Monte Carlo, am Sonntag, 14.232 5. 90


Lieber Jo!

Ich sitze auf unserem Balkon im» Hôtel de Paris«, gehüllt in einen weißen Bademantel, mit Blick aufs Casino, links und rechts ein Streifen Meer. Mir ist speiübel. Die Müdigkeit ist wie ein Weinkrampf, doch sobald ich die Augen schließe, wird mir schwindlig. Schreiben ist eine gute Ablenkung. Vera hat trotz Ohrstöpseln kaum geschlafen. Jetzt flaniert sie durchs Hotel und wird wohl, sollte sie nicht zufällig eine Bekanntschaft machen, im Schwimmbad landen. Überhaupt eignet sich Vera für ein Leben wie dieses sehr viel besser. Nach Beirut wird sie so bald nicht zurückkehren. Das jüngste Gemetzel, obwohl es auf der» anderen Seite «geschah, hat ihr den Rest gegeben.233

Ich habe mich die ganze Zeit gefragt, warum Barrista das riskiert, warum er mir fünftausend D-Mark in die Hand drückt, Übernachtung und Flug bezahlt und als Gegenleistung nur verlangt, daß ich den Roulettetisch nicht eher verlasse, als bis mein Einsatz verloren oder verdoppelt ist. Allmählich aber ahne ich, was er im Sinn hatte.

Schon daß ich allein aufbrach, allein ins Flugzeug stieg, war neu für mich. Der Flug, die Alpen, das Mittelmeer, Nizza, Palmen, dann Vera — als wäre ich in einen Belmondo-Film geraten, als gäbe es den Westen noch! Vera sieht aus wie immer! Sie war am Donnerstag von Damaskus über Athen nach Paris geflogen und gerade erst angekommen. All ihre Habseligkeiten passen in zwei Koffer.

Barrista hatte mir empfohlen, den Helikopter zu nehmen. Routiniert wie Geheimagenten bückten wir uns unter dem lärmenden Rotor, die Türen wurden von außen geschlossen, und einen Augenblick später hoben wir ab. Gibt es ein besseres Sinnbild für unser neues Leben, als sich in die Lüfte zu erheben? Wir flogen hinaus aufs Meer, die Segelboote unter uns wie eine Großwildherde. Plötzlich Monaco in der Mittagssonne. Die erhabene Aussicht war allerdings nur mit einem kurzgeschorenen Nüschel234 im Bild zu haben. Nach der Landung verschaffte uns Barristas Zauberwort» Hôtel de Paris «Respekt. Während der Kahlschädel in ein Taxi stieg, öffnete man uns die Türen eines Wagens, von dem Vera behauptet, es sei ein Bentley gewesen.

Palmen, Yachten, blauer Himmel — genau so hatte ich mir das vorgestellt. Über die Grand-Prix-Strecke schwebten wir hinauf zum Hotel. Der Teppich am Eingang machte meinen Gang leicht und federnd. Trotzdem kam ich mir vor wie bei einer Schloßbesichtigung. Vera hingegen verteilte in alle Richtungen Geldscheine, als wäre sie das so gewohnt.

Ich nannte einem älteren Herrn, der sich lächelnd erhoben hatte, meinen Namen und war plötzlich überzeugt, daß sich keine Reservierung für uns finden würde.

Bienvenue, Madame Türmer, bienvenue, Monsieur Türmer, wir sanken wie ein Brautpaar in die Sessel vor ihm. Die alten edel ermatteten Spiegel in der Wandtäfelung zeigten nun unsere Gesichter.

John, ja, er heiße John, empfahl uns für den Abend eine Reservierung im» Grill«. Wir stimmten zu, ohne zu wissen, worauf wir uns einließen. Ich grüßte ihn von Barrista (»Egal wen Sie dort treffen, mich kennen alle!), worauf John die Arme ausbreitete und sich verbeugte, als hätte er uns erst jetzt erkannt. Sein Habitus und sein Tonfall rechtfertigen die Krone auf diesem Briefpapier. John begleitete uns in das» belle chambre «und erklärte sowohl Telephon und Fernbedienung als auch Lichtschalter und Kühlschrank. Ein voller Aschenbecher auf dem Balkon entsetzte ihn.

