu Verena gesagt hatte.

«Wenn die Mauer fällt, ist hier Schluß«, sagte ich und blätterte in» Fräulein Julie«. Die Gespräche waren schon vor meiner Antwort verstummt.

«Das ist doch klar! Ohne Mauer keine DDR!«sagte ich und blätterte weiter.

«Ich verdiene siebenhundert Mark«, sagte ich, nachdem es wieder ruhiger geworden war,»das sind weniger als zweihundert West, vielleicht weniger als hundertfünfzig. Das hätte ich in Westberlin als Kellner an einem Wochenende zusammen.«

Wie ein Lehrer wandte ich mich den Gästen zu:»Wenn ich als Hilfsarbeiter zehn- oder zwanzigmal mehr verdiene als ein Dramaturg, warum soll ich dann kein Hilfsarbeiter werden? Wozu braucht die Gesellschaft heute noch ein Theater?«Sie lachten und buhten und nannten mich Clown und Verräter.

«Was für Aufgaben denn?«rief ich ihnen zu.»Wen lasse ich denn im Stich?«

Der Salzstangenknacker sagte, er wisse nicht, wer ich sei und was ich mache, das sei ihm aber auch egal, denn mit Reaktionären wolle er bei aller Notwendigkeit von Veränderung nichts zu tun haben. Die *** vom DT fistelte, ich sei ein Provokateur, ja, ein Provokateur.

«Ich meine«, rief ich versöhnlerisch,»daß euch das Publikum davonlaufen wird …«

Ach, Nicoletta! Ich sprach von Publikum, meinte aber etwas anderes, etwas Grundsätzliches. Von Publikum zu reden war eine Verniedlichung. Die Aufmerksamkeit würde aus der Welt verschwinden, die Aufmerksamkeit, die uns alle auf eine Bühne gehoben hatte, das wollte ich sagen. Aber das hätte niemand verstanden. Die begriffen ja nicht mal, daß es Masochismus war, was ich da praktizierte, daß ich, schrecklich, es auszusprechen, viel mehr verlor als diese Schauspieler. Ja, natürlich, die würden immer irgendwas finden. Thea bekäme immer irgendeine Rolle. Sie mußten keine Angst haben. Ich aber verlor alles, ALLES! Leid und Glück! Ost und West! Himmel und Hölle!

Michaela litt bleich auf ihrer Eisscholle und versuchte zu lächeln.

Gegen zwei gingen wir schlafen. Die Plüschtiere über meinem Kopf, ein nach vorn übergefallener Hund und ein Bär, der auf dem Rücken lag, schienen vom Spiel auszuruhen. Robert hatte mit den Mädchen bis nach Mitternacht Musik gehört und schlief in einem anderen Zimmer.

Michaela kam in einem zerknitterten blauen Pyjama aus Seide herein. Thea habe ihn wegschmeißen wollen, weil er in der Maschine ruiniert worden sei. Nun gehöre er ihr. Mitten in der Nacht erwachte ich von ihrem Weinen. Es sei alles zuviel, sagte sie, einfach zuviel. Mit meiner Hand unter ihrer feuchten Wange schlief sie noch vor mir wieder ein.

Am nächsten Morgen hatten Thea und Thomas ein Frühstück vorbereitet, das auf mich wie eine Entschuldigung wirkte und zugleich der Vollzug jenes Rituals war, das Michaela so bewunderte. Über den Biedermeiertisch war eine blütenweiße gestärkte Decke gebreitet. Berührte man den Saum mit dem Schenkel, hob sich der Stoff an der Tischkante. Die Servietten unserer Gastgeber steckten in silbernen, mit Initialen verzierten Ringen, unsere Servietten waren zu einer Art Krone gefaltet. Michaelas Nachahmung scheiterte schon an der beiläufigen Geste, mit der selbst die Mädchen ihre Servietten entfalteten und sich zurücklehnten, als erwarteten sie, daß man ihnen serviere.

Gold- und rotumrandetes Geschirr, silbernes Besteck, sogar Vorlegegabeln, ja Messerbänkchen schmückten den Tisch. Zwei Sorten bitterer» Jam «leuchteten in Kristallschalen, neben denen der Plastebecher mit Senf und das Meerrettichglas wie die Harlekine im Hofstaat wirkten. Außer diesen hatte allein das kleine russische Metallgestell für das Salz eine Entsprechung in unserem Haushalt, obwohl uns das dazugehörige Löffelchen abhanden gekommen war.

Was bei Tisch gesprochen wurde, hatte nichts mit dem gestrigen Abend zu tun. Zumeist redeten die Mädchen. Robert ignorierte uns vollständig. Er hatte sich in eine von ihnen oder in beide, das habe ich nie herausgefunden, verliebt. Im Hintergrund lief ein Klavierkonzert von Chopin. Alles war dazu angetan, mich glauben zu machen, die Welt sei dieselbe wie bei unserem letzten Besuch im April.

