[Brief vom 28./29. 4. 90]


TITUS HOLM


EINE NOVELLE AUS DRESDEN


1

Titus Holm ging quer über den Schulhof, in der Rechten die Schultasche, links, etwas tiefer, den Sportbeutel, der ihm gegen den Unterschenkel schlug. Es war wieder wärmer geworden, die Blätter flimmerten gelb und orange in der Nachmittagssonne. Er hätte seine Kutte ausgezogen, wäre der Wind nicht gewesen, der ihn mal von vorn, mal von der Seite anfuhr und den Chorgesang, der aus einem offenen Fenster des Probenraums kam, wie eine defekte Schallplatte klingen ließ. Erst als Titus an dem rostigen Fahrradständer vorbei durchs Tor lief, hörte er eine Melodie heraus.

Er wandte sich nach rechts. Am Fuße des schmiedeeisernen Gitters, das die Kreuzschule und das Internat der Kruzianer umschloß und dessen Spitzen sich wie Flammenzungen schlängelten, waren noch die Spuren des Drahtbesens zu erkennen, mit dem er gestern das Laub zusammengerecht hatte. Anfangs war es ihm unangenehm gewesen, gerade hier, wo man ihn vom Internat aus beobachten konnte, seine VMI-Stunden ableisten zu müssen.

«Ruf mich, wenn es vorbei ist«, hatte ihm Joachim nach der letzten Stunde zugeflüstert. Titus blieb vor dem Internat stehen und sah durch den Zaun zu Joachims Fenster hinauf, dessen linker Flügel geöffnet war. Titus wäre jetzt am liebsten weitergegangen. Er hatte es sogar eilig. Was sollte er ihm denn sagen? Daß er eine Stunde im Keller vor Petersen gesessen hatte, oder eine halbe Stunde oder vielleicht auch nur zwanzig Minuten?

Als Mario, der vor ihm zu Petersen in den Keller gemußt hatte, wieder ins Klassenzimmer gekommen war und gerufen hatte:»Der nächste bitte!«— war Titus, der auf seinem Platz inmitten der hochgestellten Stühle gewartet hatte, zu aufgeregt gewesen, um auf die Uhr zu sehen. Er war der letzte der Jungen aus der 9s.

Mario war den Fragen von Titus ausgewichen, bis Mario schließlich fast maulend erklärt hatte, er wolle doch nicht egoistisch entscheiden und sein Leben nicht nur für sich selbst beanspruchen, sondern etwas für die Gemeinschaft leisten.

«Was denn?«hatte Titus gefragt.»Ich denk, du willst Arzt werden?«

«Natürlich will ich Arzt werden, aber dort, wo man mich braucht. «Dabei hatte Mario seine Sportsachen in die Schultasche gestopft, das rechte Hosenbein aufgekrempelt, seine Turnschuhe an den Schnürsenkeln zusammengeknotet und sie sich um den Hals gehängt.»Du kannst doch nicht …«, hatte Titus gesagt, dann aber den weißen Kittel vor der offenen Tür bemerkt. Petersen, der Klassenlehrer, hatte Titus die Hand geschüttelt, als überreichte er ihm eine Auszeichnung. Und Mario hatte er zugerufen:»Denken Sie in dieser Richtung weiter!«und bereits zur Treppe gezeigt:»Bitte, Titus!«

Im Physikkeller hatte sich Petersen an ihm vorbeigezwängt und die Tür zu einer Kammer geöffnet, in der zwischen zwei Tischen mit Oszillographen nur ein schmaler Gang blieb, kaum breiter als der alte Drehstuhl unter dem Kellerfenster, auf den sich Petersen gesetzt hatte. Der Hocker vor der Tür war für Titus bestimmt.»Wir haben Zeit«, hatte Petersen gesagt und seine Armbanduhr sorgfältig abgelegt.

Später, als das Gespräch vorüber gewesen und Titus schon aufgestanden war, hatte Petersen plötzlich dieses Buch in der Hand gehalten. Titus war das wie ein böser Zaubertrick erschienen.

Mit dem Buch in der Hand war Titus Stufe um Stufe nach oben gestiegen, unschlüssig, ob er weitergehen oder auf Petersen warten sollte, weil auch sein zweites» Auf Wiedersehen «nicht erwidert worden war. Vor der Tür des Physikzimmers hatte Titus Schultasche und Turnbeutel zwischen den Füßen abgestellt, als könnte er anders nicht die Klinke drücken. Schlüsselklirrend war Petersen heranmarschiert und dann, nachdem er auch das dritte» Auf Wiedersehen«überhört hatte, im Vorbereitungsraum verschwunden.

Die verbrauchte Luft des Physikzimmers, das stumpfe, vom Bohnern schwarz gewordene Parkett, der Apfelgriebs unter seiner Bank und die immer etwas schief hängende Wandzeitung hatten ihn plötzlich heimatlich vertraut angemutet …

Vor dem Internat rief Titus nach Joachim. Er rief gerade so laut, daß er ihn hören mußte. Statt einer Antwort wurde im Erdgeschoß ein Fenster geöffnet. Titus wiederholte seinen Ruf in kurzen Abständen. So froh er war, dem Freund nun guten Gewissens aus dem Weg gehen zu können, so sehr kränkte es ihn, daß er nicht auf ihn wartete.

Im nächsten Moment erschrak Titus, als er in einem der beiden Jungen, die vom Volkspark her über die Straße kamen, Joachim erkannte. Er lief ihnen entgegen, sie aber blieben stehen. Titus setzte die Schultasche ab, kramte darin herum, als suche er etwas, und hielt plötzlich Petersens gelbes Buch in der Hand. Die Rückseite des Umschlags war gewellt, eine Hügellandschaft, wie sie durch feuchte Fingerkuppen entsteht. Als Titus wieder hinübersah, kam Joachim schon auf ihn zu, der andere lief, ein Buch unter den Arm geklemmt, zum Internat. Titus stopfte Petersens Buch hinter den Atlas, damit es nicht mit den Heftern und Schulbüchern in Berührung kam.

«Da bist du ja schon«, sagte Joachim, fingerte eine Zigarette hervor und neigte sich mit einer abrupten Wendung nach rechts über das Streichholz. Seine enge überlange Strickjacke machte ihn noch magerer. Er blies den Rauch aus einem Mundwinkel.

«Wir haben die erste Novelle gelesen«, sagte Joachim,»gehen wir ein Stück?«Titus nickte.

«Daß die das drucken! Das muß denen durchgerutscht sein!«Joachim zog ein paar zusammengefaltete Zettel unter der Strickjacke hervor, karierte A4-Blätter, beidseitig beschrieben. Titus erkannte die Handschrift, diese eng aufeinanderfolgenden und in den Kästchen hüpfenden Druckbuchstaben, dazu noch Pfeile, Anstriche und dicke Punkte.

«›Warum haben sie die Macht?‹«Joachims Zeigefinger fuhr die Zeile nach.»›Weil ihr sie ihnen gebt. Und nur solange ihr feig seid, haben sie die Macht.‹ Wie findest du das?«

«Wer sagt das?«Titus blickte auf Joachims abgewetzte Schuhspitzen.

«Ferdinand, ein Maler, bekommt einen Brief, braun und amtlich, daß er nach Deutschland zurücksoll, zur Musterung, Erster Weltkrieg. Er will nicht, seine Frau will nicht. Aber er spürt einen Zwang …«

«Einen Zwang?«fragte Titus.

«Sie sind geflüchtet, nicht offiziell. Hör mal«, sagte Joachim:»›Zwei Monate lang ertrug er es noch, in dieser Stickluft der patriotischen Phrase zu leben, aber allmählich ward ihm der Atem zu eng, und wenn die Menschen um ihn die Lippen auftaten zur Rede, meinte er das Gelbe der Lüge auf ihrer Zunge zu sehen. Was sie sprachen, widerte ihn an.‹«Joachim las langsam und deutlich. Dabei drehte er den Oberkörper, um die Zettel vor dem Wind abzuschirmen.»Toll geschrieben, nicht?«Joachim strich sein langes dunkelblondes Haar hinter die Ohren und steckte die Zettel unter der Strickjacke in den Hosenbund.

«Ja«, sagte Titus.»›Das Gelbe der Lüge auf ihrer Zunge‹, wirklich toll.«

So wie jetzt war es immer. Joachim sprach, und Titus hörte zu, weil er das Buch nicht gelesen hatte, weil er den Komponisten nicht kannte oder die Bibelstelle oder weil ihm Namen wie Ghandi, Dubček oder Bahro nichts sagten. Joachim hatte Zeit zum Lesen. Joachim hatte für alles Zeit, was ihn interessierte. Doch selbst wenn Titus die Novelle gelesen hätte, neben Joachims Nacherzählung wäre seine eigene Lektüre verblaßt.

Joachim beschrieb das Gespräch zwischen Ferdinand, dem Maler, und seiner Frau Paula, die ihm ausreden will, nach Deutschland zu fahren, in den Krieg, und wie sie schier an ihrem Mann verzweifelt, obwohl der eigentlich alles durchschaut, aber in seiner Schwäche und — Joachim zögerte — in seiner Lauheit nichts findet, woran er sich klammern kann, und deshalb in einen Strudel gerissen wird. Mit dem ersten Morgenzug fährt er nach Zürich.

«Nach Zürich?«Titus blieb stehen.»Wieso denn nach Zürich?«

«Na, wenn sie doch in der Schweiz sind!«Zigarettenrauch waberte aus Joachims Mund.»In Zürich geht er aufs Konsulat und denkt, daß er die Typen da umstimmen kann, weil er sie kennt — und fällt auf die Nase. Er ist viel zu früh da — vorauseilender Gehorsam.«

Vorauseilender Gehorsam, dachte Titus. Mehr noch hatte ihn» Zürich «getroffen. Wer in Zürich lebte, hatte doch keine Probleme mehr, zumindest keine ernsthaften. In Zürich ließ es sich leicht mutig sein.

«Wir haben die ganze Zeit an dich gedacht«, sagte Joachim. Er schnippte die Kippe weg. Titus errötete. Jetzt war er dran. Jetzt mußte er etwas sagen.

«Nicht nur gedacht«, fügte Joachim hinzu und ließ mit einer kurzen Drehung der Schuhspitze die Kippe im Gully verschwinden.»Nun kennst du den Keller.«

«Über eine Stunde«, sagte Titus.

«Zwischen den Oszillographen?«

«Ja«, sagte Titus. Er wollte genauso überlegt sprechen wie Joachim.

«In seiner Buchte fühlt er sich am wohlsten!«Joachim lachte auf.»Letztlich ist Petersen ein armes Schwein.«

Titus wollte fragen, wieso Petersen ein armes Schwein sei.

«Hast du Geld? Wollen wir ins ›Toscana‹?«fragte Joachim.

«Ja«, sagte Titus, obwohl er verabredet war und sich beeilen mußte.

Titus kannte das Café nur von außen, das letzte Haus links vor der Brücke. Er wußte, daß es Kruzianer gab, die nach Proben während der Unterrichtszeit ins» Toscana «gingen, zum Frühstück, wie sie sagten. Titus konnte sich selbst sehen, wie er neben Joachim auf dem Bordstein stand, gegenüber dem Parkplatz, und sagte:»Ich lad dich ein.«

Sie liefen die Hüblerstraße entlang. Vor der Buchhandlung blieben sie eine Weile stehen. Am Schillerplatz beobachteten sie die Pantomime des Verkehrspolizisten und ließen sich von ihm hinüberwinken. Statt mit den anderen zu warten, bis sie auf der Brückenauffahrt die Seite wechseln konnten, gingen sie auf das» Blaue Wunder «zu.

Der Wind blies ihnen immer stärker entgegen. Seit sich die beiden kannten, versuchte Titus die Welt mit Joachims Augen zu sehen. Bei Joachim war alles einfach und überzeugend, und wenn Joachim über ihn sprach, dann schien sich Titus’ eigenes Leben zu klären, so wie er plötzlich eine Mathematikaufgabe oder eine Grammatikübung verstand, wenn Joachim die Frage formulierte. Zugleich aber schmerzte ihn, daß er selbst Joachim nichts raten, ihm nichts schenken konnte. Joachim brauchte ihn nicht.

Im» Toscana «hängte Titus seine Kutte an die Garderobe. Noch während der runde Fenstertisch nahe der Tür abgeräumt wurde, schob sich Titus auf einen Stuhl. Joachim trat an die Kuchentheke und kehrte mit einem Bon zurück. Titus machte es ihm nach. Er war überrascht, so viele alte Frauen mit Hüten hier zu sehen.

Joachim begrüßte die Kellnerin, deren spitzenbesetztes Dekolleté den Ansatz ihrer Brüste frei ließ. Die Falten am Hals schnitten wie Schnüre in die Haut. Er bestellte zwei Kännchen Kaffee und gab ihr die Kuchenbons.

«In Zürich läßt sich Ferdinand rasieren und die Anziehsachen ausbürsten«, fuhr Joachim einfach fort, als hätte er seine Erzählung nie unterbrochen.»Ferdinand kauft graue Handschuhe und einen Spazierstock, er will beeindrucken. Er ist bis aufs I-Tüpfelchen vorbereitet. Dann aber kommt alles ganz anders.«

Joachim sprach weiter und klopfte dabei mit seiner Zigarette auf die Tischplatte, als folgte er einem geheimen Rhythmus. Titus war gekränkt, weil Joachim ihn nicht weiter nach dem Keller und Petersen fragte. Oder wollte er ihn schonen? Und was war an diesem» Toscana«, dieser Ansammlung vogelgesichtiger Frauen denn Besonderes? Wieso hatte er eingewilligt, hierherzugehen? Besaß er keinen eigenen Willen?

Joachim sprach weiter, zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen, in der Rechten die Zigarette, die Linke auf dem Tisch, als sollte Titus die großen Halbmonde der Fingernägel sehen oder die Adern, die wie auf Männerhänden hervortraten, Regenwürmer auf ihrem Weg zum Handgelenk.

Joachim hatte nur die oberen Knöpfe seiner Strickjacke geöffnet. Er inhalierte den Rauch, sein Brustkorb hob und senkte sich. Titus starrte ihn an und empfand plötzlich einen unerklärlichen Widerwillen gegen dieses Atmen, als sei es etwas Ungehöriges. Noch nie hatte er Joachim nackt gesehen, nicht mal mit freiem Oberkörper. In den Sportstunden behielt er sein Unterhemd unter dem blauen Sportdreß an. Nur an seine mit Leberflecken gesprenkelten Arme konnte er sich erinnern.


[Brief vom 5. 5. 90]

Titus beugte sich vor, aber Joachim sprach deshalb nicht leiser. Oder las er gar nicht mehr vor?»›Wenn man noch Willen hätte‹«, deklamierte Joachim,»›aber man gehorcht. Man ist der Schulknabe: Der Lehrer ruft, man steht auf und zittert.‹«Er hielt das Blatt nicht zwischen den Fingern, sondern in der ganzen Hand, er zerknitterte das Papier am Rand. Am liebsten wäre Titus ihm ins Wort gefallen: Das ist mein Buch! Ich bin in der Pause hinübergerannt und habe es gekauft. Du hast es von mir geborgt! Ich erlaube dir nicht, darüber zu reden! Ich erlaube nicht, daß du daraus abschreibst, und vor allem verbiete ich dir, es jemandem zu geben, mit dem du dich im Park triffst und den ich nicht kenne!

Titus spürte, daß sich zwischen Joachim und ihm etwas zuspitzte. Aber er wußte nicht, wie sich das nannte. Er war machtlos dagegen. Er schluckte, und seine Kehle schmerzte von den haltlosen Anschuldigungen. Zugleich versetzte ihn eine Art Scham in Unruhe, als hätten sie sich tatsächlich gestritten. Titus merkte kaum, wie Kuchen und Kaffee auf den Tisch gestellt wurden.

Er wollte Petersens Buch aus der Tasche ziehen, es Joachim unter die Nase halten, es ihm auf den Teller knallen, von dem der so gierig Käsetorte aß. Diese Vorstellung riß ihn mit sich.

«Das hat er mir aufgebrummt!«hörte er sich ausrufen. Titus blickte herab auf das Buch in seinen Händen,»Aggressor Bundeswehr«, die rotflammende Schrift auf gelbem Grund. Und als Joachim nur die Mundwinkel verzog, warf er ihm das Buch gegen die Brust.»Das hat er mir aufgebrummt«, schrie er.»Ein Kurzvortrag über den Aggressor Bundeswehr, mit Schlußfolgerungen, verstehst du? Mit Schlußfolgerungen!«

Joachim, der gerade schilderte, wie sich Paula ihrem Ferdinand in den Weg stellt, sollte endlich schweigen. Titus sah sich im Café um, hilfesuchend, zornig und erschrocken. Raus! dachte er. Er durfte hier nicht länger seine Zeit vertrödeln. Er war verabredet. Er wollte erwachen, diesen sonderbaren Zustand abschütteln. Er beobachtete eine rothaarige Frau am Nachbartisch, die, wenn sie lachte, sich sogleich mäßigend auf die Unterlippe biß. Ihre Knie schimmerten hell durch die schwarzen Strümpfe. An ihren Schuhen waren die Schnürsenkel zu großen Schleifen gebunden.