Ich brachte es nicht übers Herz, einen Gentleman wie John mit Trinkgeld abzuspeisen, was, wie Vera mir versicherte, ein Fehler gewesen sei. Sie selbst hatte nicht nur sämtliche Franc ausgegeben, sie besaß überhaupt kein Geld mehr.

Nachdem die Koffer gekommen waren, ich hatte sie in Nizza das letzte Mal berührt, gingen wir gegenüber ins» Café de Paris «zum Lunch, wie Barrista sagen würde. Allein jene anderthalb Stunden auf der Terrasse des Cafés wären die Reise wert gewesen. Aber ich habe Dir Wichtigeres zu schreiben.

Bevor wir zur Siesta auf unser Königsbett fielen, kauften wir für mich eine Fliege und eine Sonnenbrille.

Als ich erwachte, war es zwanzig vor acht. Von einem Moment auf den anderen geriet ich in Panik. Der Gedanke, all das Westgeld jetzt aufs Spiel zu setzen, erschien mir aberwitzig. Erst unter der Dusche beruhigte ich mich wieder. In die frischen Sachen fuhr ich, als legte ich eine Rüstung an. Dies waren die Socken, die ich tragen würde, und das die Unterhose. Jeder Knopf, den ich schloß, bedeutete ein Stück Sicherheit. Nur der oberste ging nicht zu.

Diese Blöße stellte alles in Frage. Wahrscheinlich besitze ich gar kein Hemd, bei dem sich der obere Knopf schließen läßt.

Während Vera sich im Badezimmer herrichtete, band ich mir die Fliege um — und das Wunder geschah: Le nœud papillon verdeckte den Makel und versiegelte mich gleichsam.

Eine Stunde später war ich überzeugt, herausgefunden zu haben, warum ich hier war. Es ging nicht um das Casino, sondern um ein ganz anderes Spiel. Hier, im» Grill«, in der achten Etage, vis-à-vis der Burg der Grimaldis, hier galt es zu bestehen, hier mußten wir mithalten.

Braucht es nicht Courage, eine Front von zehn Kellnern abzuschreiten, von denen jeder mit dem liebenswürdigsten Lächeln» Bonsoir, Madame! Bonsoir, Monsieur!«sagt? Ist es nicht Mut, wenn man sich blind und ohne nach dem Stuhl zu tasten, nach hinten fallen läßt, ganz der Geschicklichkeit des Kellners vertrauend? Und was ist Tapferkeit, wenn nicht das gleichmütige Lächeln angesichts einer solchen Speisekarte? Wobei ich einräume, Vera, in deren Karte die Preise fehlten, vor dem iranischen Kaviar gewarnt zu haben. Für eine Vorspeise mehr als tausend Franc zu zahlen, hätte ich zu diesem Zeitpunkt nicht übers Herz gebracht. Dagegen verleugnete ich heroisch meinen Bierdurst und verlangte die Weinkarte. Während ich nach einem Rotwein unter 400 Franc suchte, entdeckte Vera in dem Hocker, der zwischen uns an die Tischecke gestellt worden war, die ideale Ablage für ihre Handtasche.

Unsere Neugier irritierte die hochempfindlichen Wahrnehmungssysteme der Kellner. Schon ein flüchtiger Blick oder eine unbedachte Geste reichten, sie herbeispringen zu lassen, natürlich völlig umsonst, denn die Gläser waren gut gefüllt, der Aschenbecher leer, Rosinen- und Olivenbrot ausreichend vorhanden, und die Krümel hatten sie gerade erst vom Tischtuch gebürstet.

Gibt es nicht eine Meditationsart, bei der die Abfolge erlesenster Speisen die Seele reinigt? Reiche Leute leben gesund, sagte Vera.

Zu diesem Zeitpunkt glaubte ich, dem Baron ein Schnippchen schlagen und ihn betrügen zu können. Denn jene tausendachthundert Franc, die ich bereitwillig aufs Silbertablett legte, waren uns nicht mehr zu nehmen, weder von ihm noch vom Casino.

Wie naiv von mir! Als gäbe es irgendeine Regung, irgendeinen Gedanken, die nicht zum Kalkül des Barons gehörten. Je zahlreicher und widersprüchlicher meine Reaktionen ausfielen, desto größer der Erfolg seiner Lehrstunden. Wahrscheinlich würde mich Barrista, hielte er diesen Brief in Händen, zuerst kritisch darauf hinweisen, daß ich bereits dreimal Preise erwähnt habe.