Plötzlich trieb Thomas zur Eile. Zum ersten Mal hörte ich von dem Treffen der» Gewerkschaftsvertrauensleute der Theater«. Thea sollte dort das» Gedächtnisprotokoll «ihrer Verhaftung vortragen. Ich hoffte mich durch mein Versprechen, den Tag mit Robert zu verbringen, dieser Zumutung entziehen zu können. Doch Robert hatte jedes Interesse am Planetarium verloren. Also mußte ich mit ins Deutsche Theater.

Wir fanden nur im zweiten Rang Platz. Ich schwor mir, zum letzten Mal auf Michaela Rücksicht genommen zu haben. Von denen, die auf der Bühne saßen, kannte ich nur Gregor Gysi. Man müsse den psychischen Druck, der auf den Bereitschaftspolizisten laste, berücksichtigen, sagte er, die seien einfach strukturiert und auf Situationen wie diese gar nicht vorbereitet.

Es wurden Gedächtnisprotokolle verlesen, von Schlägen auf Rücken, Beine, Nieren und Kopf war die Rede. Thea las ohne Pathos, ihr Bericht war einer der kürzesten. Einmal sagte sie: Das möchte ich nicht wiedergeben. Zwei Frauen vor uns weinten.

Applaus, Gelächter, Buh- und Zwischenrufe wechselten einander fast gleichmäßig ab. Plötzlich wurde es lauter. Von überall her Hohngelächter, wie es gestern abend auch über mich niedergegangen war. Ich glaubte, vorher Gysis Stimme gehört zu haben.

«Er hat die Stirn, uns zu fragen, warum wir die Demonstration nicht angemeldet hätten!«rief Michaela mir ins Ohr.

Das hat dir der Teufel souffliert! schoß es mir durch den Kopf. Dabei lachte ich. Natürlich wurde weitergeredet, aber eben nur, um zu reden; man flüsterte, man räusperte sich, rutschte auf den Stühlen herum und unterhielt sich ungeniert. Doch die teuflische Saat ging auf.

Ich bin mir nicht sicher, denke aber, daß es der Intendant des Schwedter Theaters war, der da wie ein Besessener auf die Bühne stürmte. Mit bebender, fast erstickter Stimme schrie er, auch weil er das Mikro zu weit weghielt, daß, wenn hier schon davon die Rede gewesen sei, daß man Demonstrationen beantragen solle, daß er dann beantragen wolle, daß diese Beantragung jetzt hier und überall erfolgen solle, daß in allen Städten, daß überall dort, wo ein Theater sei, wo es Leute wie uns gebe, daß dort Demonstrationen beantragt werden sollten, überall, im ganzen Land!» Danke!«rief er in den Applaus und Jubel, der über ihn hereinbrach. Thea und Michaela waren aufgesprungen und klatschten.

Auf der Bühne wurde sofort das Procedere besprochen, welche Fristen eingehalten werden müßten und so weiter. Zum Schluß stand als Termin der 4. November fest.

Abends, auf der Rückfahrt, hielten wir in Leipzig und gingen ins» Astoria«, ich habe es Ihnen gezeigt, dieses noble Hotel direkt am Ring, unmittelbar neben dem Bahnhof. Man ließ uns ein, wir bekamen Plätze und aßen fürstlich.»Eigentlich geht es uns doch gut«, sagte ich. Daß die Straße vor dem» Astoria «dieselbe sein sollte wie die, auf der vor dreizehn Tagen ein Militärkordon gestanden hatte, über die vor sechs Tagen siebzigtausend Demonstranten gezogen waren, schien jetzt genauso unwirklich wie die Annahme, morgen könnte es hier zu einer Schlacht kommen.

Am Montag saß ich ab zehn auf meinem Platz in der Dramaturgie, las ein wenig, ging um zwölf in die Kantine und fuhr um zwei nach Hause. Ich kümmerte mich um den Haushalt, ich ging einkaufen, ich legte mich hin, später machte ich Abendbrot. Danach setzte ich mich mit Robert vor den Fernseher. In der Tagesschau hieß es, in Leipzig wären hundertfünfzigtausend auf die Straße gegangen. Kein Wort über Festnahmen oder Straßenschlachten.

Michaela, die kurz darauf eintraf,317 blieb mit offenem Mantel neben uns stehen.»Wirklich?«fragte sie.»Hundertfünfzigtausend!?«Sie sah unentwegt in den Fernseher, obwohl dort schon etwas ganz anderes lief.

Am Dienstag morgen warteten Michaela und ich um neun im Sekretariat, weil Jonas am Montag nicht im Haus gewesen war. Halb zehn bat er uns herein, bestellte bei seiner Sekretärin drei Kaffee und lehnte sich in seinem Thron, der dem Fundus entstammte, zurück. Sein Lächeln blieb nahezu unverändert, während Michaela ihn von dem» Berliner Beschluß«unterrichtete und ihn aufforderte, eine Demonstration für Presse- und Meinungsfreiheit anzumelden.