Titus sah, wie sie morgens in die Schuhe fuhr und diese großen Schleifen band. Ob auch sie sich manchmal fragte, was bis zum Abend, wenn sie die Schuhe wieder auszog, alles geschehen würde? Jeden Morgen, wenn er sich über der Badewanne Nacken und Achselhöhlen wusch, prüfte sich Titus, ob er an diesem Tag den Mut haben würde, so wie Joachim zu bekennen: Ich gehe nicht zur Armee!

Titus wußte, wie sich Petersens Worte in ihm ausbreiten würden, sobald er allein wäre. So wie eine Verletzung erst in der Nacht richtig zu schmerzen beginnt, so wie das Fieber ein paar Stunden braucht, bis es ausbricht, so würden sich bald die Kapseln der Erinnerung in ihm öffnen und Petersens Worte freigeben, damit sie ihn wie Gift durchströmten und lähmten. Starr und steif vor lauter Erinnerung und Erwartung würde er wieder in seinem Bett liegen.

Die Frau bewegte ihre Füße, als seien sie eingeschlafen. Der Anhänger ihrer Kette, ein silbernes Rechteck, lag in der Mulde unterhalb des Halses. Die Haare bogen sich um die Ohrläppchen herum nach oben, so daß es schien, als hingen die tropfenförmigen Perlmuttstecker von den Haarspitzen herab. Sie war blaß wie eine Kranke.

«›Mächtig sprang die große Wahrheit des Gefühls in ihm auf‹«, rief Joachim,»›und zerbrach die Maschine in seiner Brust, Freiheit stieg hoch, selig und groß, und zerriß den Gehorsam. Niemals! Niemals! schrie es in ihm auf, eine Stimme, urmächtig und unerkannt.‹«

Wie konnte er sagen, daß er richtig fand, was Joachim tat, und selbst das Gegenteil tun? Wie konnte er Joachims Aufrichtigkeit bewundern und sich selbst ducken und lügen? Titus fühlte, daß Joachim etwas von ihm wollte und daß jetzt etwas Bedeutendes beginnen konnte, Wirklichkeit zu werden.

Plötzlich empfand er alles wie ein Schicksal, etwas, dem er sich nur zu überlassen brauchte und das ihn tragen und führen würde. Es lag noch jenseits der Worte, es war eine Melodie inmitten von Geräuschen, einer jener Augenblicke, in dem sich ein Duft für immer mit einem Ort und einer Jahreszeit verbindet.

Joachim schwieg. Titus fiel keine Frage ein. ›Hast du überhaupt einen blassen Schimmer, wovon ich spreche?‹ würde ihn Joachim gleich fragen. Titus sah zum Fenster hinaus.

«Ißt du das nicht?«Joachim hielt ihm den leeren Teller hin, und Titus schob seine Eierschecke darauf.

«Ich muß dann los«, sagte Titus.

Ohne aufzuschauen, machte sich Joachim über den Kuchen her. Titus wollte sich wieder abwenden, aber jetzt, merkte er, konnte er hinsehen, ohne etwas zu empfinden. Er versuchte sogar, die Bissen zu zählen, und war bei fünf, als die Kellnerin herantrat.

«Zusammen«, sagte er. Sie legte ihren schmalen Block auf den Tisch. Titus sah ihr in den Ausschnitt, wo die Haut nicht mehr faltig war, sondern glatt und weiß und ein klein wenig zitterte. Ohne den Blick abzuwenden, tastete er nach dem Portemonnaie. Er öffnete es — Röte schoß ihm ins Gesicht, als er sah, was er eigentlich gewußt hatte: Der Zwanzigmarkschein fehlte. Die beiden Bände von Stefan Zweig hatten vierzehn Mark gekostet.

«Joachim«, fragte Titus leise. Joachim kaute weiter.

«Gott, hilf mir!«flüsterte Titus. Erst klaubte er die Markstücke heraus, dann die beiden Fünfziger. Zum Schluß schüttete er das Kleingeld auf den Tisch, darunter drei Zwanziger. Die Kellnerin beugte sich wieder herab. Doch diesmal kam sie ihm so nah, daß er ohne Mühe den Ansatz ihrer Brüste hätte küssen können. Sie legte ihren Zeigefinger auf jede Münze und schob sie einzeln über die Tischkante, unter die sie ihr geöffnetes Portemonnaie hielt. Und jedesmal sah Titus dieses Zittern.

Plötzlich war es zu spät. Er konnte nur versuchen, die Schenkel zu spreizen. Die Kellnerin lächelte, dankte und schob das Portemonnaie unter ihre Schürze. Am liebsten hätte Titus nach ihrer Hand gegriffen. Es passierte, obwohl er wegsah, zum Fenster hinaus, vor dem der Verkehr über die Brücke donnerte. Er glaubte, seine Beine und Füße würden zucken und merkwürdige Laute seiner Kehle entfahren. Dabei saß er wie erstarrt, nicht mal sein Atem war zu hören. Und für einen Augenblick schloß er sogar voller Seligkeit die Augen.


2

Der Großvater drehte sich zur Wanduhr um.»Fünf vor elf!«wiederholte er mit vor Empörung brüchiger Stimme. Titus kniete vor dem Garderobenspiegel, weil sich eine doppelte Schleife zum Knoten verzogen hatte.»Ich war bei Frau Lapin!«rief er.»Hab ich doch gesagt!«

Der Großvater zog seine Armbanduhr aus der Hosentasche und hielt sie ihm hin.»Fünf vor elf!«

Titus trat auf die Ferse seines Schuhs und befreite so seinen Fuß. In Hausschuhen folgte er dem Großvater in die Küche, auf seinem Platz stand eine Teetasse. Das Tischtuch hing, wie immer, wenn seine Mutter Nachtdienst hatte, über der Lehne des freien Stuhls.

«Sie hat mich gemalt«, sagte Titus.

«Ach, die Lapin! Die quatscht doch nur! Elf Uhr! Weiß das deine Mutter?«

«Ja«, sagte Titus. Er hatte anderes vorgehabt, als mit dem Großvater zu streiten. Noch im Treppenhaus war er bereit gewesen, gleich wieder aufzubrechen, um durch die Nacht zu wandern. Er sehnte sich nach etwas völlig Neuem, nach etwas, woran er noch nie gedacht hatte. Seine Sachen waren naß geworden, weil es regnete und weil er geschwitzt hatte, doch er mußte nur den Ärmel an die Nase halten und den darin nistenden Geruch von Ölfarbe und Zigarettenrauch einsaugen, um auf unerhörte Art und Weise wach zu sein.

«Hast du gegessen?«fragte der Großvater.

Titus nickte. Bei jeder Windböe schien die Scheibe leise zu knacken. Wenn er schon nicht durch die Nacht wanderte, wollte er wenigstens bis zum Morgen Tagebuch schreiben.

Nachdem der Großvater auch Titus eingeschenkt und sich vier Stück Würfelzucker genommen hatte, saß er da und wartete, daß der Tee abkühlte. Fünf, höchstens zehn Minuten wollte Titus bei ihm sitzen bleiben, das sollte das letzte Zugeständnis sein. Danach würde ihn keine Macht der Welt mehr von seinem Vorhaben abbringen.

Die braungefleckten Hände des Großvaters lagen reglos links und rechts neben der Tasse. Wenn es ihm gutging, trommelten seine spröden, etwas bläulichen Fingernägel die Begleitung zu einer Melodie, die ihm durch den Kopf ging, meistens ein Marsch, den er sonntags um eins bei den» Lustigen Musikanten «im Deutschlandfunk gehört hatte. In seinem Gesicht gab es bis auf die kleine glänzende Warze, die links an seinem Nasenflügel wuchs, kaum Unregelmäßigkeiten. Die fächerförmigen Falten in den äußeren Augenwinkeln waren links sehr viel ausgeprägter. Wenn er vom Friseur kam, dauerte es zwei Wochen, bis die weiße Bürste nachgewachsen war. Da er täglich spazierenging, verlor sein Gesicht das ganze Jahr über nie seine Bräune.

«Gibt’s was Neues?«fragte Titus. Gleichzeitig rührten sie in den Tassen.

«Es ist Selbstmord gewesen.«

«Die Terroristen?«

«Ja«, sagte der Großvater und löffelte Tee in die ausgequetschte Zitronenhälfte, drückte sie aus und strich sie mehrmals am Tassenrand ab. Danach lagen seine Hände wieder auf der Tischkante.

«Und bei dir?«

«War schön«, sagte Titus,»war wunderbar!«Er sprach schon wie Gunda Lapin, die, jede Silbe wie ein Schwungrad anschiebend,»Wun-der-bar!«gerufen hatte.

Der Großvater mochte weder Gunda Lapin noch andere Besucher, weil sie seiner Tochter nur Zeit stahlen und ihr den Kaffee wegtranken. Gunda Lapin aber hatte er einmal spätabends am Kühlschrank überrascht, wie sie sich Schinken in den Mund gestopft und dazu Bier aus der Flasche getrunken hatte.

Fünf Minuten wollte Titus dem Großvater Gesellschaft leisten, wie das bei ihnen hieß. Immer mußte dem Großvater Gesellschaft geleistet werden, weil er den ganzen Tag allein war, weil er langsamer aß und seinen Tee genießen wollte.

«Na, dann wolln wir mal«, sagte der Großvater, rückte mit dem Stuhl nach hinten und verzog beim Aufstehen das Gesicht.»Nacht, Titule.«

Titus sprang auf. Aber der Großvater machte bereits mit der Tasse in Händen die ersten Schritte, weshalb Titus ihm nur bis zur Küchentür folgte,»Gute Nacht!«rief er und hörte, wie die letzte Silbe im kahlen Vorraum verhallte. Der Großvater mochte es nicht, wenn Titus ihm einen Kuß auf die Wange gab. Jedenfalls tat er immer so und kniff dabei ein Auge zu.

Am liebsten wäre er ihm nachgelaufen. Wie konnte der Großvater ihn so plötzlich verlassen? Ihm war zum Heulen zumute, ja, am liebsten hätte er losgeheult.

Titus verstand sich selbst nicht mehr. Er wußte auch nicht, ob er einen Augenblick zuvor an das gelbe Buch in seiner Tasche gedacht hatte oder ob es ihm erst just in dem Moment, da der Großvater aufgestanden war, wieder eingefallen war.

Titus nahm das Tee-Ei aus dem Waschbecken, schraubte es über dem Mülleimer auf, schlug die Hälften gegeneinander, spülte sie aus und legte sie zum Abtropfen auf den Geschirrost. Im selben Moment, da er in der Küche das Licht ausmachte, ging auch die Lampe im Zimmer des Großvaters aus, der sich im Dunkeln entkleidete, so daß Titus neben der Wohnungstür nach seiner Schultasche tastete. Er hielt sie schon in der Hand, als er noch einmal Licht machte


[Brief vom 10. 5. 1990]

ein und öffnete das Schubfach, in dem er den Füller seiner Großmutter aufbewahrte, schraubte die Kappe ab und schrieb» Freitag, 31. 10. 1977, 23.34 Uhr bis«.

Unruhig, als zählte er die Worte, bewegte er den Füller. Titus wollte weiterschreiben, seinen Gedanken hinterher, die, wenn sie zu schnell kamen, in Stichworten auf einem Schmierzettel festgehalten werden mußten. Er hatte Lust, die Seiten mit gleichmäßigen Schwüngen zu füllen, zu schreiben, bis er alles gesagt hatte und die blaue Tinte aufgebraucht war.

Seit er in Laubegast in die Straßenbahn gestiegen war und, geblendet von den Scheinwerfern der Autos, Gunda Lapin aus den Augen verloren hatte, sehnte er sich nach diesem Moment, in dem er nur die Kappe vom Füller zu nehmen brauchte, um zu schreiben und dergestalt zu erfahren, was mit ihm geschehen war.

Heute abend hatte er begriffen, daß er endlich aufhören mußte, wie blind herumzulaufen, fühllos und unselbständig, einer, der nur das Leben lebte, das man ihm vorsetzte, ein völlig unmögliches Leben!

Vorgebeugt saß er im Licht der Tischlampe und blickte auf die Spiegelung in den Fensterscheiben, die das Zimmer so groß wie den Raum einer Villa erscheinen ließ. Die Plakate hinter ihm glänzten. Von außen drangen nur die roten Markierungslichter des Wasserturms in sein Bild. Titus duckte sich, um eine Unebenheit der Scheibe in die Blickachse mit dem roten Punkt zu bringen, der darin aufblühte.

Sein Füller bewegte sich langsam:»Gunda Lapin«, schrieb er. Wieder setzte er die Feder auf. Er mußte sich beherrschen, die beiden Worte nicht einfach zu wiederholen, eine Zeile, ein ganzes Blatt mit» Gunda Lapin Gunda Lapin «zu füllen.

Er wünschte sich, all das, was er zu schreiben hatte, stünde bereits da, so daß er einfach nachlesen könnte, was er erlebt hatte, beginnend mit dem Weg von der Straßenbahn hinunter an die Elbe, die Wegskizze in der Hand das Laubegaster Ufer entlang, an dem sich alte Vorstadt- und Gartenhäuser aneinanderreihten. Von hier aus übersah man das gegenüberliegende flache Ufer, das bis zu den Ausläufern der Elbhänge kaum bebaut war. Die kugeligen Baumkronen hatten nur knapp das hohe Gras überragt, als wären die Stämme umflutet und ihre Schatten die Spiegelungen auf dem Wasser gewesen. Mit jedem Schritt war er der Biegung des Flusses näher gekommen und hatte weiter stromaufwärts gesehen, zum Elbsandsteingebirge, zum Lilienstein und zum Königstein, zwischen denen sich die Elbe hindurchwand, darüber blaßblaue Wolken, deren Ränder sich dunkel vor dem gelblichweißen Licht abgehoben hatten.

Das letzte Haus vor der Schiffswerft, das auf der Wegskizze mit einer auf dem Dach tanzenden Frau und der Sprechblase» Hier bin ich «gekennzeichnet gewesen war, hatte sich hinter Bäumen und Sträuchern verborgen. Auf sein Klingeln hatte er ein Geräusch gehört, als würden zusammengenagelte Bretter auseinandergestemmt, etwas zwischen Quietschen und Knarren, und dann eine Stimme.

Gunda Lapin hatte das Gartentor aufgeschlossen und ihn nicht aus den Augen gelassen. In ihrer Fellweste, dem zu langen, sich am Saum aufrollenden Pullover, weiten Hosen voller Farbflecke, die sich abwärts bis zu den Filzschuhen immer mehr verdichteten, hatte sie vor ihm gestanden, halb Clown, halb Lumpensammlerin.

Der Weg zum Haus hatte sich zwischen Akazien geschlängelt. Es war gewesen, als hätte der Wind das Licht durch das Laub getrieben. Mit großen Schritten war Gunda Lapin vor ihm hergegangen, den Schlüsselbund wie einen Eimer in der Rechten.

Über eine blankgescheuerte, sich um hundertachtzig Grad windende Holztreppe waren sie in die erste Etage gelangt und von dort einer Stiege steil hinaufgefolgt. Oben hatte sich rechts die Küche befunden, nicht größer als die Speisekammer zu Hause. Die Abwaschschüssel hatte unter der Dachluke gestanden, und die Sonne hatte genau den Teller- und Tassenberg darin getroffen, der von einer Art Palisadenzaun aus Gabeln und Löffeln geschützt gewesen war. Es war nichts Bemerkenswertes dabei, doch selbst das sich auf dem Boiler drängende Sammelsurium aus Fit-Flasche, Eishampoo, Lippenstift, grünem West-Deo, Zahnbürste und einem Becher hatte er mit einer Klarheit und Genauigkeit registriert, als sei er auf der Suche nach Indizien gewesen, ohne sagen zu können, wofür. Gunda Lapin war die erste Erwachsene gewesen, die er ohne Begleitung seiner Mutter besucht hatte. Ihre Behausung hatte aus zwei Kammern bestanden. Nur weil die Hälfte der Trennwand gefehlt hatte, hatten sie sich gegenübersitzen können, er auf dem unter dem zierlichen Schreibtisch hervorgezogenen Schemel und sie auf dem Sofa.