Leider patzten Vera und ich zum Schluß: Hatte schon meine Barzahlung befremdet, gestaltete sich unser Aufbruch derart abrupt, daß die Leibkellner, die uns die Stühle hatten zurückschieben wollen, enttäuscht und vorwurfsvoll die Hände hoben.

Im Casino standen wir schnell vor dem ersten Roulettetisch. Am liebsten hätte ich mich gleich an die Arbeit gemacht, besaß aber noch keine Jetons. Ich fragte Vera, welche Zahl sie als nächste erwarte, und tippte selbst auf» achtzehn«. Es gab keinen Grund, die Achtzehn zu nennen. Meine Favoriten sind andere Zahlen.»Achtzehn«, wiederholte ich — und verstand nicht, was der Croupier auf französisch verkündete. Vera sah mich erschrocken an. Achtzehn!

Wie aber sollte ich dieses Orakel deuten:»Das ist dein Tag!«oder» Das war deine Chance!«?

An der Kasse wechselte ich statt der für heute geplanten sechstausend Franc nur fünftausendfünfhundert — und lächelte über meinen Kleinmut.

Ein Aufseher am Eingang zu den hinteren Sälen ließ uns zögern. Wir zeigten unsere goldenen Hotelkärtchen, warteten seine Verbeugung ab und überschritten die unsichtbare Grenze zum» Salon privé«.

Am Tisch 7 waren zwei Stühle frei. Die Anzeigetafel verhieß eine überdurchschnittliche Mischung. Man mußte nur ein bißchen Konsequenz aufbringen, um zu gewinnen. Direkt vor uns das rote Feld.

Ich ließ die ersten Runden aus, um ein Gefühl fürs Spiel zu bekommen. Dann setzte ich hundert auf das untere Drittel235 — es war viermal nicht erschienen. Ich verlor und verdoppelte den Einsatz. Vielleicht sind die perlmuttgrünen Hunderter die schönsten Jetons. Ich verlor und verdoppelte auf vierhundert. Die anderen am Tisch, alles ältere Herren, setzten auf Zahlen. Ich gewann. Ein rosafarbener Fünfhunderter, eine Zweihunderter-Orange und ein grüner Hunderter kamen zu meinem Einsatz hinzu; ein Gewinn von fünfhundert Franc nach drei Spielen.»Es funktioniert«, flüsterte ich.

Vera setzte auf Drittel, auf Reihe, auf Rot, auf Ungerade. Nicht immer behielt sie den Überblick, die Fünfzehn und die Sieben kamen zweimal. Die Drittel wechselten einander beinah regelmäßig ab.

Plötzlich wollte Vera gehen, zwanzig Prozent Gewinn seien mehr als genug. Ich sagte, daß ich überhaupt keine Linie, kein System entwickeln könne, wenn sie so viel und planlos setze. Vielleicht, mutmaßte sie, bestehe ja meine eigentliche Aufgabe darin, eigene Regeln zu finden. Ich habe es versprochen, sagte ich gereizt. Danach verlor ich viermal in Folge.

Beim Anblick unserer Barschaft versagte mir die Courage. Statt auf tausendsechshundert zu verdoppeln, wagte ich nur tausend — und verlor. Ich setzte tausendfünfhundert. Das war bereits meine letzte Chance. So schnell ging das also.

Vera stand auf. Wir verabschiedeten uns, während die Kugel im Kessel kreiste. Ich sah Vera nach, sie drehte sich um, ich winkte, hörte die Kugel springen, schließlich das letzte» Klack«— die Ansage war mehrsilbig. Ich erinnere mich nur, daß es das richtige Drittel war — Sieg! Sieg! Ich war wieder im Rennen.

Von da an spielte ich selbstvergessen wie ein Kind mit meinen Hunderter-Äpfeln, froh, endlich tun und lassen zu können, was ich wollte. Der Erfolg gab mir recht. Mein Gewinn wuchs beständig und immer auf dieselbe Art: Sobald ein Drittel viermal nicht erschienen war, stieg ich ein: hundert, zweihundert, vierhundert — spätestens bei achthundert gewann ich.