«War’s das?«fragte er. Ob uns klar sei, was wir da sagten, ob wir das ernst meinten und tatsächlich von ihm erwarteten, zur Polizei zu gehen und eine Demonstration zu beantragen? Solche» Be-schlüs-se«(er sprach, jede Silbe betonend, die Anführungszeichen mit) kümmerten ihn einen feuchten Dreck. Wir könnten uns gern weiter unglücklich machen und als Privatpersonen so viele Demonstrationen anmelden, wie wir für nötig hielten, sollten dann aber auch unseren eigenen Kopf hinhalten und ihn später nicht um Hilfe bitten, denn das sage er uns jetzt schon, dann könne er gar nichts mehr für uns machen, gar nichts mehr!

Michaela wollte, wie sie sagte, sich nur noch einmal vergewissern: Er sei also nicht bereit, die in Berlin von den Gewerkschaftsvertretern aller Theater beschlossene Demonstration hier in Altenburg zu beantragen?

Er wisse nichts von Beschlüssen der Gewerkschaft. Er könne ja mal die Gewerkschaft hier anrufen, wenn wir das wünschten, vielleicht wüßten die, wovon wir redeten.

«Das bedeutet also nein?«fragte sie.

«Es bedeutet ganz sicher nein«, sagte er. Wir lächelten uns an.»Na dann«, sagte Michaela und erhob sich, als gerade die Sekretärin mit drei Tassen Kaffee erschien.

Nach der Probe gingen wir zur Polizei,318 klingelten und standen im nächsten Moment vor zwei Diensthabenden, der eine schwarzhaarig, der andere blond und pausbäckig. Sie musterten uns von ihren Schreibtischen aus.

«Wir wollen eine Demonstration anmelden«, sagte Michaela, stellte uns vor und gebrauchte dieselben Sätze wie gegenüber Jonas. Der Schwarzhaarige griff zum Telephon, der Blonde sah aus dem Fenster und grinste.

Eine Minute später benutzte Michaela zum dritten Mal an diesem Tag die Formulierung» Berliner Beschluß«und» Treffen der Theaterschaffenden«.

Der Altenburger Polizeichef, ein langer hagerer Mann mit Rundrücken, wirkte, selbst wenn er sprach, abwesend und blickte, wenn er uns überhaupt ansah, allenfalls kurz auf. Nach einer längeren Pause sagte er etwas von Verkehrssicherheit, die er» mit seiner jetzigen Stärke «nicht gewährleisten könne, klagte über die Kurzfristigkeit unseres Anliegens. Danach herrschte Schweigen. Ich betrachtete die Spuren von rotem Bohnerwachs an der Fußleiste des hellen Wandschranks und die schwarzen Striemen der Bohnerkeule.

Plötzlich fragte der Polizeichef, wie denn das Thema unserer Veranstaltung laute.

«Die Zulassung des Neuen Forums, freie und geheime Wahlen, Presse- und Informationsfreiheit, Meinungsfreiheit, Reisefreiheit — eben alles, was in unserer Verfassung garantiert wird«, sagte Michaela. Der Polizeichef stemmte sich hoch, stellte sich ans Fenster und verschränkte die Arme, was seine Schultern noch weiter nach vorn zog. An seiner Hüfte trug er eine Pistole.

Michaela und ich schlugen gleichzeitig die Beine übereinander, was mir etwas peinlich war.

Ohne sich zu rühren, wies er uns schließlich an, wieder nach unten zu gehen und die notwendigen Formulare auszufüllen, nickte zum Abschied in Richtung Tür und starrte dann weiter aus dem Fenster.

Der blonde Polizist grinste immer noch. Auf seinem Tisch lagen die beiden Formulare für die» Anmeldung einer Veranstaltung im Freien«. Michaela runzelte die Stirn.»Es gibt nichts anderes«, sagte der Schwarze, der glänzende Lippen hatte und mit seinen geschwungenen Augenbrauen mädchenhaft wirkte.

Als Teilnehmerzahl trugen wir zehntausend ein, gaben als Zeitraum 13 bis 15 Uhr an und schrieben in die Rubrik Musik — ungewiß. Unter dem Rubrum» Ort der Veranstaltung «war zuwenig Platz vorgesehen. Bei der Festlegung der Demonstrations-strecke hielten wir uns an die Route, die sich letzten Donnerstag ergeben hatte, nur daß wir die Demonstration am Theater beginnen lassen wollten. Wir unterschrieben beide. Auf die Frage nach dem weiteren Procedere bestellte uns der Blonde für nächsten Dienstag und sah fragend zu seinem dunklen Kollegen hinüber. Der zuckte mit den Schultern und wiederholte» Nächsten Dienstag«. Michaela reichte ihnen nacheinander die Hand, sie schnellten von ihren Stühlen hoch. Auch ich schüttelte ihnen die Hände. Der Pförtner grüßte uns aufgeregt wie alte Bekannte und ließ die Außentür summen.»Wir hätten sie nur noch um ihre Colts bitten müssen«, sagte Michaela draußen.

Am Mittwoch wartete ich am Auto auf Michaela, es war später als sonst geworden. Ich hörte, wie jemand leise meinen Namen rief. Die Sekretärin des Intendanten hatte ihr Fenster nur einen Spalt weit geöffnet und winkte mir zu, als schlüge sie einen Staublappen aus.