Er hatte gefürchtet, seine Hose könnte Spuren des Malheurs aufweisen, obwohl er sich vor dem Verlassen des» Toscana «Toilettenpapier in die Unterhose gestopft hatte. Ein Fetzen davon hatte plötzlich in der Straßenbahn zwischen seinen Schuhen gelegen.

Sie beschäftige sich gerade mit Kurt Tucholsky, hatte Gunda Lapin gesagt, und mit Franz Fühmann. Er hatte nicht verstanden, warum sie sich freiwillig mit Lesebuchautoren abgab. Seine Deutschlehrerin hatte gesagt, Tucholsky hätte ein zweiter Heine werden können, und Gunda Lapin hatte dem zu seinem Befremden zugestimmt.

Jetzt, am Schreibtisch, erschien ihm die Enttäuschung, die er angesichts des Ateliers empfunden hatte, lächerlich, als hätte so ein Haus einen lichtdurchfluteten Saal beherbergen können.

Er hatte einen niedrigen Raum mit verhängten Fenstern betreten und jenen Geruch wahrgenommen, der noch immer an ihm hing. Ein Teppich aus Farbspritzern hatte bis an die Bilder und Rahmen herangereicht, die die linke Hälfte des Raumes gefüllt hatten.

Rechts von der Tür war er auf ein kleines Podest gestiegen und hatte sich auf das dunkelrote, an Rücken- und Seitenlehne abgewetzte Kanapee gesetzt, ein Vorgang, der, so naheliegend und selbstverständlich er gewesen war, ihm gleichermaßen als Auszeichnung und Anmaßung erschienen war. Gunda Lapin hatte ihm ein Laken über die Hose gelegt, eine Schale mit Obst und Schokolade auf einen Hocker neben seine Füße gestellt und im Abstand von drei Metern — weiter entfernt war nicht möglich gewesen — mit ihrer Staffelei Aufstellung genommen.

Soweit war alles klar, bis dahin ließ sich sein Besuch ohne weiteres beschreiben. Garten, Haus, Wohnung, Atelier — alles war ein bißchen seltsam und fremd und verlockend gewesen.

Und dann? Gunda Lapin hatte ihn angeblinzelt, als hätte sie etwas Eigenartiges an ihm entdeckt. Er hatte ihrem Blick standgehalten, jedoch nicht mehr gewagt, nach der Schokolade zu greifen oder am Kaffee zu nippen.

Die Staffelei hatte nahezu flach vor ihr gelegen. Deshalb hatte sie die Pinsel an Stöcken festgebunden, die sie wie Ruten in der Hand gehalten hatte. Anstelle einer Palette hatte sie Näpfe benutzt, in denen sie die Farbe eilig verrührt hatte. Dabei hatte sie den Napf mit ausgestrecktem Arm von sich weghalten müssen, um mit dem verlängerten Pinsel hineinfahren zu können.

Titus sah wieder auf sein Spiegelbild in der Scheibe, das von den roten Lichtern des Wasserturms im Dreieck umgeben wurde. All diese Äußerlichkeiten zu beschreiben hielt nur auf, das war Kulisse und letztlich belanglos. Er wollte sich auf das Wesentliche konzentrieren. Außerdem würde er das Atelier niemals vergessen, es stand ihm in allen Einzelheiten klar vor Augen.

Warum aber schrieb er nicht auf, was passiert war? Je genauer er sich zu erinnern suchte, um so verschwommener und ungreifbarer wurde das Vorgefallene.

«Erzähl mir was«, hatte Gunda Lapin gesagt und dabei die ersten Striche über die weißgraue Leinwand gezogen. Ihre Lippen waren schmal geworden.

«Was soll ich denn erzählen?«

«Was dich beschäftigt, was du liest, was du in den letzten Tagen erlebt hast, welche Begegnungen dir wichtig waren!«

Hätte er von der Schule berichten sollen, von Petersen, Joachim? Warum versetzte ihn alles so schnell in Panik?

Gunda Lapin hatte aufgestöhnt, als hätte sie seine Gedanken lesen können. Ihre scharfen Züge waren ihm wie nachgezeichnet vorgekommen. Mal hatte sie geblinzelt, mal hatten sich ihre Augen geweitet.

«So ist es gut«, hatte sie gerufen,»bleib … bleib so, sehr gut, sehr, wunderbar, ganz wunderbar!«

Er hatte nicht gewußt, was er gut gemacht, wodurch er Gunda Lapin derart in Erregung versetzt hatte. Je hektischer ihre Bewegungen geworden waren, um so sicherer hatte er sich gefühlt.

Und weiter?

Er hatte von Joachim erzählt und dann von Petersen. Natürlich hatte Petersen ihn auf dem Kieker. Gestern hatte Petersen ihn gefragt, was VMI heiße, und er, unfähig, einen Gedanken zu fassen, hatte, der Einflüsterung eines Mitschülers folgend,»Freiwillige Masseninitiative «geantwortet. Und Petersen hatte gesagt, daß er sich nun nicht mehr wundere, wieso Titus eine Fünf im Diktat bekommen habe, was ihm zunächst unglaublich erschienen war, so eine dicke Fünf, was er aber nach dieser Antwort verstehe und was ihn in Hinblick auf die Eignung von Titus Holm für die Abiturstufe höchst bedenklich stimme, gerade weil er doch den Berufswunsch Deutschlehrer habe. Aber er freue sich natürlich, daß Titus die Freiwilligkeit der Volksmasseninitiative betone und sie alle jetzt wohl davon ausgehen dürften, daß der erste Freiwillige gefunden sei.

Er hatte Gunda Lapin erklären müssen, was daran so schlimm gewesen war: weniger die Androhung, ihn nach der Zehnten von der Schule zu schmeißen, als die Bloßstellung, die damit verbunden gewesen war. Natürlich sei» Lehrer für Deutsch und Geschichte «nicht sein Berufswunsch. Aber er hatte es einmal zu Beginn der achten Klasse gesagt, um seine Chance auf die EOS zu erhöhen, weil Jungen, wenn sie schon nicht bereit waren, Offiziere zu werden, wenigstens Lehrer werden sollten.

Doch erst nachdem er Gunda Lapin von dem Kellergespräch erzählt hatte, war sie empört gewesen und hatte seinen Lehrer einen Sadisten genannt. Sie hatte mit ihren Pinseln gefochten, als kämpfte sie gegen Petersen. Und später hatte sie gesagt, daß man sich seine eigene Gegenwelt aufbauen müsse. Und entweder schaffe man das als junger Mensch oder gar nicht. Und daß nur das Denken, das unser Sein bestimme, einen Wert besitze, und daß man selbst herausfinden müsse, was verboten und was erlaubt sei.

Wie zwei Handwerker hatten sie im Atelier zu Abend gegessen, Ei mit Senf und Brot mit Quark und Marmelade. Er hatte befürchtet, nun nach Hause geschickt zu werden, und hatte sofort und erleichtert zugestimmt, ihr noch» einen Akt «zu stehen.


[Brief vom 16. 5. 90]

Während er sich ausgezogen hatte, hatte sie vor dem Ofen gekauert und Briketts nachgelegt, und dann die Leinwand hinter ihn gestellt und mit Bleistift seine Umrisse nachgezeichnet und später gefragt, ob er verliebt sei, und seine Antwort nicht gelten lassen. Vielleicht bedeute ja.

«Ist es ein Mädchen oder ein Junge? Oder eine Frau?«

«Wieso ein Junge?«

«Wieso denn nicht?«

«Sie heißt Bernadette.«

*

Der erste Sonntag im Juli. Er lief die Schröderstraße entlang, die immer steiler anstieg, jedes Grundstück ein kleiner Park. Er schwitzte, und das Papier war dort, wo er die Rosen hielt, längst aufgeweicht. Wenigstens pünktlich wollte er sein.

Er hatte Bernadette in der Tanzschule Graf kennengelernt, Bernadette, die ihn niemals als ihren Partner für den Abschlußball akzeptiert hätte, wäre ihr eine andere Wahl geblieben. Doch wie er hatte auch sie ausgerechnet jene Stunde, in der die Paare sich finden mußten, versäumt.»Nein «hatte sie nicht mehr sagen dürfen, aber Nicken, ohne aufzusehen und ohne zu lächeln, das hatte sie gekonnt, und stumm bleiben beim Tanzen und starr über seine Schulter blicken. Zweimal hatte er sie um ihre Adresse bitten müssen. Bernadette Böhme, Schröderstraße 15.

Die Hälfte der gelben Fliesen auf dem Weg zum Haus war zerbrochen, links und rechts sah er große runde Beete mit roten Blumen. Obstbäume verstellten den Blick auf die Elbe. Aus den offenen Fenstern kam lautes Stimmengewirr.

Ihre Mutter erkannte er sofort. Sie hatte die gleichen Haare, schwarz und glatt und in der Mitte gescheitelt, und wie bei Bernadette bogen sie sich an den Spitzen zum Hals, ohne die Schultern zu berühren. Deshalb hatte er ihre Brüder, die im Vestibül die Treppe herunterkamen, für Mädchen gehalten, denn auch ihre Gesichter waren von diesen schwarzen Haaren eingefaßt, und sie alle hoben ähnlich abrupt den Kopf, um freie Sicht zu haben.

Die Freundlichkeit der Mutter beruhigte ihn, und auch, daß er warten mußte. Sie brachte ihm ein Glas Wasser auf einem dunkelgrünen Untersetzer ins Wohnzimmer. Wenn sie lächelte, sah man von ihren Augen nur die Wimpern. Ihm war es angenehm gewesen, allein zu bleiben, einen Vertrauensbeweis erkannte er darin. Von den Kostbarkeiten, die offen herumstanden, zogen ihn besonders die dunklen Holzreliefs mit nackten oder halbnackten Frauen an. Durch die großen Scheiben sah er die Stadt in der Ferne wie in einem Aquarium. Im Garten verteilt standen Liegestühle, dazwischen Sonnenschirme und ein Grill.

Gerade als er glaubte, er werde auf eine Probe gestellt — er hatte nichts berührt oder in die Hand genommen —, trat die Mutter wieder ins Zimmer. Als wäre er vollkommen gefesselt vom Anblick eines lächelnden Chinesen, drehte er sich nicht zu ihr um. Aber ihr Parfüm nahm er dafür um so stärker wahr.

«Gefällt Ihnen der? Das ist Speckstein«, sagte sie, als sie die Vase mit seinen Rosen auf einen langen Tisch stellte. Die Art und Weise, mit der sie ihr altmodisches Feuerzeug öffnete und in Gang setzte und die Zigarette genau in die Mitte ihrer glänzenden Lippen steckte, erinnerte ihn an Männer, die Schnaps aus der Flasche trinken. Sie legte den Kopf schief, um sich einen Ohrring einzufädeln. Das lilafarbene Kleid ließ ihre gebräunten Schultern frei. Bis ins Dekolleté hinein war ihre Haut von Sommersprossen übersät. Als sie den Kopf zur anderen Seite neigte, bat sie ihn, ihre Zigarette mit dem rotgefärbten Filter zu halten. In diesem Moment kam Bernadettes Tante herein.»Störe ich?«fragte sie und ging mit ausgestreckter Hand auf Titus zu. Und so betrat einer nach dem anderen den Raum und begrüßte ihn. Selbst die Kinder erschienen, um ihm guten Tag zu sagen. Martin und Marcus, Bernadettes Brüder, hielten sich abseits, während die Erwachsenen ihn umringten.

«Bernadette ist Ihretwegen beim Friseur gewesen«, flüsterte ihm die Mutter zu.»Lassen Sie sich bitte nichts anmerken. Wir haben gerettet, was zu retten war. «Und laut hatte sie gerufen, daß jetzt wohl die Zeit für ein paar Petits fours sei. Auf einer flachen Porzellanschale erhoben sich blaßrosa, marzipanweiße und gelbe Türmchen, die man sich samt dem Papieruntersatz auf den Teller nahm und dann mit der Gabel von oben her senkrecht zerteilte. Selbst die Kinder beherrschten diese Technik. Ihre Mutter schenkte Tee aus. Man konnte wählen zwischen hauchdünnen rotweißen Porzellantassen und großen Schalen, die mit spitzbrüstigen und kahlgeschorenen Figuren bemalt waren.

Bernadette sah mit ihrem dauergewellten Haar aus, als trüge sie ein Nest auf dem Kopf. Nur ihre Mutter redete weiter. Die Kinder kicherten. Er trat Bernadette ohne zu erröten entgegen. Sie gaben sich die Hand, und das erste, was Bernadette mit einer leichten Drehung zur Seite sagte, war» Mein Vater«. Der kam mit kleinen schnellen Schritten heran.

Titus erkannte ihn nicht. Er sah zunächst nichts weiter in ihm als Bernadettes Vater und begriff erst in dem Moment, als der große Böhme einfach nur» Böhme «sagte, wen er da vor sich hatte — Titus war ein» Ach «herausgerutscht,»Ach«, und das hatten sie alle verstanden. Fast hätte er noch mehr gesagt, daß er sich so etwas bei dieser Adresse hätte denken können oder so ähnlich. Aber er hielt den Mund, weil sein» Ach «in der Wirkung nicht zu übertreffen war.

«Was hat er gesagt?«fragte Rudolf Böhme, und nun wiederholten gleich zwei der Frauen sein» Ach«, ohne gleich den richtigen Ton zu treffen, weshalb sie einander rügten und korrigierten, in Lachen ausbrachen und Titus auf eine Weise mit Blicken maßen, die er nicht zu deuten wußte. Er versuchte alldem standzuhalten, und da Bernadette ihren Arm unter seinen schob, als wollte sie Anspruch auf ihn erheben, ließ er sein halbes Petit four und die Teeschale stehen und vertraute darauf, daß ihn die Wellen des Lebens einfach weitertragen würden.

Als letzte erschienen sie zum Ball im» Elbehotel«, was ihnen niemand zum Vorwurf machte, im Gegenteil. Bernadettes Freundinnen hatten zwei Stühle in der Mitte freigehalten, so daß sie wie ein Hochzeitspaar Platz nehmen konnten. Sie tanzten miteinander, einer von ihnen wußte immer die Schrittfolge.

Später ging er mit Bernadette herum und stellte sie seiner Mutter und dem Großvater vor. Und sie alle begriffen, wer sie war, als er Bernadette Böhme sagte. Und schließlich forderte er, wie es die Ballkarte vorschrieb, Bernadettes Mutter zum Cha-Cha-Cha auf und versuchte vergeblich, ihre Armhaltung zu korrigieren.

Im Wettbewerb wurden Bernadette und er Dritte — die besten unter den Anfängern. Aber was besagte das schon. Von ihnen war etwas» Magnetisches «ausgegangen. Er meinte das wortwörtlich. Sie waren es, nach denen man sich ausrichtete. Kein Wort, keine Geste, kein Blick, der nicht auf irgendeine Weise von anderen beantwortet worden wäre. Selbst Martin, ihr Bruder, kam zu ihm. An der Bewegung, mit der er den Sitz seiner Krawatte korrigierte, begriff er, daß Martin nicht jünger, sondern womöglich älter war als er.»Du gehst ab September auf die Kreuzschule?«fragte Martin.»Also auf unsere Schule?«Zu dritt stießen sie an.

*

Titus dachte an seinem Schreibtisch, wie unangenehm es ihm gewesen war, daß Gunda Lapin ihn gedrängt hatte weiterzuerzählen. Er hatte nur noch gesagt, daß Martin Kruzianer sei und in seine Parallelklasse gehe und sie gemeinsam Sport hätten.

«Und Bernadette?«

Titus hatte Gunda Lapin angesehen, als sei er überrascht, diesen Namen aus ihrem Mund zu hören.

«Bernadette geht in die zehnte Klasse.«

«Trefft ihr euch oft?«

«Nein.«

«Und morgen?«

Hatte er die Einladung erwähnt? Doch woher sonst sollte Gunda Lapin davon gewußt haben?

*

Nach dem Ball verabschiedeten sich Bernadette und er voneinander, ohne ein Treffen zu vereinbaren, weil sowieso klar war, daß sie sich in den nächsten Tagen wiedersehen würden. Die Böhmes und ihre Verwandten fuhren mit den Autos hinauf zum Weißen Hirsch, während er mit seiner Mutter und dem Großvater auf die Straßenbahn wartete. An diesem Wochenende begannen die Sommerferien.

Weil er keinen Rudolf Böhme aus der Schröderstraße 15 im Telephonbuch fand, fuhr er drei Tage später zu ihnen. Verwaist wie ein Theater während der Sommerpause war das Anwesen. Einmal, zweimal pro Woche nahm er die Elf hinauf zum Weißen Hirsch. Täglich stürmte er zum Briefkasten, aber nicht einmal die Photos vom Abschlußball kamen.