Mir war es egal, wenn andere auf dasselbe Drittel wie ich spekulierten. Nur wenn ihr Betrag über meinem lag, fürchtete ich, ihr fremdes Gravitationsfeld könnte mein Glück stören.

Fortwährend wurden Geldscheine in Jetons getauscht. Wer den Tisch verließ, verließ ihn mit nichts. Ich hingegen hatte das Gefühl, gut zu arbeiten.

Der einzige Mitspieler, den ich bewunderte, trug weder Krawatte noch Fliege, dafür kaute er an einem Zigarillostummel. Ich weiß nicht, wie hoch sein Einsatz gewesen war. Nach einer halben Stunde jedoch lagen zwei große weiße Zehntausender vor ihm, die Lipizzaner unter den Jetons. Wie gern hätte ich ihm anerkennend zugenickt, sein Blick aber haftete unausgesetzt auf dem grünen Filz.

Sein Gegenbild war ein sommersprossiger unrasierter Herr, der an der Ecke saß und jede Zahl in ein kariertes Heft schrieb, wobei er den Kopf schief hielt wie ein Grundschüler. Er rechnete und rechnete und sah nur auf, wenn er einen seiner minimalen Einsätze wagte, die prompt verlorengingen.

Eifriger als ich arbeitete nur ein zierlicher Franzose, der gleichzeitig an zwei Tischen spielte und offensichtlich meinen Dritteln vertraute. Unser Schicksal hing am selben Faden — für ihn jedoch kein Grund, mein Lächeln zu erwidern. Ich begriff sehr schnell, wie allein man selbst im Erfolg bleibt.

Zweimal wurde ich übermütig und verlor auf Rot vier Fünfziger-Zitronen, dasselbe mit einer Zweihunderter-Orange auf Passe. Schrieb ich schon, daß ich mich in jeder Runde mit einem perlmuttroten Zwanziger gegen die Null versicherte? Die Null allerdings kam den ganzen Abend nicht. (Das Zimmermädchen weiß nicht, ob es mich vom Balkon jagen soll oder nicht. Es hat die Tür geöffnet, damit ich den Staubsauger höre.)

Dem Vorbild des Zigarillo-Mannes folgend, verteilte ich mal Zitronen, mal Äpfel an die Croupiers. Kurz vor eins machte ich Kassensturz: Ich hatte zehntausend Franc in der Tasche, also einen Gewinn von viertausendfünfhundert, dazu einen bunt zusammengewürfelten Rest von tausendzweihundert, der mir plötzlich nichts mehr bedeutete. Ich setzte auf Rot — und gewann. Die Äpfel und Zitronen ließ ich liegen, steckte den Perlmutt-Bleu-Tausender ein und sämtliche Orangen.

Ich hatte bereits mein Bon soir geflüstert und mich auf den Weg zur Kasse gemacht, als ich am Nebentisch die Dekolletés zweier Frauen bemerkte und meinen Kurs änderte.

Ich beugte mich über die beiden Damen — und setzte sämtliche Orangen auf Rot. Augenblicke später sah ich zum zweiten Mal auf die Damen herab und raffte den Gewinn zusammen.

Der Mann an der Kasse schielte, aber das war die einzige Unregelmäßigkeit. Ich schritt hinaus, sprang die Stufen des Casinos hinab und die des» Hôtel de Paris «hinauf, rief» Ja! Gewonnen!«und überließ es Vera, die Scheine auf der Bettdecke zu sortieren. Alles in allem ein Gewinn von fast siebentausend Franc.

Die Angst kam mit dem Erwachen. Ich weiß, wie lächerlich es ist, von Angst zu reden. Die Tatsache, daß ich, selbst wenn ich alles verlöre, nichts verlöre, half mir nicht. Ich litt unter meiner eigenen Großmäuligkeit. Ohne zu überlegen, hatte ich das Angebot des Barons akzeptiert. Jetzt verstand ich schon nicht mehr, woher ich den Mut genommen hatte, tausendfünfhundert Franc zu setzen. Es schien mir absurd, so etwas je wieder zu riskieren!

Vera hatte keine Freude an mir. Wir trotteten in der Frühlingssonne hinunter in die Bucht und hinauf zur Burg der Grimaldis, verpaßten die Wachablösung, drehten eine Runde durch die Kathedrale und landeten schließlich beim ozeanographischen Museum. Von der Dachterrasse aus beobachteten wir die Segler. Aber Ablenkung verschaffte mir all das nicht. Ich versuchte an Fußball zu denken.