«Na! Hörst du schon das Kettenrasseln?«rief mir Jonas entgegen, als ich das Sekretariat betrat.»Hörst du die Panzer noch nicht? Laßt eure Demo sein. Krenz ist neuer Generalsekretär!«

Ich weiß bis heute nicht, was Jonas’ Ausbruch provoziert hat. Er hatte wohl mein Lächeln als Spott mißdeutet. Jonas lief rot an und brüllte:»Krenz war in China!«Und als ich weiterschwieg:»Vor drei Wochen war er dort, vor drei Wochen! Ihr begreift nichts, nichts!«Und knallte die Tür hinter sich zu.

Dabei gab ich ihm ja recht. Auch ich hielt die» chinesische Lösung «für möglich, ja in gewisser Weise für folgerichtig.

Michaela und ich trafen an der Pforte zusammen. Sie empörte sich über Amanda, die Requisite, weil die vor der Probe alle umarmt und sich verabschiedet hatte — in den Westen.»Die hat die ganze Zeit einen Ausreiseantrag laufen, hält den Mund und ist nun fein raus!«In der Kantine hatten sie gestritten. Angeblich war aus der Intendanz der Vorschlag gekommen, die» Krähwinkel«-Premiere abzublasen.»Wegen Krenz«, hieß es.

Michaela saß neben mir im Auto und spielte mit dem Henkel ihrer Handtasche. Sie war nicht davon abzubringen, zu einem Treffen des Neuen Forums zu gehen. Dort sei sie vielleicht sicherer als zu Hause, sagte sie. Danach wollte sie ins Theater, damit nicht ausgerechnet heute das Verlesen der Resolution ausfiele.»Das wäre ein ganz falsches Zeichen«, sagte sie. Ich bot ihr an, sie zu fahren, ihr war es aber lieber, wenn ich bei Robert blieb.

Kurz vor sieben lagen wir uns in den Armen. Michaela streichelte meine Wange, ihre Handflächen waren kühl.»Ich beneide Amanda«, sagte Michaela und wollte mich küssen — da klingelte es. Wir erstarrten. Robert öffnete lautlos die Zimmertür. Wir sahen einander an und warteten. Auch das zweite Klingeln war kurz.

Vor der Tür stand Schmidtbauer, der Gründer des Altenburger Neuen Forums, und plinkerte mit den Augen. Bei ihm waren ein kleiner Bärtiger mit Baskenmütze, der als einziger lächelte, und ein Mann mit langem Bart und einer Brille, die seine Augen um ein Mehrfaches vergrößerte. Ich kam gar nicht dazu, etwas zu fragen oder sie zu bitten, ihre Schuhe anzubehalten, so selbstverständlich marschierten sie in ihren Socken bei uns ein.

Mir war der Anblick der neben dem Abtreter zurückgelassenen Schuhe unangenehm, ja peinlich. Außerdem ärgerte ich mich über die stumme Selbstverständlichkeit ihrer Invasion. Schmidtbauer hatte die» Sitzung «kurzerhand zu uns verlegt. Da wir kein Telephon besaßen, hatten ausgerechnet wir davon nichts erfahren.

Im Vorraum wandte sich Schmidtbauer nach mir um.

Ob wir uns dahin gehend verständigen könnten, daß der Sozialismus reformiert, aber nicht abgeschafft werden sollte.

«Mit mir«, sagte ich,»müssen Sie sich nicht verständigen.«

Am meisten ärgerte mich, daß Michaela sich von den dreien duzen ließ.

Während ich ihnen die Teetassen hinstellte, sagte Schmidtbauer:»Hiermit eröffne ich die Sitzung des Neuen Forums Altenburg, Thüringen.«

«Wieso Thüringen?«fragte der mit dem langen Bart und den großen Augen.

«Da habe ich eine ganz einfache Antwort«, sagte Schmidtbauer.»Weil Altenburg in Thüringen liegt. Und mit Thüringen fühlen sich die Leute verbunden, da könnt ihr fragen, wen ihr wollt. «Dabei spielte er mit dem Druckknopf seines Kulis.

Nur der mit dem langen Bart widersprach Schmidtbauer, als dieser beantragte, die verschiedenen Arbeitsgruppen des Neuen Forums am morgigen Abend, dem Kirchenabend, noch nicht bekanntzugeben und abzuwarten, was Krenz unternehmen würde.

«Was hat Krenz damit zu tun?«rief der lange Bart.»Kann mir bitte mal jemand erklären, was das mit Krenz zu tun hat?«Er sah der Reihe nach einen jeden mit seinen riesigen Augen an, zuletzt sogar mich.

«Das kann ich dir erklären«, sagte Schmidtbauer.»Wir alle, so wie wir hier sitzen, du«— sein Kugelschreiber deutete zuerst auf Michaela —,»du, du und ich, können im nächsten Moment verhaftet werden. Wenn Krenz — laß mich ausreden —, wenn Krenz den Befehl gibt, dann Gnade uns Gott!«

Der lange Bart meldete sich wie ein Schüler und sah Schmidtbauer unverwandt an.»Na, was denn«, murrte Schmidtbauer und richtete endlich seinen Kuli auf ihn.