Anfang August sprang endlich das Tor auf, und er konnte wieder den Geruch des Hauses einsaugen. Martin schien erfreut, ihn zu sehen. Titus glaubte, Martin führe ihn zu Bernadette, und selbst als er allein blieb, erwartete er, daß Martin an Bernadettes Tür klopfen würde. Doch Martin kehrte nur mit einer Kanne kaltem Kaffee zurück. Und so wurde Titus Martins Gast.

Bernadette war in Ungarn, bei oder mit Freunden, das verstand er nicht richtig. Er hätte gern das Wohnzimmer gesehen und ihre Eltern. Titus trank zuviel Kaffee. Er leerte Tasse um Tasse, wie Martin, ohne nach Milch und Zucker zu fragen, ohne etwas zu schmecken.

Nachts konnte er nicht schlafen und bekam Fieber. Vielleicht war ein Brief Bernadettes verlorengegangen. Besaß sie überhaupt seine Adresse?

Ein paar Tage vor Schulbeginn wurde er von ihrer Mutter empfangen.


[Brief vom 19. 5. 90]

«Welche Freude, Sie zu sehen, Titus«, rief sie und führte ihn ins Haus, wo er sich von ihr anschauen lassen mußte. Ob seine Zeit ihm erlaube, bei ihnen einen tea zu nehmen? Sie schickte ihn auf die Veranda und kam mit einem Gedeck nach.»Das wird Bernadette aber leid tun! Die Mädchen sind nach Potsdam gefahren. Hat sie Ihnen nicht geschrieben?«

Ein Nein wäre unhöflich, ja ein Verrat an Bernadette gewesen. Zudem beruhigte es ihn, daß sie von» Mädchen «gesprochen hatte.

«Was für eine aparte Frau, Ihre Mutter!«sagte Frau Böhme. Titus hätte beinah gesagt, daß seine Mutter ja fast vierzig sei, aber Frau Böhme war vielleicht noch älter und mit Sicherheit das, was sie apart nannte.

«Spätestens mit dreizehn, vierzehn sind die Kinder fertig, da ist Schluß mit dem Einfluß der Eltern, im Gegenteil, je mehr man predigt, desto schneller verliert man sie. «Frau Böhme rückte ihren Korbstuhl näher an seinen und schenkte ihm Tee nach. Auch auf dieser Seite des Hauses gab es diese runden Beete mit den roten Blumen.

«Freunde sind das Wichtigste, und wissen Sie, Titus, deshalb wollte ich Sie bitten, Ihren Einfluß auf Bernadette geltend zu machen. Denn sie hat es gerade nicht leicht mit sich. Aber vor meinem Mann kein Wort davon, wenn ich Sie bitten darf, Rudolf ist ein Problem für sich.«

Titus war wie benommen. Weihte sie ihn nicht gerade in etwas ein, wovon nicht mal Rudolf Böhme etwas wissen durfte?

Noch bevor Rudolf Böhme die Terrasse betrat, stand Titus auf und ging ihm entgegen, ergriff die schlenkernde, wie ein Fähnchen herabhängende Hand und sah die vor lauter Konzentration geschlossenen Augen.

Titus folgte dem Beispiel der beiden Böhmes und kratzte Butter über den Toast und verteilte darauf jam aus Gläsern ohne Etiketten. Er probierte alle Sorten, ohne Rudolf Böhme aus den Augen zu lassen, der ihn, wie ihm schien, noch kein einziges Mal richtig angesehen hatte, obwohl er die ganze Zeit mit seinen wulstigen Lippen zu ihm sprach.

Titus mobilisierte seine gesamte Aufmerksamkeit, alles, was er in sich fand, um es den Worten Rudolf Böhmes entgegenzuwerfen, und marschierte tapfer voran, wie ein Soldat in den Befreiungskriegen, der unbeirrt blieb von den Einschlägen rings um ihn herum. Zugleich aber war Titus vollkommen abwesend. Er trank eine Tasse tea with milk nach der anderen und lobte jedesmal den jam, obwohl er bitter und überhaupt nicht süß schmeckte. Und wieder staunte er, wie wenig Wille und Verstand bewirkten, während ihm der Zufall, oder wie immer er jenes Geschick nennen sollte, wie im Märchen die Türen öffnete.

Rudolf Böhme führte ihn anschließend durchs Haus und zeigte ihm die Bilder seiner Sammlung. Und Titus sagte, daß hier die eigentliche Sammlung» Neuer Meister «sei, hier und nicht im Albertinum, ein Satz, den Rudolf Böhme seiner Frau zitierte, als sie zu dritt in der Küche saßen und Hawai-Toast aßen. Titus blieb bis zehn und fuhr schließlich mit drei von Rudolf Böhme geliehenen Büchern nach Hause. Nachts erbrach er sich. Die Magenschleimhaut, sagte seine Mutter. Er könne wohl nicht zu Böhmes gehen, ohne krank zu werden.

Bernadette sah er erst in der Schule wieder. Solange es ging, wich er ihr aus, weil er sich ihr gegenüber wie ein Erstkläßler vorkam. Schon von weitem erkannte er sie an der Art, wie sie ihren Kopf hin und her warf. In der Schlange vor der Essensausgabe begrüßte sie ihn dann, stellte ihn einer Freundin als ihren Partner vom Abschlußball vor und bat darum, sie beide vor sich in die Reihe zu lassen.

Sooft sie einander in der Schule über den Weg liefen — jedesmal schien Bernadette von neuem überrascht zu sein, ihm zu begegnen.

Ihm kam es so vor, als habe sich seit dem Abschlußball die Zeit umgekehrt, als sei er jünger statt reifer geworden. Und das, wovon er immer geträumt hatte, lag plötzlich hinter ihm in märchenhafter Vergangenheit.


Davon hatte er Gunda Lapin erzählt. Er hatte unaufhörlich gesprochen. Woher aber war plötzlich seine Gewißheit gekommen, daß nun alles anders werden würde? Wie war jene Veränderung geschehen, über die er schreiben wollte?

«Du bist aber durstig«, hatte Gunda Lapin gesagt. Er hatte sein Glas, kaum war es gefüllt gewesen, wieder geleert. Aber diesmal war es nur Wasser gewesen.

Titus starrte auf die aufgeschlagene Seite seines Tagebuchs. Er las Tag, Datum und Uhrzeit und den Namen Gunda Lapin. Er vollendete den begonnenen Satz mit den Worten» trug keinen BH«. Er vervollständigte auch die Angabe in der Kopfzeile: 1.16 Uhr. Danach schlug Titus sein Tagebuch zu.


3

Titus hatte sich um eine halbe bis dreiviertel Stunde verspäten wollen, damit man an Martins Geburtstagstafel nach ihm frage und jemand einen Platz für ihn freihielte. Er wußte selbst nicht, wie anderthalb Stunden daraus geworden waren. Es tat ihm leid, so viel von der kostbaren Zeit, die er in Böhmes Villa sein durfte, vergeudet zu haben. Und statt sich in der Rolle des geheimnisvollen späten Gastes einzurichten, machte er sich Vorwürfe.

Er hatte noch den Weg über die gelben zerbrochenen Fliesen vor sich, als Bernadette die Haustür öffnete und ihm entgegenkam. Sie trug eine ärmellose Bluse und verschränkte die Arme vor der Brust. Wortlos gaben sie einander die Hand. Die Gänsehaut ging ihr bis zur Schulter.

Titus genoß den Geruch des Hauses. Versuchte er ihn zu beschreiben — Nüsse, frische Wäsche, Möbelpolitur, Zigaretten, Parfüm, Überbackenes, Ananas —, war bereits zuviel Überlegung im Spiel.

«Man drängelt sich in der Küche«, sagte Bernadette und reichte ihm einen Kleiderbügel. Mit einem Teller Kuchen stieg sie die Treppe hinauf.

«Macht doch nichts«, sagte Martin und legte das Geschenk aufs Fensterbrett.»Macht überhaupt nichts. «Sie hatten sich gerade erst an den Tisch gesetzt. Bernadettes Mutter schüttelte ihm lange die Hand. Außer Joachim war noch jener Kruzianer da, der gestern mit Joachim aus dem Park gekommen war. Die drei Mädchen kannte er nicht. Es gab Kaffee und tea with milk, Petits fours und einen selbstgemachten Pflaumenkuchen mit Schlagsahne. Joachims Anwesenheit bedrückte Titus, als hindere sein Freund ihn daran, der zu sein, der er hier einmal gewesen war.

Bernadettes Mutter setzte sich bald zu Titus und erkundigte sich nach seiner Mutter und dem Großvater und danach, ob er die ersten Wochen in der neuen Schule gut überstanden habe. Am liebsten wäre er bei ihr in der Küche geblieben.

In Martins Zimmer sprach man über einen Lehrer, den Titus nicht kannte, und Joachim dozierte dann über das Sentimentale in der Musik von Schütz.

Die Sonne stand so tief, daß sie die Wolken von der Seite und von unten beleuchtete und scharf und dunkel umrandete. Als er endlich die beiden Gestalten auf der Wiese bemerkte, waren sie schon zu weit weg.

Nur an einer Bewegung des Kopfes war Bernadette zu erkennen. Sie hielten sich an der Hand. Beinah hätte er aufgestöhnt, solch einen Stich versetzte ihm dieser Anblick. Sie waren quer über die Wiese gegangen und hatten schon fast die Sträucher erreicht, die das Grundstück nach links begrenzten. Titus drückte seine Stirn an die Scheibe, aber da waren sie verschwunden.

Er hörte seinen Namen.»Wie ausgelaufener Sirup«, sagte er ruhig. Das Licht im Zimmer erlosch, die anderen kamen ans Fenster. Titus drehte sich nicht um, er machte auch nicht Platz. Nach Süden hin war der Himmel grün, aber dort, wo das Lila ins Hell- und dann ins Dunkelblau lief, verschwamm die Grenze.

«Mir schwanden die Sinne«, sang Martin,»mir wurde schwarz vor den Augen, mir wurde lila und grün!«Martin machte Licht und legte die Manfred-Krug-Platte auf. Titus spähte aus den Augenwinkeln hinaus, erblickte aber nur sein Spiegelbild. Martin, Joachim und der andere sangen mit, ihre Stimmen paßten nicht zu dieser Art Musik. Aber sie hatten etwas gefunden, um die Zeit bis zum Abendbrot herumzubringen. Selbst Joachim, dem bei den Stones oder T. Rex nichts anderes einfiel, als» Tonika, Dominante, Subdominante «zu flüstern, bis der Titel vorbei war, grölte in seinem Stimmbruch-Tenor mit.

Heute, in der zweiten Stunde, im Deutschunterricht, hatten sie Gorkis» Mutter «behandelt und über literarische Helden gesprochen. Die Deutschlehrerin hatte auch David und Goliath als literarische Helden bezeichnet.»Solange sie nicht im Neuen Testament herumfuhrwerkt«, hatte Joachim in der Pause gesagt,»soll sie ruhig ihre literarischen Helden sammeln. «Worauf Titus geantwortet hatte, daß Leute mit Charakter im Neuen Testament ziemlich rar seien.

Wie er das denn meine?

«Wenn sich einer der beiden Schächer am Kreuz plötzlich bekehrt — mir kommt das nicht richtig vor. Ich finde«, hatte Titus gesagt,»den, der weiter spottet, besser, natürlicher.«

«Warum?«

«Der hat doch nichts mehr davon, daß er rumrüpelt.«

«Er spuckt auf einen, dem es schlechter geht!«

Und als Titus nichts erwidert hatte, war er von Joachim belehrt worden:»Der andere weiß, er hat Unrecht begangen, Jesus aber ist unschuldig. Der erkennt den Unterschied. Warum soll der andere besser sein?«

Auch darauf war Titus die Antwort schuldig geblieben.

«Wer hat dir denn gesagt, daß der andere besser ist?«

«Niemand«, hatte Titus geantwortet,»niemand!«, und plötzlich hinzugefügt:»Ich soll einen Kurzvortrag halten über den Aggressor Bundeswehr, am Montag.«

Joachim hatte ihn angesehen, als erwarte er noch etwas, und schließlich gesagt:»Na, dann halt ihn mal schön, deinen Vortrag.«

Die Mädchen saßen dicht nebeneinander auf Martins Bett. Die drei Sänger schienen mit sich und den Plattenhüllen beschäftigt.

Am Himmel waren die Farben verschwunden, nur ein schmaler heller Streifen hielt sich, wie ein Lichtspalt, bevor die Tür zuschlägt.

Wieso war er sich so sicher, daß er da draußen Bernadette gesehen hatte? Es konnten genausogut ihre Mutter und ihr Vater gewesen sein. Saß Bernadette nicht nebenan auf ihrem Zimmer und aß Kuchen? Ja, er war nun überzeugt, nicht sie zwischen den runden Beeten gesehen zu haben. Das nahm eine Last von ihm und machte ihn froh.


[Brief vom 24. 5. 90]

Er drehte sich um. Sie sangen noch immer dasselbe Lied.»Gestern war der Ball, da sah ich zum ersten Mal dich und deinen Gang …«War das eine Anspielung auf Bernadette und ihn?

Titus setzte sich zu den Mädchen aufs Bett. Wie gern wäre er selbst so herumgesprungen. Er würde sogar besser herumspringen als die drei, aber er konnte nicht singen, obwohl er den Text kannte:»Mir schwanden die Sinne, mir wurde schwarz vor den Augen, mir wurde lila und grün, dann sah ich Möwen, Schwäne und Kraniche ziehen …«

Dieses Vorrecht, ein Organ der Musik zu sein, über das diese drei wohl nie ein Wort verloren, das aber ihre Selbstgewißheit, ihre Sicherheit erklärte, war ihm verwehrt. Titus versuchte, wenigstens ein gutes Publikum abzugeben, und applaudierte den dreien, die nicht mehr aufhören wollten und so laut waren, daß sie später sogar den Gong, der zum Essen rief, überhörten. Marcus, der kleine Bruder von Bernadette, hatte Tischkarten geschrieben und Bernadette die Servietten in dreizackige Kronen verwandelt. Rudolf Böhme zündete Kerzen an und verteilte die Leuchter im Raum, eine Tätigkeit, die seinen kleinen Schritten eine Berechtigung gab. Nachdem die Hunde der Dunkelheit, wie Rudolf Böhme sich ausdrückte, aus den Ecken vertrieben waren, begrüßte er alle, schloß selbst die Küchentür und stellte sich hinter seinen Stuhl.»Mein lieber Martin«, begann er.

Titus lächelte. Er sah zu Martin und dann von einem zum anderen, aber außer ihm selbst hielt es offenbar niemand für übertrieben, das Geburtstagskind mit einer Rede zu ehren.

Mit besonderem Ernst sah Titus nun zu Rudolf Böhme auf, der mit erhobenem Kinn, geschlossenen Lidern und wie im Traum zuckenden Wimpern sprach, während seine Finger die Tischkante entlangtasteten und daran zu arbeiten schienen, das Tischtuch darüberzuspannen. Im Kerzenlicht ähnelten die Geschwister einander und ihrer Mutter noch mehr, als trügen sie alle die gleiche Perücke. Bernadette hatte im selben Moment aufgeblickt, da ihr Vater Titus mit Namen nannte.

Gelächter beendete die Rede, weil die Gläser, nach denen zu greifen sie Rudolf Böhme aufforderte, noch nicht gefüllt waren, und Rudolf Böhme, sich selbst unterbrechend, rief, er habe doch gewußt, daß da etwas fehle.

Kaum hatten sie angefangen zu essen, war auch schon die Ketchupflasche leer gewesen. Trotzdem wurde die Flasche weiter herumgereicht, eine schier unerschöpfliche Albernheit, die ihren Höhepunkt erreichte, als Rudolf Böhme arglos mit erhobenem Haupt um den Ketchup bat und nach einigen erfolglosen Versuchen bemerkte, ihnen sei wohl der Ketchup ausgegangen.

Bernadette saß zurückgelehnt da und starrte auf die Reste ihres Toastes. An dem Ketchupwitz hatte sie sich nicht beteiligt, weshalb auch Titus bemüht gewesen war, möglichst wenig zu lachen.

Martin und Joachim blödelten weiter herum und beschworen gerade dadurch das Schweigen am Tisch herauf. Titus suchte bereits nach einer Frage, die er Rudolf Böhme stellen konnte, und gab sich Mühe, Messer und Gabel möglichst lautlos abzulegen. Er beobachtete, wie tief sich Rudolf Böhme jedesmal über den Teller beugte, um die Bissen von der Gabel zu ziehen. Die Bewegungen seiner Lippen und der Zunge wie auch das gründliche, lang anhaltende Kauen erschienen Titus wie ein umgekehrtes Sprechen, als wollte sich Rudolf Böhme die Worte, Sätze und Gedanken jetzt einverleiben, die er irgendwann schreiben oder aussprechen würde.