Bis sieben döste ich auf dem Bett, ohne eine Idee für das Spiel zu finden. Ich war davon überzeugt, nicht auf dieselbe Art und Weise wieder zum Erfolg zu kommen. Trotzdem zog ich mir nach dem Duschen die Sachen des gestrigen Abends an, sogar dieselben Socken. Vera hingegen sah eleganter denn je aus, auch ihre Frisur war neu. Doch weder sie noch ich hatte an eine Reservierung gedacht.

Nachdem wir im» Louis XV «abgewiesen worden waren, schlug ich vor, im Casino zu essen. Angeekelt schüttelte Vera den Kopf. An der Rezeption machten sie uns Hoffnung auf den Churchill-Room des» Grill«.

Bonsoir, bonsoir, bonsoir, bonsoir. Wieder schritten wir die Kellnerfront ab, durchquerten den großen Speisesaal und durften uns schließlich im leeren Churchill-Room den Tisch aussuchen. Ich begriff nicht, warum die Kellner bedauerten, uns hier plazieren zu müssen. Mir kam es eher wie eine Auszeichnung vor. Erst als wir saßen, bemerkte ich das große Photo von Churchill. Sein Blick richtete sich auf mich.

Die Hälfte der Kellner war uns vertraut, der Hocker für die Handtasche wurde gebracht, meine Speisekarte war auf englisch.

(Schweren Herzens mußte ich eben Terrasse und Zimmer räumen. Nun sitze ich bei Tee und Zwieback und unerträglichem Pianogeklimper im Café des Hotels. Wenigstens wird man hier nicht ständig photographiert.)

Wir zeigten Routine, wählten sofort die Brotsorte (Olive), wußten, welche Butter gesalzen war, den Rotwein bestimmte ich schnell, dreihundert Franc galten mir längst als preiswert. Der Bestellkellner überwachte persönlich das Servieren des ersten Ganges. Nicht nur das. Als wäre die Sahne in der Mitte des leeren Tellers meine ganze Vorspeise, wünschte er uns» Bon appétit!«, zögerte spitzbübisch, um dann mit Eleganz die Pilzsuppe um die Sahne zu gießen.

Ich kostete von Veras Risotto und dachte für ein paar Minuten nicht ans Casino. Der nachfolgende Zwischengang ging auf Rechnung des Hauses. Dann war ich satt.

Woher kam der Klumpen in meinem Magen? Beim Hauptgang konzentrierte ich mich auf den Fisch, kostete aber nur davon und ließ alles andere unberührt. Der Käsewagen durfte sich mir erst gar nicht nähern. Wiederum auf Rechnung des Hauses und mit bester Empfehlung des Kochs folgten gefüllte Crêpes.

Mir war schlecht. Vom Flaschenwagen wählte ich einen Calvados. Mild rann er hinab, begann allmählich zu brennen — dann explodierte die Übelkeit. Unser Hauptkellner geleitete mich schnellen Schritts durch das Restaurant — nicht auf die Tische sehen! — und zur Toilette. Vor der Kloschüssel ging ich auf die Knie und ächzte mehrmals. In der Ecke lagen Verpackungsreste, vielleicht von einem Hemd. Ich überwand mich und steckte den Finger in den Mund. Ein harmloser Rülpser war alles, was mir gelang.

Meine Crêpes waren zum Aufwärmen in die Küche geschickt worden. Mit ihnen kehrte der Brechreiz zurück. Erst kurz vor dem Fahrstuhl holten uns die Kellner ein, auf dem Silbertablett das Wechselgeld.

Im Zimmer stellte ich den Fernseher an, schloß sämtliche Türen und hockte mich aufs Klo, den Kopf überm Bidet. Nach zwanzig Minuten kroch ich unverrichteterdinge ins Bett.

Kurz vor eins mußte Vera zusehen, wie ich mich wieder anzog. Als ich in die Schuhe fuhr, brach mir der Schweiß aus. Vera band mir beide Schleifen neu, spuckte mir dreimal über die linke Schulter und ließ mich ziehen.