«Ich muß dich jetzt mal was fragen, Jürgen. Darf ich das?«

Schmidtbauer nickte.

«Bist du denn nicht stolz, im Neuen Forum zu sein?«

«Was?«Schmidtbauer sah von einem zum anderen, als sollte jeder sehen, wie schwer es ihm fiel, nicht laut loszulachen.

«Ich kann dir nur sagen, daß ich stolz darauf bin«, sagte der lange Bart.»Und das kann jeder wissen. «Er setzte sich aufrecht hin.»Wißt ihr, was ich gestern gemacht habe?«Dann erzählte er, daß die Baufirma, bei der er arbeitet, ihn für eine Reparatur in die Villa der Staatssicherheit geschickt habe. Mittags habe er in deren Kantine gegessen und ein paar Bekannte getroffen. Denen habe er erklärt:»Ich bin im Neuen Forum. Guckt euch mal unser Programm an, da werdet ihr nichts Schlechtes finden! Und dann hab ich gesagt, ich bin stolz drauf, im Neuen Forum zu sein. Das kann jeder hören. Und wenn ich die Wirtschaftsgruppe leiten darf, kann das auch jeder wissen. So, Jürgen, und jetzt kannst du weitermachen.«

Nachdem ich ihnen die Teekanne gebracht hatte, schloß ich Wohnzimmer- und Küchentür. Ich räumte auf und begann vor lauter Ratlosigkeit, den Fußboden zu wischen, bis Michaela mich rief. Sie saßen bereits vor der Glotze.

Als ich Krenz sah, wußte ich, daß nichts passieren würde. Sein Gerede von der nicht real genug eingeschätzten Entwicklung, von Aderlaß und seine neue Empfindsamkeit für die Tränen der Mütter und Väter beruhigten selbst Schmidtbauer. Vielleicht war ich nur deshalb von Krenz, von seiner Gesichtslosigkeit, so überrascht, weil ich nie richtig hingesehen hatte. Diese bedauernswerte Kreatur sprach, als ekelte ihn jedes Wort, als wäre diese Rede ein Fraß, den er vor aller Welt herunterzuwürgen habe. Zudem kannte ich ihn nur im Schillerkragen, wie meine Mutter es nannte, wenn die Funktionäre den Kragen des Blauhemds319 über den ihres grauen Anzuges schlugen. Mit weißem Hemd und Krawatte sah er aus wie ein Zirkusbär.

Als die drei gegangen waren, öffnete ich das Fenster, und Michaela sagte, daß sie nun nicht mehr ins Theater fahren müsse. Zusammen mit Jörg, dem kleinen Bärtigen mit der Baskenmütze, werde sie die Medien- und Kulturgruppe des Neuen Forums leiten. Ich fragte, ob Leute wie Schmidtbauer es wert seien, sich ihretwegen zu gefährden. Michaela sagte, Schmidtbauers Frau habe ihn mit zwei kleinen Kindern sitzengelassen. Wie würde ich denn reagieren, wenn an unserem Auto morgens plötzlich alle Radmuttern locker wären?

Wieso bemerkte Michaela Schmidtbauers Kleinkariertheit nicht, seine Geltungssucht und Empfindungslosigkeit? Doch je mehr ich mich über ihn aufregte, desto lächerlicher schien ich in ihren Augen zu werden.

Am nächsten Morgen ging es genauso weiter. Da Michaela abends Probe hatte, sollte ich sie vertreten und in der Kirche über das Berliner Treffen und die angemeldete Demonstration sprechen. Ich weigerte mich.»Und warum?«fragte Michaela. Sie klang so hart, so kalt, als hätte ich sie betrogen.»Darf ich das wissen?«

«Weil ich mit diesen Leuten nichts mehr zu tun haben will«, sagte ich und äffte das wichtigtuerische Kopfnicken des Bassisten nach.

In der Art, wie Michaela die Luft durch die Nase blies, lag so viel Verachtung, daß ich ahnte, was uns bevorstand. Fünf Minuten später sagte sie:»Ich verstehe dich nicht, Enrico. Ich kann dich einfach nicht mehr verstehen. «Ich schwieg und ging abends in die Kirche.

Eigentlich war alles so, wie ich mir früher den zukünftigen Ruhm ausgemalt hatte. Ich lief durch ein regelrechtes Spalier nach vorn, die Leute erkannten mich wieder, und manche riefen mir sogar etwas zu. Jemand forderte, ich solle die Sache hier in die Hand nehmen. In der ersten Reihe rechts war für mich der Platz am Mittelgang reserviert. Es war mir unangenehm, Michaelas Namen und unsere Adresse auf einem gut sichtbar aufgehängten A1-Blatt zu lesen, das zur Mitarbeit in der Medienund Kulturgruppe einlud.