«Woran arbeiten Sie denn gerade, wenn man das wissen darf?«fragte Joachim.

«Papa, du bist gemeint«, rief Bernadette.

«Oder wollen Sie lieber nicht darüber sprechen?«

Titus nutzte die Gelegenheit, um tief ein- und auszuatmen.

«Ich übersetze«, sagte Rudolf Böhme weiterkauend.»Ich tue so, als könnte ich das. Übrigens zusammen mit eurem Brockmann, Boris Brockmann. Der ist großartig, wirklich großartig, der übersetzt tatsächlich, ich dichte da nur so hinterher.«

Mit einem Rest des geschmolzenen Käses tupfte Rudolf Böhme die Toastkrümel auf.

Boris Brockmann, der Latein- und Griechischlehrer, der sie ab der Zehnten unterrichten würde, sah aus wie Bertolt Brecht und kleidete sich auch so. Titus begegnete ihm nur, wenn er den Weg über das oberste Stockwerk des Hauptgebäudes nahm. Halb ans Fensterbrett gelehnt, halb auf der Heizung sitzend, schien Brockmann nur darauf zu warten, gegrüßt zu werden, um sein eigenes» Guten Tag «so ernst und wohlartikuliert auszusprechen, daß Titus jedesmal den ursprünglichen Wunsch in der Grußformel hörte.

«Man müßte mal ein ganzes Buch über das Übersetzen schreiben«, sagte Rudolf Böhme,»von Humboldt bis heute. Wer richtig hinschaut, merkt schnell, daß ein Übersetzen im Grunde gar nicht existiert. Und wie schnell sitzt man in der Falle!«Er wischte sich gründlich den Mund ab.

«Worüber man sich immer lustig macht, und völlig zu Recht lustig macht, dieses ›Was will uns der Dichter sagen?‹«— Rudolf Böhme lachte vor sich hin, seine Zunge fuhr über die Schneidezähne.»Da hast du das Original, nun mache die Übersetzung, und jeder findet das in Ordnung. Wo ist das Problem, wenn man doch beides so schön ins Regal stellen kann? Was aber soll denn das Original sein, das Original gibt es ja nur, weil sich da einer drüberbeugt, sonst gäbe es das Original gar nicht.«

Subjektiver Idealismus, dachte Titus.

«Aber wenn das Original nicht das Original ist«, sagte Martin,»was ist es denn dann?«

«Das Original im Regal ist weiter nichts als bedrucktes Papier«, sagte Rudolf Böhme.»Sobald du es aber aufschlägst und liest, wird die Sache kompliziert.«

«Vielleicht verrätst du ihnen auch, was du übersetzt«, sagte Bernadettes Mutter, die schon wieder rauchte.

«Da geht es ja bereits los!«rief Rudolf Böhme.»Die ›Bakchai‹ des Euripides, die ›Bacchantinnen‹, die ›Besessenen‹ oder die ›Rasenden‹, oder wie soll ich sie nennen? Versteht ihr?«

«Nein!«sagte Martin.

«Sage ich ›Bacchantinnen‹, sehe ich Jordaens vor mir, und bei ›Bacchus‹, Caravaggio, der kranke Bacchus, was hat das mit Dionysos zu tun?«

«Dann nimm ein anderes Wort«, sagte Martin.

«Und welches?«

«Was im Wörterbuch steht.«

«Was im Wörterbuch steht?«fragte Rudolf Böhme und schloß die Augen.»Im Wörterbuch steht: ›bacchisch Begeisterte, Verzückte, Wütende, Rasende‹, so was in der Art.«

«Und was paßt?«

«Ja, welches paßt denn?«Rudolf Böhme sah auf seinen Teller.»Wir hatten so einen Schulwitz«, begann er.»Die alten Griechen wußten das Allerwichtigste nicht, nämlich daß sie ›die alten Griechen‹ sind, verstehst du? Die Zeit, die die Griechen zu ›alten Griechen‹ machte, förderte immer neue Bedeutungen zutage, von denen die Griechen natürlich nichts gewußt haben und auch gar nicht wissen konnten, obwohl die Worte ja von ihnen stammen. Ich werde darin etwas anderes sehen als du, und Mama sieht wiederum etwas ganz anderes darin. Und unser Freund Titus, der wird wieder etwas anderes bemerkenswert finden. Jeder hat seine eigenen Erfahrungen, also liest er dieselben Sätze anders.«

«Stimmt das, Titus?«fragte Martin.

«Ja, das stimmt«, sagte Titus ernst.

«Ja, das stimmt«, ahmte Martin ihn nach.

«Der Text ist doch nichts Totes«, fuhr Rudolf Böhme fort,»sondern etwas, was meinen Fragen auf ganz eigene Weise antwortet oder die Antwort verweigert. Da steckt eine Stimme drin, das ist eine Begegnung, ein Gespräch …«

«Huuh!«rief Martin.»Geisterstunde mit Begeisterten!«

Bernadettes Mutter schüttelte den Kopf und stieß empört den Rauch aus.

«Er hat recht, Sophie«, rief Rudolf Böhme, bevor Bernadettes Mutter etwas sagen konnte.»Lesen ist immer Geisterstunde!«

«Und worum geht’s in den Begeisterten?«fragte Titus.

«Das verdirbt uns den Abend«, sagte Bernadettes Mutter.

«Immerhin Goethes Lieblingstragödie, aber grausam, grau


[Brief vom 25. 5. 90]

«Jetzt hab ich den Faden verloren. Na gut«, sagte er und legte die Zeigefinger, die sich wie Hörner nach außen bogen, auf die Tischkante.»Dionysos kommt in menschlicher Gestalt — das ist wichtig, daß er menschliche Gestalt angenommen hat —, also er kommt nach Theben, um in der Stadt seiner Mutter Semele seinen Kult einzuführen. Ganz Asien huldigt ihm bereits, nur Griechenland weiß noch nichts von ihm. Semele, die Geliebte des Zeus, war der Einflüsterung Heras erlegen und hatte von Zeus den Beweis seiner Göttlichkeit gefordert. Zeus war als Blitz erschienen, und der Blitz hatte Semele getötet. Die Schwestern Semeles, die Tanten des Dionysos, jedoch behaupten, das sei nur eine Erfindung von Semeles Vater Kadmos, dem Gründer von Theben. Er habe diese Legende erfunden, um die Ehre seiner Tochter und damit des Königshauses zu bewahren. In Wahrheit habe Zeus Semele gerade deshalb erschlagen, weil sie sich zu Unrecht gebrüstet habe, von Zeus schwanger zu sein. Dionysos mißfällt das Getratsche. Deshalb, so sagt Dionysos, hat er die Frauen von Theben zu Rasenden, zu maniais gemacht und sie in das nahe gelegene Waldgebirge, den Kithairon, getrieben. Dionysos fordert Glauben …«

«Was er als Gott ja darf«, fügte Joachim hinzu.

«Wenn er sich denn auch als Gott zeigen würde«, entgegnete Rudolf Böhme.»In Theben regiert Pentheus, ein Cousin von Dionysos, seine Mutter Agaue ist eine Schwester von Semele. Kadmos ist also der gemeinsame Großvater von Pentheus und Dionysos. Pentheus ist durchaus ein gottes- oder«, er nickte Joachim zu,»götterfürchtiger Mann. Nur den Dionysos schließt er von seinen Opfergaben und Gebeten aus, den aber, muß man fairerweise ergänzen, kennt Pentheus ja auch noch gar nicht.«

Bernadette war aufgestanden und hatte begonnen, den Tisch abzuräumen, während Rudolf Böhme den Aufzug des Chores beschrieb. Titus stellte die Teller seiner Nachbarinnen auf seinen und schob den Stuhl zurück.

«Nein«, flüsterte Bernadette und legte ihm die Hand auf die Schulter. Sie nahm ihm die Teller ab und ging in die Küche, aus der, wie im Theater, das Licht als heller Keil an den Tisch stieß und wieder verschwand. Rudolf Böhme sprach vom Auftritt der beiden Greise, des blinden Sehers Teiresias und des Stadtgründers Kadmos, die gemeinsam ins Gebirge wollen, um Dionysos zu huldigen. Er verglich sie mit Rentnern auf dem Weg in die Disko.

Titus konzentrierte sich auf jene Stelle seiner rechten Schulter, die Bernadettes Hand berührt hatte. Viel lieber, als Rudolf Böhme zuzuhören — Titus konnte Pentheus gut verstehen, der sich über Teiresias und Kadmos lustig machte —, würde er Bernadette beim Abwasch helfen.

Er hörte erst wieder hin, als ihre Mutter rief:»Der eine, Dionysos, schlägt die Frauen mit mania; der andere, Pentheus, will sie hinter Schloß und Riegel bringen. Das sollten wir mal festhalten!«

«Das sollten wir festhalten!«stimmte Rudolf Böhme zu und sprach von der feinen Unterscheidung, die Teiresias zwischen kratos, der Macht als etwas Äußerlichem, und dynamis, der Kraft und Stärke als Eigenschaft, trifft.

Rudolf Böhme sah beim Sprechen vor sich auf den Tisch. Hob er einmal den Kopf, schloß er die Augen. Erst aus dieser Nähe gewahrte man die vielen Fältchen, die sich wie ein feinmaschiges Netz von den Augenwinkeln her über die Wangen ausbreiteten.

Wie früher, wenn seine Mutter ihm Geschichten erzählt hatte, so sah Titus auch jetzt alles vor sich. Das Schloß des Pentheus glich der Kreuzschule, Pentheus war eine Art Direktor oder Lehrer und Dionysos, das hatte Rudolf Böhme behauptet, ein Hippie, ein Frauenheld, ein Künstler.

«Der Dionysos-Kult«, sagte Rudolf Böhme,»ist keine Sache, die sich einfach mitteilen ließe, man muß den Kult vollziehen, man muß mitmachen und sich an die Regeln halten, wie bei jedem Glauben.«

Titus sah, wie Dionysos in den Kohlenkeller gesperrt wird — da erbebt die Erde, das Schulgebäude stürzt ein, Dionysos aber tritt unversehrt hinaus auf den Schulhof und prahlt damit, Pentheus mit Wahnsinn geschlagen zu haben. In diesem Moment kommt schon Pentheus angerannt — war es Petersen? War es der Direktor? Alles ist so eingetroffen, wie es Dionysos vorausgesagt hat. Doch solches Gerede will Petersen nicht hören. Er läßt das Schultor schließen, als hätte er nicht gerade selbst erlebt, wie nutzlos derartige Befehle sind. Joachim weist ihn darauf hin, aber Petersen hat genug von diesem Schüler, der immer das letzte Wort haben will.»Sofos, sofos sy!«schreit er.»Klug, klug bist du, nur dort nicht, wo du klug sein solltest!«

«Er ist harthörig, wie das mein Opa ausdrücken würde«, sagte Joachim.

«Man versteht Pentheus und versteht ihn auch nicht«, fuhr Rudolf Böhme fort.»Alles, was er bisher gelernt hat, alle seine bisherigen Erfahrungen widersprechen dem, was er da erlebt. Wir können nicht erwarten, daß er so mir nichts, dir nichts die Brille abnimmt, durch die er seit Jahr und Tag die Welt betrachtet. Andererseits ist es erstaunlich, wie blind er für die veränderte Situation ist.«

In dem Moment schlug wieder der Lichtkeil gegen den Tisch. Bernadette kam mit zwei Kompottschälchen herein. Titus erhob sich und ging in die Küche, dem Apfel- und Vanilleduft entgegen, nahm ebenfalls zwei Schälchen und trug sie auf. Bernadette lächelte, ihr Mund bewegte sich, als wollte sie etwas sagen. Noch zweimal liefen sie dicht aneinander vorbei. Als sie wieder am Tisch saßen, sah Bernadette ihn an. Uns reichen Blicke, um die Gedanken des anderen zu kennen, dachte Titus und wartete, bis Bernadette zum Löffel griff und zu essen begann, überbackene Apfelstücke mit Vanillesauce.

«Das schmeckt vorzüglich«, sagte Rudolf Böhme, spitzte die Lippen und schlug mit dem Löffel in die Luft, als klopfte er ein Ei auf. Titus stimmte nicht in das Lob ein, das erschien ihm zu läppisch. Auch Bernadette schwieg. Aber es war eine fröhliche Stille, die sogar die Tragödie in ein helles Licht rückte.

«Wo ist eigentlich Stefan?«fragte Rudolf Böhme, der bereits sein Schälchen auskratzte. Martin schien die Frage nicht gehört zu haben, Titus sah, wie sehr er mit dem Nachtisch beschäftigt war, er mußte lächeln, und dieses Lächeln wollte er Bernadette zeigen, die aber im selben Moment sagte:»Ich geh dann rüber«, und dabei sah sie Titus an, der nun nicht mehr wußte, wohin mit seinem Lächeln. Er schaufelte es zu, er schaufelte die Apfelstückchen in sich hinein wie Erde in ein Grab und sah auch nicht auf, als Bernadette hinausging.

«Ihr Freund wird übermorgen eingezogen«, flüsterte Rudolf Böhme.»Für die beiden ist das ein bißchen wie Weltuntergang.«

Als Titus die Hand von Bernadettes Mutter auf seiner Schulter spürte, hätte er beinah losgeschluchzt. Ohne den Kopf zu wenden, reichte er ihr sein leeres Schälchen, selbst für ein einfaches» Danke «fehlte ihm die Stimme.

Ob sie nicht Lust hätten, jetzt einen tea zu trinken, fragte Bernadettes Mutter und stellte die Metalldose mit Kandiszucker direkt vor Titus hin.

«Ich will es noch schnell zu Ende bringen«, rief Rudolf Böhme,»oder gibt’s Nachschlag?«

Er erzählte von einem Hirten, der die Frauen im Gebirge beobachtet hat. Doch was er berichtet — Szenen voller Harmonie zwischen Mensch und Natur —, ist nicht nach dem Geschmack des Pentheus …

Titus sah diesen Stefan vor sich, kurzgeschoren und mit einem Stahlhelm auf dem Kopf. Titus versuchte sich an den Fahneneid zu erinnern, den ihm Joachim vor Wochen abgeschrieben hatte. Diesen Stefan ließ er den Fahneneid aufsagen, und Bernadette mußte es mit anhören. Ich schwöre, sagte Stefan, der Deutschen Demokratischen Republik, meinem Vaterland, allzeit treu zu dienen und sie auf Befehl der Arbeiter-und-Bauern-Regierung gegen jeden Feind zu schützen. Ich schwöre, jederzeit bereit zu sein, den Sozialismus gegen alle Feinde zu verteidigen und mein Leben zur Erringung des Sieges einzusetzen. Sollte ich jemals … so möge mich die harte Strafe der Gesetze … und die Verachtung des werktätigen Volkes treffen.

«Die Frauen stürzen sich auf das Vieh, zerreißen und zerfleischen die Schafe und Rinder mit bloßen Händen, Blut spritzt, Fleischstücke bleiben in den Zweigen hängen, Knochen und Hufe fliegen durch die Luft …«

Titus hörte das gern. Er verzog nicht das Gesicht. Auf ihn brauchte Rudolf Böhme keine Rücksicht zu nehmen.

Joachim sagte, daß es Gewalt gewesen sei, die die Gewalt der Frauen erst hervorgerufen habe.

«Ja, natürlich, Pentheus hört nur, was er hören will. Und außerdem, und das sagt er auch zur Begründung, gibt es für ihn nichts Schlimmeres, als von Frauen besiegt zu werden, solche Schmach kann sich Griechenland — plötzlich geht es nicht mehr um Theben, sondern um Griechenland — nicht bieten lassen. An dieser Stelle, und da muß man Nietzsche und all jenen, die ihm folgten, recht geben, macht Pentheus keine gute Figur. Andererseits ist seine Reaktion ganz normal für einen Herrscher. Dionysos jedenfalls, gekränkt von so viel Starrsinn, warnt ihn erneut, nicht gegen einen Gott die Waffen zu erheben.«

«Dionysos beweist Geduld«, sagte Joachim.

Titus war enttäuscht, daß das Gemetzel schon vorüber war. Denn so war der Krieg, entsetzlich, grausam, nicht mit Worten zu beschreiben, und dieser Stefan würde dabei mittun, er schwor es doch. Und statt Rudolf Böhme zuzuhören, der über die Peripetie der Tragödie sprach, sah er, wie sich Bernadette endlich von dem Uniformierten abwandte, angeekelt von so viel Feigheit, Duckmäusertum und Kadavergehorsam.