Ich tauschte sechstausend Franc, wies mein goldenes Kärtchen vor und gelangte zu Tisch 7, wo wieder der sommersprossige, immer noch unrasierte Herr an der Ecke saß, in sein Heft starrte und mit schiefgelegtem Kopf rechnete.

Die anderen Spieler standen. Ich jedoch brauchte einen Stuhl.

Die Ellbogen auf die Bande gestützt, war ich im Begriff, meine Jetons vor mir aufzubauen, als mein Blick über den Tisch ging — für einen Moment mußte ich die Augen schließen. Das Schild über dem Obercroupier wies noch immer einen Mindesteinsatz von fünfzig Franc aus. Was aber da gerade vom Tisch geklaubt wurde, waren zwei grünweiße Schokoladentafeln zu jeweils hunderttausend, zwei violette zu fünfzigtausend und unzählige Lipizzaner. Allein meine Übelkeit hinderte mich daran, laut zu lachen. Mit was für Ängsten hatte ich mich den ganzen Tag gequält?!

Nun begann ich, vollkommen befreit zu spielen, bediente außer meinem Drittel auch Rot und Ungerade, rauchte, spürte meinen trockenen Mund und wußte, daß mein Magen mir nicht endlos Zeit lassen würde. Die Orangen setzte ich ausschließlich als Türmchen, und auch mit meinen Tausenderbleus war ich nicht zimperlich. Gewann ich, waren die Jetons zu groß, um sie als Trinkgeld zu verschenken. Die Null mißachtete ich völlig.

Die Mischung aus Konzentration und Übelkeit schien mich für die Exegese der Anzeigetafel zu prädestinieren. Schnell erfaßte ich den Rhythmus, hinter dem sich das Gleichgewicht der Welt verbarg. Einen rosa Fünfhunderter aufs untere Drittel — ich gewann. Dieses Drittel war so lange vernachlässigt worden, daß die Kugel nicht sofort wieder wechseln würde. Ich blieb dabei — und gewann. Nun war genug Kraft versammelt, um das mittlere Drittel zu überspringen, also ganz nach oben — ich gewann. Ich lächelte, weil das, was folgen mußte, jedes Kind wußte. Einmal Rosa aufs mittlere Drittel — und natürlich gewann ich.

Daß ich im Nebengeschäft auf Rot, Ungerade und Passe meistens verloren hatte, verminderte meinen Gewinn, aber nicht mein Zutrauen. Einmal Rosa aufs obere Drittel, und schon besaß ich wieder einen Bleu mehr. Nach der nächsten Runde hatte ich meine sechstausend Franc verdoppelt — was mich nicht sonderlich bewegte. Jetzt wollte ich zwölftausend!

Glaub mir, mein Lieber, im selben Augenblick, da ich es dachte, erkannte ich meinen Fehler. Ich wußte, daß dieser Wunsch mein Ruin sein würde. Aber ich spielte weiter.

Im mittleren Drittel verlor ich zweimal hintereinander mein Rosa. Zur Übelkeit gesellte sich eine Trauer, die ich bisher nicht gekannt hatte, die Trauer über den nächsten Sieg. Gewann ich, besäße ich bloß wieder so viel, wie ich schon drei Spiele zuvor besessen hatte.

Trotzdem ließ ich nur das einfache Rosa liegen — mir fiel nichts Gescheiteres ein. Plötzlich die Erleuchtung: Bleu auf Rot — wider besseres Wissen zuckte ich zurück. Es kam Schwarz und erstes Drittel.

Keine Traurigkeit mehr. Immerhin lag ich noch mit über viertausend im Plus. Nicht Trübsal blasen! Ich blieb mit Rosa dem mittleren Drittel treu. Oder sollte ich Bleu wagen? Wieder zog ich in letzter Sekunde zurück — und verlor.

Ich empfand nichts mehr, mir war einfach speiübel. Ich hatte Rosa komplett verloren, griff zu Bleu — und verlor.

Jetzt bäumte sich etwas in mir gegen diese Ungerechtigkeit auf, blinde Wut! Ich wollte mein Bleu zurück! Es gehörte mir! Einfach in die Jetons greifen und verschwinden!

Mir war klar, daß ich jeden Moment unter den Tisch kotzen würde. Doch vorher mußte ich noch etwas tun — ein Akt der Selbstachtung, der Ehrenrettung.