Sie begannen mit einiger Verspätung. Reden, Musik, Reden. Nach einer Dreiviertelstunde war ich endlich dran. Es war so still, als hielten die Leute tatsächlich den Atem an. Ich berichtete von dem Treffen in Berlin. Dafür brauchte ich eine Minute. So beiläufig wie möglich fügte ich hinzu, daß wir für den 4. November eine Demonstration angemeldet hätten. Wieder gab es Jubel, wieder zogen die Leute auf die Straße, wieder kam Pfarrer Bodin nicht mehr zu Wort. Und als ich aus der Kirche kam, standen auch wieder die beiden Polizisten da. Der Blonde lächelte. Der Schwarze drehte sich vor Aufregung um die eigene Achse. Wir gaben uns die Hand. Dieselbe Strecke wie letztes Mal, sagte ich. Daraufhin stiegen sie in ihren Lada. Ich redete mich auf Robert heraus und fuhr gleich nach Hause.

Von da an fällt es mir schwer, die Tage zu unterscheiden. Ich beteiligte mich an nichts mehr, und Michaela war zu stolz, mich um etwas zu bitten.

Wenn ich allein war, lag ich in meinem Zimmer, einen Unterarm über den Augen, und versuchte, meine Gedanken möglichst weit weg von mir und der Gegenwart zu halten. Meistens dachte ich an Fußball.

Vielleicht haben Sie von dem legendären Viertelfinalspiel im Europapokal der Pokalsieger gehört, zwischen Dynamo Dresden (der Mannschaft meines Herzens) und Bayer 05 Uerdingen, am 9. März 86, einen Tag nach dem Internationalen Frauentag. Ich weiß bis heute nicht, wo Uerdingen liegt. Dresden hatte zu Hause mit 2: 0 gewonnen und spielte in Uerdingen groß auf, der» Dresdner Kreisel «lief. Ich erinnere mich noch an Klaus Sammer, unseren Trainer, wie es ihn von seiner Bank hochriß, als das 3: 1, ein Eigentor der Uerdinger, fiel und er über eine Werbebande sprang und abwinkte.»Das war’s «sollte diese Geste wohl heißen. Vor dem Fernseher wunderte ich mich, daß die Zuschauer weiter im Stadion ausharrten.

Dresden hätte sich in den verbleibenden fünfundvierzig Minuten vier Gegentore leisten können und wäre trotzdem im Halbfinale gewesen. In der 58. Minute fiel dann ein Tor für Uerdingen. In der Verfassung, in der ich mich befand, schien mir dieses Tor seine Entsprechung im Verbot des» Sputniks «und der Verleihung des Karl-Marx-Ordens an Ceausçescu zu haben. Das 3: 3 wenig später setzte ich dem Wahlbetrug vom 7. Mai gleich. Das 4:3 für Uerdingen bedeutete soviel wie die ungarische Grenzöffnung, dem 5: 3 entsprachen die Montagsdemonstrationen. Niemand zweifelte zu diesem Zeitpunkt noch am 6: 3, das dann auch fiel und Dresden ausscheiden ließ. Was aber würde das 6: 3 im Herbst 89 sein? Reisefreiheit für alle? Und das 7:3? Das 7:3 — so das Endresultat — interessierte mich schon nicht mehr.

Sechs Gegentore in einer Halbzeit! Das war die unwahrscheinlichste und schlimmste aller möglichen Wendungen. Zugleich waren die Tore mit scheinbar zwingender Notwendigkeit gefallen, als sei es ganz natürlich, wenn alle sieben Minuten der Ball im Netz zappelt.

Ich werde nicht der einzige gewesen sein, der in diesem Spiel ein Menetekel erkannte.

Am Montag, dem 23., kam ein Brief von meiner Mutter. Nachdem Michaela und Robert nach Leipzig gefahren waren — Robert sollte erleben, wie Geschichte gemacht wird —, las ich die engbeschriebenen Seiten. Es ging ausschließlich um die Klinik und die Reaktionen auf ihre Krankschreibung. Man hatte kontrolliert, ob sie auch tatsächlich das Bett hüte, und sie zu Hause nicht angetroffen. Die Krankschreibung war daraufhin nicht anerkannt worden, und ihr sollte die Woche vom Urlaub abgezogen werden. Auch die Äußerungen ihrer Kolleginnen, die sie minutiös wiedergab, waren unangenehm (wenn man seine Nase in alles steckt, muß man sich nicht wundern, wenn man eins draufbekommt). Was mich allerdings mehr beunruhigte, war ihr eigener Tonfall und die Zwanghaftigkeit, mit der sie das alles zitierte. Natürlich war mir klar, daß ihre Verhaftung und die Folter (wie sollte ich es anders nennen?) nicht spurlos an ihr vorübergehen würden. Und natürlich war sie mir bei ihrem Besuch bereits verändert vorgekommen. Aber dieser Brief verhieß nichts Gutes.

Ich schickte Mutters Protokoll, statt es zu beantworten, weiter an Vera. Von Vera erhielt ich bis zum Mauerfall regelmäßig Post, Geronimos tagebuchähnliche Episteln wurden von Woche zu Woche weitschweifiger, als müßte er mir irgendwas beweisen. Offenbar wußte allein ich nicht mehr, was ich schreiben sollte. In Berlin hatte ich nicht einmal gewagt, Vera anzurufen,320 so unsicher war ich bereits geworden.