«Weil Pentheus alles, was er zu hören bekommt, in seine Sprache übersetzt, weil er glaubt, auf seine Fragen nicht die richtige Antwort zu erhalten, statt zu erkennen, daß er die falschen Fragen stellt, wird er untergehen. Oder kurz gesagt: Weil er nicht bereit oder nicht in der Lage ist, sich selbst in Frage zu stellen, wird ihm ein grausiges Ende zuteil«, sagte Rudolf Böhme. Und Titus hätte am liebsten gerufen: Weil er feige gewesen ist! Weil er nicht begreift, was er tut! Weil er Bernadette nicht verdient!

«Wichser«, rief Martin.

«Ja, Pentheus ist ein Voyeur«, sagte Rudolf Böhme.»Aber jetzt verstehen wir auch, warum er dort, wo von Weihen und Gottesdienst die Rede ist, nur Geilheit und Zügellosigkeit erkennt. Er, der sich selbst gut kennt, glaubt auch zu wissen, wie es in anderen aussieht. Was du Wichser nennst, ist trotzdem der erste und einzige Ausbruch aus seiner Starrheit. Plötzlich offenbart er eine Eigenschaft, die er selbst immerzu bekämpft und unterdrückt hat, im Staat und in sich selbst. Fürchterlich, gerade dadurch wird er vernichtet werden.«

Während Rudolf Böhme nacherzählte, wie Pentheus in Frauenkleidung in den Kithairon schleicht, von Dionysos geschlagen mit lyssa, dem Wahn, dem jene Ambivalenz fehlt, welche die mania auszeichnet, verstand Titus, daß er handeln mußte, daß ihn und Bernadette nur eine Tat retten konnte.

«›Bliebe Pentheus bei Verstand, würde er keine Frauenkleidung anlegen‹, sagt Dionysos«, fuhr Rudolf Böhme fort.»Und die Frage ist, ob sich Dionysos mit diesem Satz nicht selbst ad absurdum führt. Denn von nun an ist jeder Schritt ein Schritt in die Vernichtung. Dionysos begnügt sich nicht damit, seinen Widersacher zu töten, Pentheus soll durch die Hand seiner Mutter sterben.«

Titus war heiß, sein Kopf glühte. Er versuchte, sich zum Zuhören zu zwingen und nicht an alles gleichzeitig zu denken. Aber das schaffte er nicht. Es gab zu viele Welten, zu viele Träume, zu viele Leben. Er mußte sich entscheiden.

Rudolf Böhme sprach, als hätte er mit eigenen Augen gesehen, wie Dionysos eine Kiefer herabbiegt und Pentheus in die Krone setzt und den Stamm vorsichtig wieder in die Höhe schwingen läßt. Die Frauen sehen ihn eher als er sie und packen die Kiefer und entwurzeln sie. Pentheus reißt sich die Frauenkleider vom Leib, er fleht zu seiner Mutter, ich bin es, dein Pentheus, dein Sohn, du selbst hast mich geboren, erbarme dich, Mutter, töte mich nicht, weil ich Schuld auf mich lud, ich bin doch dein Kind! Agaue aber, seine Mutter, packt die rechte Hand, stemmt sich mit dem Fuß gegen seinen Körper und reißt die Schulter heraus … Nach dem Gemetzel fällt Pentheus’ Kopf in die Hände seiner Mutter. Die pfropft ihn anstelle des Pinienzapfens auf den Thyrsosstab und trägt ihn dem Triumphzug voran in die Stadt. Agaue rühmt sich, als erste das Wild berührt und getötet zu haben, und fordert den Chor auf, am Mahl teilzunehmen. Entsetzt lehnt der Chor ab. Agaue streichelt dem Kälbchen, das sie in Händen zu halten glaubt, den Flaum am Kinn. Ihr Sohn Pentheus, prahlt sie, würde sie loben für ihre Jagd, für ihren Fang. Wem da nicht die Tränen kommen«, sagte Rudolf Böhme,»der hat keine mehr zu verlieren.«

Als sie sich wenig später vom Tisch erhoben, stand Titus’ Entschluß bereits fest. Er trat an das große Wohnzimmerfenster und sah auf die Stadt. Sie lag ausgestreckt vor ihm, und Stimmen sagten: Wir sind dein Volk, und in der Luft begann es zu schwärmen von ihresgleichen, da sie ihn riefen, einen von ihrem Geschlecht, der es wagen würde, der sich anschickte zu handeln und seine Schwingen schüttelte, die Schwingen seiner jubilierenden und schrecklichen Jugend. Er hatte es einmal auswendig gelernt, nicht fehlerfrei, doch beinahe.

Titus wollte mit Joachim sprechen, mit ihm allein. Titus fürchtete, daß sie auch auf dem Heimweg nicht ungestört sein würden. Aber Joachim wich nicht von Rudolf Böhmes Seite.

Als sie schließlich alle gemeinsam zur Garderobe gingen, verabschiedete sich Titus als erster und trat hinaus vor die Tür. Er bebte vor Ungeduld. Jeder Augenblick, den er weiter allein blieb und den Joachim ihn warten ließ, bedrohte seinen Entschluß. Doch sobald er Joachim seinen Entschluß mitgeteilt haben würde, gäbe es kein Zurück mehr. Titus wollte endlich anders sein, aufrecht, gut. Er erschauerte, als fiele die Entscheidung nicht übermorgen in der letzten Stunde, sondern jetzt, jetzt gleich.

Der Wind war stärker geworden, der Himmel schwarz. Die Straßenbeleuchtung blinkte hinter den Bäumen auf, das einzige Licht weit und breit. Er hörte die Stimme von Rudolf Böhme und die von Martin. Die Mädchen suchten etwas. Bernadettes Mutter bot ihnen an, bei ihnen zu übernachten. Die Mädchen lehnten ab. Rudolf Böhme wiederholte die Einladung.»Los, komm, komm!«flüsterte Titus. Die Hände in den Taschen seiner Kutte, schlug er sich gegen die Hüfte, fuhr herum und stieß mit der Schulter stärker als gewollt die Haustür wieder auf. Erstaunt sah man ihn an, wie einen Neuankömmling. Titus lächelte. Da war er wieder, der Geruch des Hauses, dieser Duft, betörender denn je. Und so als folgte er einer Bitte, trat Titus wieder ein.


4

Als Titus erwachte, war ihm das taghelle Zimmer seltsam fremd. Neben dem Wecker lag das aufgeschlagene Märchenbuch, in dem er gelesen hatte, um sich zu beruhigen.

So wie er manchmal den Kopf vom Kissen hob, um zu prüfen, ob die Kopfschmerzen noch da waren, so suchte Titus nun nach dem Entschluß, den er gestern gefaßt hatte. Doch sein Nein zur Armee hatte das Niemandsland des Schlafes unversehrt durchquert und war bereits ein Teil von ihm. Titus fühlte sich so stark und sicher, daß er am liebsten den Sonntag übersprungen hätte.

Er begann mit seinen Liegestützen, erhöhte das Pensum sogar um zwei und kam nach vierundvierzig keuchend und hellwach auf die Beine.

Er begrüßte den Großvater, der vor dem Radio saß und sein Gesicht verzog, als Titus ihm einen Kuß auf die Wange gab. Der Tisch in der Küche war für ihn gedeckt. Nur Brotkrümel und das Tee-Ei im Waschbecken verrieten, daß er zu spät kam. Beim Essen geriet er in eine merkwürdige Stimmung, weil alles, worauf er sah, ihn an irgend etwas erinnerte. Und so erkannte er wieder in den weißen Fliesen über dem Herd, die nach der Verlegung des Ofenrohrs inmitten der wolkengrauen Fliesen angebracht worden waren, einen auf zwei Beinen tanzenden Hund, mit dem seine Schwester früher lange Gespräche geführt hatte. Die Kaffeedose mit der holländischen Schneelandschaft, der Stoffkalender von vor drei Jahren mit den Schwarzwaldmädchen, der amöbenartige Fleck an der Decke — Titus sah all das an diesem Morgen wie zum ersten Mal. Er fühlte sich als Gast. Die seltsame Ferne zu den Dingen gefiel ihm.

Im Hausaufgabenheft waren die Spalten für Musik, Staatsbürgerkunde, Russisch und Sport leer, für Mathe und Physik gab er sich zwei Stunden.

Dann war Titus etwas verunsichert, weil er so schnell vorankam. Gleichungen mit zwei Unbekannten.


[Brief vom 31. 5. 90]

da es nicht mehr auf Zensuren ankam — nach der Zehnten würde man ihn als Wehrdienstverweigerer auf jeden Fall hinauswerfen —, spürte er allmählich wieder Boden unter den Füßen. Bevor er sich an die Physikaufgaben setzte, machte er sein Bett und hob vom Boden auf, was herumlag: das Fremdwörterbuch, die Märchen, den Wecker, zwei Ansichtskarten aus Greifswald und Stralsund, die seine Schwester ihm geschickt hatte, das Fernsehprogramm von letzter Woche und die» Sächsische Zeitung«, die ihm der Großvater neuerdings ins Zimmer legte. Titus packte den Ranzen, ohne Petersens Buch zu berühren, und genoß den Anblick des bis auf Physikbuch und Hefter leeren Schreibtischs. Er schlug Seite 144 auf. Die Aufgabe 62 lautete: Berichten Sie über das Leben und Wirken von Isaac Newton! Arbeiten Sie dazu den Lehrbuchabschnitt S. 33 bis 35 durch! Als weiterführende Literatur ist zu empfehlen: Wawilow, S. I.: Isaac Newton, Berlin 1951. Aufgabe 63: Erklären Sie den Unterschied zwischen der Masse eines Körpers und der Gewichtskraft eines Körpers!

Titus fühlte sich stark und klug. Wie Joachim würde er alle Hausaufgaben auf Anhieb lösen. Zehn Minuten später verstaute er die Physiksachen im Ranzen. Am liebsten hätte er sich schon jetzt die Pausenbrote für Montag geschmiert, um den Ranzen erst wieder in der Schule öffnen zu müssen.

Obwohl es noch früh war, bereitete Titus das Mittagessen vor, schnitt die Würstchen in die Kartoffelsuppe und deckte, als wäre seine Mutter zu Hause, den Tisch im Wohnzimmer, die Maggiflasche stellte er auf einen Untersetzer. Wenn der Großvater vom Spaziergang kam, sollte er sich um nichts kümmern müssen.

Zu Hause mußte er nicht helfen. Nie hätte seine Mutter von ihm verlangt, Kartoffeln zu schälen oder Wäsche aufzuhängen. Ihm selbst wäre das wie Kinderarbeit vorgekommen. Er wußte nicht, wie aus harten Körnern weicher Reis, wie aus rohem Fleisch ein eßbares Gericht gemacht wurde. Noch im Sommer hatte er einen Teebeutel in ein Glas mit kaltem Wasser gehängt. Aber all das hätte er trotzdem lieber gelernt, als unter ihrer Aufsicht zu üben: Deklinationen, Konjugationen, das Umstellen von Gleichungen, Prozentrechnung, Kommasetzung … In der siebenten Klasse durfte keinesfalls eine Drei auf dem Zeugnis stehen; über Dreien redeten sie gar nicht. In den Hauptfächern mußten es Einsen sein, und wenn er das schaffte, war eine Zwei in den Nebenfächern reine Faulheit und erst recht nicht zu akzeptieren. Er sollte nicht dort bleiben, wo die Dummen und Faulen waren.

Obwohl ein Sonntag, der den Namen verdiente, die Anwesenheit seiner Mutter brauchte, so war er jetzt froh, sie erst wiederzusehen, wenn bereits alles entschieden sein würde. Denn in ihren Augen würde alle Anstrengung, alles Üben und Bangen umsonst gewesen sein, überflüssig die Freude über eine Eins, der Kummer angesichts einer Zwei und erst recht die Verzweiflung bei einer Drei. Ach, Mutter, wollte er sagen. Es ist kein Opfer, was ich bringe, im Gegenteil, es ist eine Befreiung, eine Auferstehung. Ich habe doch gar keine Wahl. Ich habe es tun müssen, weil sich sonst alles in Sinnlosigkeit auflösen würde. Wenn Wahrheit und Lüge, richtig und falsch, gut und böse ihre Bedeutung behalten sollen, muß ich nein sagen.

Ihm war, als könnte er zum ersten Mal wirklich frei atmen. Erlebte er nicht gerade im Augenblick jene Freiheit, von der all jene berichtet hatten, die bereit gewesen waren, sich zu Jesus zu bekennen und ihr Kreuz auf sich zu nehmen? Begann nicht erst jetzt das Leben? Wie hatte er es nur ausgehalten, solch ein Duckmäuser zu sein, wie unnötig waren doch all diese Verbiegungen!

Titus hörte den Schlüssel in der Wohnungstür. Er zündete die Kerzen an und legte die Platte mit den» Brandenburgischen Konzerten «auf den Plattenspieler.

«Du sollst deine Mutter anrufen«, sagte der Großvater, nachdem er sich gesetzt und das Maggi verrührt hatte.

«Hast du mit ihr gesprochen?«

«Du sollst sie anrufen«, sagte der Großvater.

Titus versuchte sich vorzustellen, wie sein Leben am nächsten Sonntag sein würde. Er konnte nicht sagen, was das Wohnzimmer dann von dem jetzigen unterscheiden würde, außer daß seine Mutter mit am Tisch sitzen würde. Aber es würde ein ganz anderes Zimmer sein.

Nach dem Essen fuhr Titus mit dem Rad zu den Waldteichen. Auf diesem Weg kannte er jede Asphaltnase, fast blind absolvierte er die Slalomfahrt um die Schlaglöcher und kleinen Buckel, die wie Warzen von den Ausbesserungsarbeiten zurückgeblieben waren. Der Gedanke an das Telephonat bedrückte ihn von Minute zu Minute mehr.

Seit er zur Schule ging, war es ihm nie in den Sinn gekommen, seiner Mutter von Schlägen, Beschimpfungen, überhaupt von Erniedrigungen zu erzählen. Denn alles, was ihm widerfuhr, schmerzte sie doppelt. Jetzt aber würde er ihr weh tun müssen. Er war seiner Mutter immer dankbar gewesen, daß sie ihn und die Schwester nicht so behandelt hatte, wie Kinder gemeinhin behandelt wurden. Nach dem Tod des Vaters hatte sie ihnen keinen neuen Mann zugemutet. Männer waren roh und wollten, daß man sich mit nacktem Oberkörper wusch wie bei der Armee.

Der Wind zerrte an ihm. Titus hatte Klotzsche und Hellerau durchquert und war am Ende der Dorfstraße nach rechts abgebogen, den ungeschützten Anstieg hinauf. Er ging aus dem Sattel, aber das brachte nichts. Besser war, sich flach über den Lenker zu beugen und zu treten, was das Zeug hielt.

Einmal hatte ihm seine Mutter Hausarrest gegeben, was für ihn vollkommen inakzeptabel gewesen war. Es war ihm peinlich gewesen, er hatte sich für sie geschämt. Ihr war es ähnlich gegangen. Erst hatte sie ihn einkaufen geschickt, dann waren sie gemeinsam in die Eisdiele gegangen, und danach hatte er sich im Taschenladen ein richtiges Männerportemonnaie aussuchen dürfen.

Er dachte daran, wie er im Kindergarten die angebrannte Milch hatte trinken müssen und ihm die Haut an der Lippe hängengeblieben war und wie er früher, als sie noch keinen Fernseher hatten, mit seiner Schwester Annie jeden Sonnabendnachmittag bei den Nachbarn geklingelt hatte, um» Professor Flimmrich «zu sehen. In dieser Zeit hätte er die Treppenhäuser und Wohnungen am Geruch unterscheiden können. Wegen des» Schneekönigin«-Films hatte Annie die Beckers, ein Rentnerehepaar, aus dem Mittagsschlaf geholt. Die Beckers hatten sie davongejagt, um sie jedoch ein paar Minuten später heraufzuwinken. Annie und ihm hatten die Beckers ihre silbrig glänzenden Sessel angeboten. Aus einer runden Holzdose durften sie gezuckertes Gelee essen. Von da an hatte er sich immer wieder gefragt, ob, selbst wenn alles in seinem Leben mißlingen sollte, ihm wenigstens dieses bliebe: vor dem Fernseher zu sitzen und gezuckertes Gelee zu essen. Diese Vorstellung hatte der Welt viel von ihrem Schrecken genommen.

Auf dem kleinen Hügel, von dem aus man kilometerweit über die Felder sah, hinter denen der Moritzburger Wald die Horizontlinie zog, begriff Titus plötzlich, daß die Kindheit hinter ihm lag.