Sechs Bleus in der Brusttasche. Auf der Anzeigetafel stand die Reihung: Rot, Schwarz, Schwarz, Rot, Schwarz, Schwarz, Rot, Schwarz, Schwarz — alles auf Rot? Sechs Bleus zwischen den Fingerspitzen. Ich mußte es tun, ich verlangte es von mir. Eine Krämerseele wollte ich nicht sein!

Die Kugel lief — nein! Nicht auf Rot, nicht Ungerade, nicht Passe — weiter zweites Drittel! Als einziger baute ich dort mein blaues Türmchen.

Beim» Rien ne va plus«, das wie eine Glasglocke über den Tisch sank, blickte ich zum ersten Mal auf zur Decke, sah in der Ecke vor mir das meterhohe Wandbild» Le matin«. Was hieß»Le matin«? Mein Blick irrte über die leeren Restauranttische rechts von mir hinaus in die Nacht. Denk nicht an Sieg, ermahnte ich mich, finde dich ab, du hast richtig gehandelt.

Es klackte mehrmals, die Kugel sprang — ich sah hin, im selben Augenblick kam die Ansage. Ich verstand den Croupier nicht, aber ich sah sie, die Dreizehn, ich sah sie zum zweiten Mal und dann noch einmal, Dreizehn. Zu welchem Drittel gehörte die Dreizehn? Sechsunddreißig durch drei, zwölf, zwölf, zwölf. Ich schrie nicht auf. Im Gegenteil, als hätte ich die ganze Zeit gestanden, hatte ich nun das Gefühl, mich endlich zu setzen.

Der Sommersprossige starrte in sein Heft. Der Tisch wurde abgeharkt, niemand hatte gewonnen — nur ich! Ich allein! Analysiere du nur, während ich spiele, lachte ich still den Sommersprossigen aus. Und wenn ich wieder gewonnen habe, dann kannst du wieder darüber nachdenken und wieder analysieren, wie ich das gemacht habe. Und so immer weiter, bis ans Ende unserer Tage!

Mein blauer Turm zerfiel zwischen den Fingern des Croupiers in sechs Jetons, ich zählte mit — und erhielt außer zwei weiteren Bleus endlich meinen Lipizzaner!

Nie hätte ich gewagt, von diesem weißen Viereck zu träumen! Wenn ich etwas bedaure, dann nur, daß ich meinen Lipizzaner nicht länger als zwei Minuten besaß. So lange brauchte ich, um mein Häuflein zusammenzuraffen und nach einem grußlosen Abschied zum Kassierer zu gehen.

Ich war zu matt, um mir den Schweiß von der Stirn zu wischen. Im Foyer wurde mir etwas zugerufen, eine ganze Gruppe lachte laut. Ich war bleich, mein Gang übertrieben zielgerichtet — man hielt mich für das Sinnbild des Verlierers.

Als ich unser Zimmer betrat, hielt sich Vera gerade die Hand vor die Augen, im Fernsehen Schreie. Ich verschwand ins Bad, ächzte und würgte und rang nach Luft — nichts.

Ich weiß nicht, wie ich den Rückflug überstehen soll. Gerade kommt mein dritter Tee. Immer noch peinigt mich die Vorstellung, ich hätte im entscheidenden Augenblick versagen und nicht den gesamten Gewinn setzen können.236 Wenn ich da gekniffen hätte, ich könnte mir selbst nicht mehr in die Augen schauen. Wie Du siehst, habe ich aufgehört zu fragen und begonnen zu verstehen.

Ich soll Dich grüßen! sagt Vera. Sie drängt zum Aufbruch.

Dein Enrico

PS: Als wir zum Taxi gingen, saß wieder John am Rezeptionstisch. Er verbeugte sich, ich reichte ihm die Hand und steckte ihm zum Abschied einen Hunderter zu. Ich sah sofort, daß ich keinen Fauxpas begangen hatte.

Vera und ich haben uns in Frankfurt am Main getrennt. Sie stieg in den Zug nach Berlin, ich in den nach Leipzig. Sobald Vera die Wohnung in Berlin aufgelöst hat, wird sie für ein paar Wochen nach Altenburg kommen. Ich habe ihr meinen Gewinn geschenkt, und das verschaffte mir zum Schluß doch noch Erleichterung.

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