Ich hätte von Michaela erzählen können, von ihrer schier unendlichen Kraft. In Zeiten, als noch Magie und Beschwörung zum Alltag gehörten, wäre wohl die Vermutung aufgekommen, ich hätte meine Kräfte ganz auf sie übertragen. Nach dem Streit wegen Schmidtbauer waren wir schweigsamer geworden. Ich versuchte, Michaela so oft wie möglich zu fahren, und wartete im Auto auf sie. Wenn nicht gerade jemand vom Theater gegen die Scheibe klopfte, war das Warten ein geradezu behaglicher Zustand.

Einmal zu Hause, rührte ich mich nicht mehr aus unseren vier Wänden heraus. Am liebsten blieb ich allein. Auch Robert war mir zuviel. Ich erschrak regelmäßig, wenn ich ihn kommen hörte.

Es gab Kleinigkeiten, die ich gern tat. So erinnere ich mich, regelrecht stolz auf die Idee gewesen zu sein, unseren Kühlschrank auszuwischen. Allein die Vorstellung, mit dem Ausmisten eine ganze Stunde oder mehr verbringen zu können, erfreute mich. Ich drang bis in die hintersten Ecken vor, spürte halbleere verschimmelte Marmeladengläser auf, entfernte einen eingetrockneten Senfbecher von seinem ewigen Platz und leerte eine Wodkaflasche, die seit Monaten wegen eines winzigen Schlucks aufbewahrt wurde.

Am nächsten Tag nahm ich mir das Gewürzfach vor, dann die Schublade mit dem Besteck. Später ordnete ich auch das Geschirr neu und trennte unsere Teller von denen, die aus den Haushalten unserer Mütter stammten, die, weil sie kleiner als unsere waren, immer oben standen und hochgehoben werden mußten, wenn wir von unseren eigenen Tellern essen wollten.

Zwischen dem Saubermachen, Ausleeren und Wegschmeißen ging ich einkaufen. Eine angebrochene Flasche Bier trank ich nachmittags aus, um sie mit den anderen leeren Flaschen fortzuschaffen, achtete aber darauf, jedesmal mehr Flaschen einzukaufen, als ich weggebracht hatte.

Erst als ich den Toaster mit dem Staubsauger reinigte — eine Methode, die mir nach wie vor einleuchtet —, bemerkte ich an Robert einen gewissen Argwohn.

Da ich mich beobachtet fühlte, verschanzte ich mich in meinem Zimmer. Ich legte Schallplatten auf. Man sollte hören, daß ich hörte. Da aber die Platten, die ich besaß, mich mit Erinnerungen konfrontierten, denen ich mich nicht aussetzen wollte, kaufte ich neue Platten. Beinah wahllos griff ich zu, vor allem beim Jazz, denn Jazz hatte ich nie gehört.

Nach Michaelas Bemerkung, der deutsche Geist halte sich mal wieder an Musik, wurde mir klar, daß es nichts Unverfängliches mehr gab.

Im Theater hielt man mein Schweigen und meine Zurückhaltung für Radikalität. Michaela war bereit, mir eine Art Schonfrist einzuräumen, mir ein paar Wochen zu gewähren, in denen sie einfach durchhielt und weitermachte, ohne zu fragen. Anderen gegenüber sprach sie von Arbeitsteilung.

Abends im Bett war ich froh, wenn sie schnell einschlief. Manchmal drückte sie sich gleich mit dem Rücken an mich, zog meinen Arm über ihre Schulter und sagte:»Wie schön«, als brauchte ich nur Sicherheit und Bestätigung, um wieder zu mir zu kommen. Es gab aber auch andere Nächte.

Die Leute, die im Oktober bei uns klingelten und in der Mediengruppe mitarbeiten wollten, waren fast ausschließlich Männer, die selten ein zweites Mal auftauchten. Michaela und ich bekamen anonyme Briefe. Man drohte, uns die Masken vom Gesicht zu reißen, und beschuldigte uns der Demagogie und Volksverdummung.

Jeden Tag gab es irgend etwas Unerhörtes, und vielleicht sollte ich wenigstens das, woran ich mich erinnere, aufzählen, um Ihnen annähernd zu vermitteln, in welcher Situation wir uns befanden.

Aber ich muß endlich zum Schluß kommen und steuere deshalb schnell auf den 4. November zu.

Unser Antrag für die Demonstration war abgelehnt worden — wir hätten die Frist nicht eingehalten. Bewilligt wurde dafür eine Demonstration am Sonntag, dem 12. November. Der Haken war: Sie forderten von Michaela und mir die Unterzeichnung eines Schreibens, in dem wir versicherten, daß von uns am 4. November keine Demonstration» ausgehen «werde. Michaela reagierte, wie es wohl niemand erwartet hatte: Sie habe keine Probleme, sagte sie, das zu unterschreiben. Nur täten sich die staatlichen Stellen damit keinen Gefallen. Alle im Raum erstarrten und verfolgten dann, wie Michaela an den Schreibtisch herantrat, die Kappe von ihrem Füllfederhalter schraubte, sich über das Blatt beugte, unterschrieb und den Füller an mich weiterreichte, was dem Ganzen den Anschein eines diplomatischen Protokolls gab.