Den Abhang hinab gewann er mehr und mehr an Fahrt. Das Kunststück bestand darin, sich, ohne zu bremsen, in jene Linkskurve zu legen, mit der die Straße zu den Waldteichen abzweigte. Wem es gelang, so einzuschwenken, daß der Asphalt am Straßenrand wie eine Steilkurve funktionierte, erlebte, wie sein Körper zwischen Druck und Widerstand herumgerissen und gelenkt wurde. Das Glück dieser Sekunde kribbelte lange nach. Wer den richtigen Winkel verfehlte, wurde aus der Kurve getragen und schoß ins Feld.


(Hier noch ein paar Träumereien über das neue Leben und schöne Beobachtungen einfügen. Und wie er versucht, nicht mehr an Bernadette zu denken.)


Titus erschrak vor dem kurzen Stochern des Schlüssels an der Wohnungstür, und dann erschrak er darüber, daß er erschrocken war …


Die Mutter, grau wie ein Radiergummi.


Sie hatte noch nie geweint, nicht vor ihm. Aber jetzt schimmerten ihre Augen feucht. Wie sie auf ihre Fußspitzen blickte, sah sie müde und dünn aus. Ihre auf den Knien gefalteten Hände rochen nach Chloramin.

«Mutter«, sagte er.»Du tust ja, als ob ich ein Verbrecher wäre.«

«Du rennst ihnen ins Messer, Titus«, sagte sie.»So aufrichtig! Doch das ändert nichts, gar nichts, du schadest dir nur.«

Er war froh, daß sie überhaupt wieder sprach.

«Irgendwann wirst du das verstehen«, sagte er, ohne den Kopf zu heben, und hätte am liebsten hinzugefügt:»und stolz auf mich sein«. Und dann sagte er es tatsächlich.

«Ich bin auch so stolz auf dich, Titus. Ich kann gar nicht stolzer sein als jetzt.«

Er hob immer noch nicht den Kopf.»Was ist denn so schlimm, wenn ich von der Schule fliege? Die meisten machen nur eine Lehre.«

Er hörte die Schritte des Großvaters.

«Du wirfst dich weg, Titus, Perlen vor die Säue!«

Titus empfing den Großvater mit einem Lächeln.»Wo ist deine Mutter?«

«Hier«, sagte Titus, und der Großvater drückte die Tür weiter auf.

«Ist was passiert?«

Titus schüttelte den Kopf und lächelte wieder. Seine Mutter rührte sich nicht und sah zu Boden, bis der Großvater wieder gegangen war.

«Was willst du denn sagen?«

Titus schwieg. Er hatte es einmal gesagt. Er konnte es nicht wiederholen, seine Worte blieben in den Spuren des Gesagten stecken. Aus der Küche hörte er das Radio, und ihm war, als hätte er diese Szene schon einmal erlebt.

«Denkst du, du besserst Petersen? Oder deine Mitschüler? Die bringst du nur in Verlegenheit, in Schwierigkeiten …«

«Soll ich denn lügen?«Jetzt sah er sie an.

«Wer sagt denn, daß du lügen sollst?«

Titus setzte sich gerade.

«Du sollst was über die Bundeswehr sagen, nichts weiter.«


[Brief vom 9. 6. 90]

«Das stimmt doch alles nicht.«

«Was stimmt nicht?«

«Aggressor und dieses Zeugs.«

«Woher weißt du das?«

«Die würden uns nie angreifen!«

«Wenn die Russen keine Armee hätten, keine Raketen … Glaubst du, der Westen würde sich nobel zurückhalten? Die haben nicht mal Allende geduldet. Denk an Vietnam! Nur weil die bessere Autos fahren und bessere Strumpfhosen haben, sind sie nicht automatisch menschlicher!«

«Wie redest du denn?«

«Alles würden die einkassieren!«

«Ich denk, der Westen …«

«Würde sich bedienen …«

Die Verzweiflung in ihrem Gesicht war wie weggewischt. Er kam sich vor wie beim Schach, wenn sie ihm erlaubte, einen dummen Zug rückgängig zu machen. Aber er wollte nichts mehr rückgängig machen.

«Das kannst du doch gar nicht beurteilen«, sagte Titus.

«Stell dir einfach vor, du sprichst über Glühbirnen oder Autos oder so was in der Art.«

«Wieso denn?«

«Darüber weißt du auch nicht viel mehr, oder?«

«Er will Schlußfolgerungen …«

«Die muß jeder selbst ziehen.«

«Mama …«

Wo waren seine Gedanken hin, die Argumente, die er ihr hatte vorhalten wollen. Wieso konnte er sie nicht überzeugen? War er so leicht matt zu setzen? Joachim hatte recht, Gunda Lapin hatte recht, seine Mutter hatte recht, alle hatten immer irgendwie recht, nur er selbst nicht.


(Oder besser als Situation in der Telephonzelle.)

«Er hat gefragt, wie ich mich eingewöhnt habe, wie ich mit den Anforderungen und der neuen Klasse zurechtkomme, und dann gesagt, daß es kein Werbungsgespräch sei, so wie man Söldner wirbt, das sei nun Gott sei Dank vorbei. So was gebe es bei uns nicht. Aber die Arbeiter- und Bauernmacht, die uns ermöglicht, diese Bildung zu erwerben, darf wohl von denen, die sie besonders fördert, auch eine besondere Gegenleistung verlangen.«

«Er war ganz ruhig, aber scharf, ruhig und scharf. Er hat gefragt, warum ich nicht für den Frieden bin. Ich hab ihm gesagt, daß ich natürlich für den Frieden bin. Ob ich denn auch bereit sei, mit der Waffe in der Hand meine Heimat zu verteidigen, oder ob ich tatenlos zusehen würde, wie man meine Familie ermordet.«

«Dann werde ich Müllkutscher. Ich werde schon nicht verhungern!«

«›Bei uns wird niemand allein gelassen mit seinen Entscheidungen‹, hat er gesagt.«

«Einen Kurzvortrag, bis Montag.«

«Ich weiß es doch nicht. Er hat mir ein Buch mitgegeben …«

Dann sagte Titus lange nichts. Es war schon fast dunkel geworden.

«Das wird immer so weitergehen«, sagte er schließlich.»Immer weiter und weiter.«

«Ja«, sagte er dann,»ja«.


5

Halb sechs. Titus sah die Tropfen an der Scheibe. Er drehte sich auf den Rücken und lauschte. Etwas hatte ihn geweckt, so wie früher, wenn der Kater aufs Bett gesprungen war. Alles klang nah: Die Autoreifen auf dem Asphalt, die Straßenbahn, die Busse, die hinauf zur Flugzeugwerft fuhren, die Züge in der Heide.

Titus preßte die Augenlider zusammen. Sein Herz arbeitete sich voran, immer höher, immer dichter unter die Haut.

Halb sieben, halb acht … er zählte es an den Fingern ab, halb eins … in sieben Stunden war es soweit — in acht Stunden würde sein Leben bereits ein anderes sein.

Er drehte sich auf die Seite, bog das Kissen um und drückte sein Gesicht hinein, als weinte er. Die Haustür fiel ins Schloß, Schritte auf den Gehwegplatten. Die nächsten sieben Minuten wollte er genießen, als wäre es mitten in der Nacht, und die restliche Zeit immer weiter halbieren, so daß er stets noch eine Hälfte vor sich hatte. Er winkelte die Beine an und zog die Decke hoch.

Sekunden bevor er klingelte, griff Titus nach dem Wecker und stand auf. Er schloß das Fenster, ging auf die Knie und machte Liegestütze. Er schrie sich selbst jede Zahl ins Ohr. Wie ein Offizier stand er neben sich, jede Zahl ein Rutenstreich. Bei vierzig hielt er zum ersten Mal inne, er hatte keine Luft mehr, war aber gezwungen, bis zur Erschöpfung weiterzumachen. Er sah sein verzerrtes Gesicht und hörte, wie er japste. Bei siebenundvierzig spürte er die Reitgerte auf seinem Rücken nicht mehr, achtundvierzig, neunundvierzig … selbst als sein Bauch den Boden berührte, hielten die Arme noch die Schultern oben, dann lag er da und erwartete sein Urteil.

Titus war wach, wunderbar wach. Wie ein Sprinter vom Startblock sprang er auf die Beine. Er setzte Wasser auf, nahm die Butter aus dem Kühlschrank und wusch sich über der Wanne. Sieben Stunden. Er hatte nichts weiter zu tun, als bei seiner Meinung zu bleiben. Das Schlimmste, der gestrige Nachmittag mit seiner Mutter, lag bereits hinter ihm. Vielleicht würde Petersen mit ihm zum Direktor gehen. Titus lächelte, während er sich abtrocknete.

Fünf vor halb sieben verließ er die Wohnung mitsamt dem Turnbeutel, rannte, da er die Bahn kommen hörte, und sprang während des Abklingelns in den letzten Wagen.

Der Mann neben ihm roch nach Zigaretten, Rasierwasser, Alkohol und Pfefferminz. Titus drang zur Wagenmitte vor und fand an der Haltestange einen freien Platz für seine Hand. Tasche und Turnbeutel hielt er zwischen den Beinen.

Hatten die Menschen um ihn herum nicht längst eingewilligt, ihre Lebenszeit mit dem kleinstmöglichen Aufwand herumzubringen, als gelte es, die Kräfte für das Jenseits zu schonen? War denn an keinen dieser Menschen je der Ruf Gottes ergangen?

Am Platz der Einheit mußte er aus der 7 aussteigen und hinüber zur Haltestelle der 6 laufen. An der Fußgängerampel stand ihm seine Mutter genau gegenüber. Er bemerkte sie nicht und erschrak dann, als er seinen Namen so dicht neben sich ausgesprochen hörte.

«Guten Morgen, Titus«, sagte sie. Sie umarmten sich.

«Du mußt es nur vorlesen«, sagte sie und hielt ihm Buch und Zettel hin.»Zehn Minuten, wenn du langsam liest.«

Er sah auf die Zettel. Das Buch lag in einer Plastetüte, auf der Münzen abgebildet waren.

«Das ist nicht deine Entscheidung, Titus«, sagte sie.»Ich möchte das so, und du hast dich danach zu richten.«

Titus sah zur Seite. Ihm war, als erteilte sie ihm Hausarrest.

«Du bist fünfzehn. Wenn du achtzehn bist, nach dem Abitur, dann kannst du verweigern, soviel du willst!«

«Nicht so laut«, flüsterte Titus. Wie kam sie dazu, ihn hier zu überfallen?

«Versprich mir das!«Titus sah hinüber zum Mahnmal für die Rote Armee; der Soldat mit Fahne holte zum Wurf mit der Handgranate aus. Er zielte genau auf seine Mutter und ihn.

«Du mußt es mir versprechen!«

«Ich will es versuchen«, sagte Titus.

«Nicht versuchen!«rief sie streng.»Das hat nichts mit ›versuchen‹ zu tun. Du machst, was ich dir sage, hast du verstanden, Titus?«

«Mama«, sagte er und lächelte. Er verstand nicht, was in ihm vorging. Es war wie ein Taumel, etwas löste sich in ihm, etwas Angenehmes. Sie verbot es ihm. So einfach war das. Plötzlich rückte alles wieder an seinen Platz. Er versuchte sein Lächeln zu unterdrücken; leidvoll wollte er seine Mutter ansehen. So widerstandslos durfte er sich nicht geschlagen geben. Er mußte ihr widersprechen.

«Ich habe mich entschieden«, sagte Titus.»Ich geh nicht zur Armee.«

«Dagegen habe ich nichts«, sagte sie.»Aber sag es nicht jetzt, sondern wenn es soweit ist, vor der Einberufung.«

«Petersen fragt jetzt danach. Ich will nicht mehr lügen!«

«Es ist nicht deine Entscheidung, Titus! Ich will, daß du den Vortrag hältst. Und deshalb hältst du ihn auch. Und wenn er dich fragt, dann sagst du, was du bisher gesagt hast, achtzehn Monate und keinen Tag länger.«

«Ich lese keine Lügen vor!«

«Wieso denn Lügen? Ich hab den Firlefanz weggestrichen. Du erzählst was von den Nazi-Generälen, die sie da alle hatten und haben, von den Kasernennamen, den alten Liedern, die sie immer noch grölen, den Revanchistentreffen, vor allem aber vom Geld. Die ganzen Firmen, die davon profitieren. Und wer an Waffen verdienen will, braucht Angst und Krieg. Mußt kein schlechtes Gewissen haben, mußt du sowieso nicht, aber das hier …«Sie drehte sich um, weil eine Straßenbahn kam.

«Die Elf«, sagte er.

«Wirst ja sehen«, sagte sie.

Sogar im Freien roch Titus das Chloramin an ihren Händen.

«War die Nacht ruhig?«fragte er.

«Ging so«, sagte sie.»Du hast es mir versprochen. «Sie hob sein Kinn hoch, er drehte den Kopf weg. Als er sie ansah, konnte er ein Lächeln nicht länger unterdrücken.

«Du versprichst mir jetzt, daß du es vorliest?«

«Ja«, sagte Titus.

An der Haltestelle, sie mußten in entgegengesetzte Richtungen, standen sie einander wie Fremde gegenüber, bis sich zwei Bahnen fast zeitgleich zwischen sie schoben.


Sanddorn, der Musiklehrer, schlug die Tür hinter sich zu, ging mit großen wiegenden Schritten zum Flügel, legte das Klassenbuch ab und rief:»Freundschaft! Setzen!«

Sanddorn ließ sich auf den Klavierhocker fallen, klappte den Flügel auf und spielte ein paar Takte, eine Variation von» Horch, was kommt von draußen rein«, das Lied, das sie vor einigen Wochen hatten vorsingen müssen.

«Wir brauchen Männer«, rief Sanddorn,»mehr Männer!«Und schon verlor sich die Melodie in den Baßtönen. Sanddorn schlug das Klassenbuch auf, blätterte einige Seiten um und stützte sich mit den Unterarmen darauf, so daß die Klasse nur seinen großen Kopf sah.

Titus mochte Sanddorn, obwohl dieser ihn beim Vorsingen nach der ersten Strophe auf den Platz geschickt und die von Titus’ Gesang entstellte Melodie zur Freude aller auf dem Flügel imitiert hatte. Aber eine schlechtere Note als zwei vergab Sanddorn beim Vorsingen nicht. Titus war froh, daß die Woche mit einer Schonfrist begann.

«Mario Gädtke. «Sanddorn hatte den Namen aus dem Klassenbuch vorgelesen. Er merkte sich nur die Namen derer, die im Schulchor sangen. Michael war aufgestanden.

«Eine Eins im Singen, und nicht im Chor?«Mario zählte auf, was er alles mache und warum er nicht auch noch im Chor singen könne. Titus wünschte, Sanddorn würde ihn so etwas fragen, während Mario von Chemiezirkel, Posaunenchor und Judo sprach. Wie gern wäre Titus im Chor gewesen. Sie sangen das Weihnachtsoratorium, das Brahms-Requiem, Verdi, Mozart. Und FDJ-Hemden trugen sie nur zur Schuljahreseröffnungsfeier. Als Peter Ullrich nach vorn mußte, um zum zweiten Mal vorzusingen, ahnte Titus, daß an diesem Tag auch die unverfänglichste Stunde gefährlich werden konnte. Aber ihn, ihn würde Sanddorn nicht nach vorn bitten. Er wäre der letzte, mit dem es Sanddorn noch einmal probieren würde. Und tatsächlich schlug Sanddorn das Klassenbuch wieder zu.

«Haydn-Variationen!«rief er und wiederholte, was Brahms über die Sinfonie gesagt hatte, nämlich daß eine Sinfonie zu schreiben eine Sache auf Leben und Tod sei und daß Haydn —»Wie viele Sinfonien hat Haydn geschrieben?«— darin ein Meister gewesen sei, Haydn und Mozart, Haydn und Esterházy, Brahms und Haydn.

Die Platte knackte. Die Musik begann. Titus lehnte sich zurück. Das Motiv war deutlich.

Während er auf die Musik hörte, beobachtete er Sanddorn, der zwischen Flügel und Fenster hin- und herschritt, den Blick auf den Boden gerichtet, mit der rechten Hand gab er die Einsätze.

Sanddorn war von einer Körperfülle, die Titus als provokant empfand, weil diese Sanddorn als untauglich für eine militärische Betätigung auswies. Andererseits verstand Sanddorn sein Gewicht mit solcher Anmut zu tragen, daß man in ihm einen guten Tänzer vermuten konnte. In den Pausen schien es, als lustwandele er im Flur vor dem Musikzimmer auf und ab — Sanddorn im Lehrerzimmer war unvorstellbar —, dabei summte er irgendeine Melodie, die, sobald er stehenblieb, von seinen Fingern auf Heizkörper, Fensterbretter oder Scheiben übertragen wurde. Freundlichst erwiderte er jeden Gruß, wobei er sich mit dem ganzen Oberkörper vor Schülern wie Lehrern gleichermaßen verbeugte.