Zwei Tage später, als sie davon in der Kirche berichtete, habe es, erzählte sie triumphierend, Buhs und böse Zwischenrufe gegeben. Dann aber habe sie gesagt:»Entschuldigung, hier haben wohl einige nicht richtig hingehört. Ich habe gesagt: Von mir geht am 4. November um 13 Uhr vor dem Theater keine Demonstration aus. Seid ihr damit nicht einverstanden?«

Am Sonnabend, dem Vierten, fuhren wir gegen halb eins zum Theater.»Mein Gott, was haben wir angerichtet«, rief Michaela angesichts der Menschenmenge. Es war die größte Demonstration, die es je in Altenburg gegeben hat. Wer in Leipzig dabeigewesen ist, hätte von zwanzigtausend Leuten nicht sonderlich beeindruckt sein sollen. Doch Altenburg war das Vertraute, zudem ließ die Kleinstadt den Volkshaufen noch gewaltiger erscheinen. Obwohl Michaela sagte, sie und ich seien die einzigen, die heute nichts tun dürften, bahnte sie uns einen Weg zur Treppe des Theaters. Ganz oben hatten sich Schmidtbauer, der Prophet mit dem langen Bart und den großen Augen und Jörg wie drei Feldherren postiert.

Und einmal mehr spürte ich in all dieser Fröhlichkeit, Aufregung und Erwartung, wie sehr ich zu einem Fremdkörper geworden war.

Die Leute freuten sich an dem schönen Wetter, das ihnen der Herrgott wieder beschieden hatte. Mit dem Ein-Uhr-Schlag der Kirchenglocken wuchs die Unruhe, man sah zu uns herauf, man blickte sich um und wartete auf irgendein Zeichen. Rechts von uns begannen die Sprechchöre, und mit ihnen geriet die Menge in Bewegung. Die ersten zogen unter einem breiten Transparent los, doch nicht die Moskauer Straße hinauf, sondern links die Straße der Arbeitereinheit entlang. Ich wühlte mich — nur fort von Schmidtbauer! — quer durch die Menge zum Polizeiwagen, der die Straße zum Marstall sperrte. Neben Blond und Schwarz stand noch ein Dicker. Von ihrem Standort aus hatten sie gerade erst den Schwenk in die Arbeitereinheit bemerkt.

Ich riet ihnen, zum Großen Teich zu fahren, wo der Demonstrationszug nach rechts in die Teichstraße einbiegen würde. Die Teichstraße kennen Sie ja, eine Ruine neben der anderen, das Sinnbild des Verfalls. Die Teichstraße müsse auch von oben her gesperrt werden, sagte ich.

Die drei stimmten mir zu, und der Blonde fragte, ob ich mitfahren wolle.»Ja, bitte, kommen Sie mit«, rief der Dicke und quetschte sich nach hinten, während ich vorn Platz nehmen durfte. Mit Blaulicht bretterten wir durch die Frauengasse. Um am Brückchen abzubiegen, war es bereits zu spät. Erst zwischen Kleinem Teich und Kunstturm kamen wir wieder auf die Arbeitereinheit und rasten mit Tatütata auf die Kreuzung am Großen Teich. Ich versuchte, die drei zu beruhigen. Selbst wenn die Absperrung der Teichstraße von der anderen Seite her zu spät käme, sagte ich, könne der Wagen der Demonstration voranfahren. In Leipzig, belehrte ich sie, habe es nie Probleme gegeben. Der Blonde, der als Fahrer auch den Sprechfunk betätigte, blieb als einziger im Wagen, die anderen beiden sperrten die Kollwitzund die Zwickauer Straße, was Unsinn war, weil beide Straßen die einzige Umgehung für die lahmgelegte Innenstadt bildeten. Ich sagte es dem Blonden. Er nickte, griff nach seiner Mütze und eilte zu den anderen.

In der mittäglichen Sonnabendruhe lehnte ich am Wagen und hörte auf die Sprechchöre.

Und plötzlich lag sie da — eine Pistole. Genauer: ein weißer Ledergürtel mit Halfter und darin die Pistole, direkt vor der Fahrertür. Und genauso plötzlich wußte ich: Die ist für dich! Ich bückte mich, hob den Gürtel auf, nahm die Pistole heraus, schob sie ohne jede Eile in meinen Hosenbund und zog den Pullover darüber. Das leere Halfter beförderte ich mit einem Tritt unters Auto.

Ich glaube, ich habe gelächelt, als erlaubte ich mir einen Scherz. Der Blonde kam, warf sich auf den Fahrersitz und rief irgendeine Bezeichnung in die Funksprechanlage, sah dann zu mir auf und sagte:»Alles balleddi.«

Liebe Nicoletta, ich müßte längst in der Redaktion sein.321 Fortsetzung folgt. Sehr herzlich, wie immer,

Ihr Enrico T.

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