Sanddorn, der am Fenster stehengeblieben war, hob den Finger, um sie auf das Eingangsmotiv hinzuweisen. Titus hätte Sanddorn gern gefragt, ob er bei der Armee gewesen war und was er ihm rate.


[Brief vom 21. 6. 90]

Titus ging nach vorn. Er wollte nicht singen, er konnte nicht singen, Sanddorn mußte doch spüren, wie unmöglich es war, ihn ein zweites Mal dieser Tortur auszusetzen. Jede Zensur wollte er akzeptieren.

Sanddorn ließ den Flügel bereits in einem rätselhaften Vorspiel erdröhnen, um gleich darauf ganz sparsam mit den Zeilen:»Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zu essen, bitte sehr!«zu beginnen.

«Nur mitsingen«, rief Sanddorn,»einfach mitmachen!«Sanddorn begann von vorn, nickte ihm aufmunternd zu, und Titus fiel ein. Er hörte nicht einmal das Lachen der Klasse, so laut sang Sanddorn.

Doch als das» Drum links, zwei, drei, drum links, zwei, drei «kam, glaubte Titus, er würde zusammen mit Sanddorn marschieren, er und Sanddorn sangen:»Wo dein Platz, Genosse, ist! Reih dich ein in die Arbeitereinheitsfront, weil du auch ein Arbeiter bist!«

Die zweite Strophe begann, und sie marschierten gemeinsam weiter. Titus hörte sich jetzt, er lehnte sich an Sanddorns Stimme an — oder diese umschloß seine eigene Stimme. Den Text kannte er ja, den hatte er gelernt. Und plötzlich freute sich Titus, als wieder» Drum links, zwei, drei «kam. Er sang laut — und als Sanddorn und der Flügel schwiegen, sang er allein. Aber einen Augenblick später setzte Sanddorn wieder ein, und so marschierten sie gemeinsam durch die dritte Strophe.

«Mittwoch, 13.30 Uhr, Chor!«rief Sanddorn, als Titus zurück auf seinen Platz ging. Das Gelächter brach los, schlimmer als je zuvor. Titus versteinerte. Sanddorn spielte mit seinen heiligsten Gefühlen. Jetzt haßte Titus Sanddorn, dieses dicke Reptil hinterm Flügel. Erst als Sanddorn rief» Aus dem machen wir noch einen richtigen Tenor!«, begann Titus zu begreifen, was soeben geschehen war. Sanddorn schrieb eine Eins ins Klassenbuch.

Titus mußte sich beeilen, es hatte schon während der zweiten Strophe zur Pause geklingelt. Dennoch ließ er sich heute Zeit, weil er Joachim vor sich wußte. Der aber wartete an der Treppe mit dem Wandbild und der elften Feuerbachthese.

«Meine Mutter will, daß ich es vorlese«, sagte Titus hastig.

«Was denn?«Joachim lächelte.

«Über die Bundeswehr, hat sie geschrieben.«

«Deine Mutter? Deine Mutter hat es geschrieben?!«

Titus zuckte mit den Schultern.

«Deine Mutter ist doch eine kluge Frau«, sagte Joachim, zog die Lippen ein und öffnete sie mit einem leisen Knall.»Warum hilft sie dir nicht? Warum macht sie es dir noch schwerer?«Titus grüßte Frau Berlin, die von Joachim zu ihm und dann wieder zu Joachim sah und so ernst blieb, als habe sie mitgehört.

«Warum macht sie das?«

«Meinetwegen«, sagte Titus trotzig und schob sich mit zwei schnellen Schritten vor Joachim, um den Entgegenkommenden auszuweichen. Bernadette sah er nirgends. Erst auf der breiten Mitteltreppe erschien Joachim wieder neben ihm.

«Du hast es nicht einfach.«

«Sie hat eben Angst«, sagte Titus, ohne den Kopf zu wenden. Er hatte immer geglaubt, Gott sei sanft und gutmütig, aber jetzt spürte er, daß Gott auch hart und fordernd sein konnte.

«Dir werden andere helfen«, sagte Joachim.»Alle, denen ich von deiner Entscheidung erzählt habe, bewundern dich.«

Titus nickte Dr. Bartmann zu, der gegenüber der Zimmertür am Fensterbrett lehnte und im selben Moment, da sie den dunklen Mitteltrakt verließen, von seiner Zeitung aufsah, als hätte er sie erwartet. Dr. Bartmann lächelte immer. Nur wenn er von der Zukunft des Sozialismus sprach, wurde er ernst. Dr. Bartmann trug ausnahmslos helle Sachen, sogar die Streifen seines Hemdes waren irgendwie farblos.

«Na, Sportsfreunde«, rief er. Dann klingelte es, und Dr. Bartmann faltete die Zeitung zusammen.

Dr. Bartmanns» Freundschaft «hatte etwas Beiläufiges. Er begnügte sich damit, sie nachzuäffen, wenn sie gar zu lasch antworteten, wobei er die Schultern hängen ließ und in die Knie ging, als fiele er in sich zusammen.

«Gibt’s was Neues in der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus?«Dr. Bartmann zog seine Hose hoch, bis die Gürtelschnalle jenen Punkt markierte, an dem sein Bauch am weitesten vorstand.»Neun zu null gewonnen, einen Tag lang gehofft, und trotzdem raus! Und was sagt unser Bezirksorgan?«In dem Moment öffnete sich die Tür, und Martina Bachmann erschien mit dem Klassenbuch.

«Ich liebe die Disziplin«, rief Dr. Bartmann,»obwohl ich dafür berühmt bin, sie nicht zu lieben. Na, Bachmännin, wer sagt das?«

Sie legte das Klassenbuch auf den Lehrertisch und zwängte sich, ohne ihren Stuhl zurückzuschieben, auf ihren Platz.

«Jewgeni Jewtuschenko!«rief Dr. Bartmann.»Nicht gelesen? Sowjetische Schriftsteller über Literatur?«Aus seiner offenen Aktentasche zog er einen schmalen Zeitungsstreifen und hielt ihn hoch:»Der Kommunismus kann ohne Puschkin, ohne den einst Ermordeten, und ohne seinen vielleicht noch nicht geborenen Nachfolger nicht vollständig sein. Große Dichtung ist ein unabdingbarer Teil des Kommunismus. Andrej Platonow, und wem der nichts sagt, sollte ihn sich jetzt merken.«

Dr. Bartmann drückte den Streifen wie einen Beweis mit der flachen Hand aufs Klassenbuch und griff wieder nach der Zeitung.»… was die Türken (auch auf den Rängen) in eine schier bodenlose Schicksalsergebenheit stürzte. «Und dann:»Als DDR-Fußballanhänger befand man sich vor dem Bildschirm in der eigenartigen, unbehaglichen Lage, der türkischen Mannschaft die Daumen …«

«Zeig mal«, flüsterte Joachim wieder. Titus packte Staatsbürgerkundebuch, Hefter, Hausaufgabenheft und seine Federmappe auf den Tisch.

«… jener Mannschaft, die uns im November 1976 in Dresden einen Punkt geraubt hat, dem jetzt so mancher nachtrauert, als sei dieser Punkt die Ursache allen Fußballunheils, das uns in den darauffolgenden Monaten so permanent verfolgte und jetzt auch von Argentinien fernhält. Dabei schien am 29. Oktober 1977 alles gar nicht mehr so schlimm zu sein, nachdem unsere Mannschaft in Babelsberg das Kunststück fertiggebracht hatte, den Außenseiter Malta mit ebenjenem Resultat von 9: 0 zu besiegen, das die Österreicher vorgelegt und beinahe ins Reich der Unwiederholbarkeit verlagert hatten. Ich gestehe …«

Titus schob den Hefter mit den drei Seiten seines Vortrages hinüber.

«… und ziehe den Hut vor dieser auch nervlich hervorragend bestandenen Prüfung unserer Spieler. Aber die großen Ausnahmen sind eben Ausnahmen … Auf die Dauer rollt der Ball nicht in unwägbaren, glückhaften oder glücklosen Bahnen. Und so hat der Erfolglose die Pflicht, sich selbst zu befragen, was verpaßt oder nicht richtig getan wurde. Diese Frage wird die Öffentlichkeit und die Verantwortlichen in den kommenden Tagen und Wochen gewiß beschäftigen. Hoffentlich so, daß die schon wieder vor der Tür stehenden neuen, großen, komplizierten …«

«Gleichgewicht des Schreckens«, zischelte Joachim durch den linken Mundwinkel.

«… übermorgen von der Rückrunde in den Europapokalspielen unserer Spitzenmannschaften noch nicht erwarten. Aber rüsten wir unsere …«

«… Das ist doch Blödsinn!«

«… rehabilitieren zu können! Wenig genug ist uns derzeit geblieben!«

Dr. Bartmann senkte die Zeitung. Am Mittwoch gegen Liverpool müßte Dynamo mindestens 4: 0 gewinnen, um das 5:1 vom Hinspiel wieder wettzumachen.»Ich wünschte«, sagte Bartmann und blätterte die Seite um,»so wie hier Jens Peter über den Fußball schreibt, würde über alle Probleme gesprochen. Zuerst, was er da über die Türken sagt …«Dr. Bartmann lachte auf,»schicksalsergeben und so, da ging mir schon der Hut hoch, da wurde mein Kuli unruhig. Aber dann nennt er doch noch Roß und Reiter!«

Titus sah, wie Joachim den Rand seiner Blätter mit Frageund Ausrufezeichen versah.

Dr. Bartmann schrieb oft ans ND oder an die» Sächsische Zeitung«. Vor den Herbstferien hatte er ihnen den Brief vorgelesen, in dem er fragte, warum die Redakteure des ND den USA-Präsidenten mit Kosenamen vorstellten. Wenn sie ihn schon beim Vornamen nennen müssen — dabei sei Carter oder Präsident Carter vollkommen ausreichend —, dann richtig, James Earl, aber nicht Jimmy. Denn aus welchem Grund sollten wir einen Mann, der die Interessen der aggressivsten Kreise des Imperialismus vertritt und die Menschheit mit der heimtückischsten Waffe, die es je gab, bedroht, warum sollten wir Carter, der die Neutronenbombe eine faire Bombe genannt hat, Jimmy nennen? Dr. Bartmann erklärte ihnen auch, warum sie Deutsche Demokratische Republik sagen sollten und nicht einfach nur DDR. In seinem Unterricht wollte er nur noch Deutsche Demokratische Republik und BRD hören.

Titus sah, wie Joachim» Unsinn «an den Rand des Vortrages schrieb.

Dann war es Zeit für die Chronik.

Titus zog seinen Hefter herüber und mit ihm Joachims Ellbogen. Aber Titus mußte jetzt schreiben, zehn Stichworte mußten am Ende im Hefter stehen.

«Enthüllung in New York — Israel hat mit Hilfe westlicher Länder vor mehr als zwanzig Jahren mit der Entwicklung von Kernwaffen begonnen. Dabei spielten israelische Agenten, die spaltbares Material aus USA-Atomanlagen besorgt hatten, eine entscheidende Rolle. Neben den USA sind auch die BRD und Frankreich an Lieferungen beteiligt.«

«Richtig«, sagte Dr. Bartmann,»aber zu lang.«

«Gewinnsucht verzichtet auf Moral: Mehr als 350 USA-Konzerne, etwa 500 britische Unternehmen und 400 Firmen aus der BRD haben sich in Südafrika etabliert. Ein Viertel der Investitionen Südafrikas stammen aus dem Ausland.«

«Sehr gut. Jetzt aber mal aktuell!«

«In der italienischen Öffentlichkeit nehmen die Protestaktionen gegen die USA-Pläne zur Produktion der Neutronenwaffe weiter zu. Mit einem Protestmarsch verurteilten am Dienstag in Rom Tausende Einwohner der Hauptstadt diese Absichten als einen aggressiven Schritt, der den Frieden der Mensch…«

«Undsoweiterundsofort«, rief Dr. Bartmann.

«Neue Mietpreiswelle in der BRD. Aufgrund gestiegener Baupreise von bis zu 20 Prozent muß …«

«Etwas anderes, etwas anderes!«

«Mehr Banküberfälle in der BRD!«

«Nein!«

«Dem Gedenken an Wassili Schukschin ist ein 8000-Tonnen-Frachter gewidmet …«

«Njet, njet, njet. «Dr. Bartmann akzeptierte die erneuten machtvollen Streiks in Italien, winkte aber ab bei den Folterungen in Belfast, der neuen Phase des Raketenbaus in der BRD, dem befristeten Waffenembargo gegen Südafrika und der Giftbombe für die USA-Marine.

Erst bei den Reaktionen auf den Panama-Kanal-Vertrag nickte Dr. Bartmann wieder und drehte sich dabei kurz um, als wollte er sehen, wie viele Plätze es noch bis zu Joachim waren, der das letzte Mal» Besucherrekord auf der Burg Stolpen «vorgeschlagen hatte, was Dr. Bartmann ihn hatte begründen lassen. Und Joachim hatte einen Kurzvortrag über das Geschichtsbewußtsein gehalten, das sich nicht immer nur auf die jüngste Vergangenheit beziehen dürfe, sondern die Erfahrungen aller Epochen benötige, und Dr. Bartmann hatte den Besucherrekord gelten lassen.

Es war dann nicht deutlich, auf wen Dr. Bartmann gezeigt hatte, jedenfalls sagte Joachim:»Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe sind am Donnerstag, den 27. Oktober auf dem Dornhaldenfriedhof in Stuttgart beigesetzt worden.«

Dr. Bartmann lächelte.»Das Thema hatten wir doch schon letzte Woche. Ist es denn so wichtig?«Dr. Bartmann erinnerte an Lenin, daran, daß Linksradikalismus die Kinderkrankheit des Kommunismus sei und welchen Schaden sie der Sache des Proletariats zufüge.

Statt Titus aufzurufen, nickte Dr. Bartmann bereits Peter Ullrich zu, der in der Bank vor ihnen saß. Titus schossen Tränen in die Augen. Am liebsten hätte er losgeheult.

Peter Ullrich sprach von unterirdischen Kernexplosionen in Nevada und Panzerabwehrraketen für Großbritannien. Es war lächerlich, in Tränen auszubrechen, nur weil Bartmann ihn übergangen hatte. Wie sollte er denn je eine Entscheidung treffen, wenn er windelweich war wie ein Kleinkind?

Er fürchtete sich vor der Pause, vor den fünf Minuten bis zum Beginn der Russischstunde. Er hatte gesagt, was er sagen wollte. Wenn Joachim das nicht begriff, wenn er immer noch glaubte, er würde ihm statt seiner Mutter folgen …

«Erstens«, diktierte Dr. Bartmann,»ein elektronisches Rechenzentrum des Systems EC 1040 des Kombinates Robotron wurde in Havanna übergeben, KOSMOS 962 wurde gestartet. Zweitens hat die Abwerbung ägyptischer Wissenschaftler durch westeuropäische Staaten und die USA ein bedrohliches Ausmaß angenommen. 70 Prozent der Studierenden kehren nicht in ihre Heimat zurück.«

Es blieben noch zwanzig Minuten für den regulären Stoff.


[Brief vom 28. 6. 90]

Titus schlug im Hefter nach vorne und notierte zum zweiten Mal das Datum: 31. 10. 1977.

Dr. Bartmann schrieb an die Tafel. 9.1.2. Das Wesen der kap. Gesellschaftsordnung. 9.1.2.1. Das Wesen der kap. Ausbeutung. Es folgten zwei Spalten, links Kapitalisten, rechts Arbeiterklasse.

Von nun an kam nur noch dran, wer sich meldete; meldete sich niemand, gab Dr. Bartmann die Antwort selbst. Joachims Kurzschrift hielt nicht nur das Tempo von Bartmann, sondern überholte ihn am Ende einer jeden Passage.

«Das Ziel der kapitalistischen Produktion besteht in der Gewinnung des höchstmöglichen Mehrwertes, also des Profits, durch Verschärfung der Ausbeutung. «In einem Kästchen erschien» angeeigneter Profit«, von dem wiederum links und rechts ein Pfeil abging. Links: für persönliche Zwecke/luxuriöses Leben; rechts: Kapital für den Ankauf neuer Maschinen, damit ständig mehr Mehrwert erzeugt wird.

«Bei Strafe des eigenen Untergangs«, rief Dr. Bartmann,»ist jeder Kapitalist gezwungen, die Produktion zu modernisieren und den Kampf gegen die anderen Kapitalisten zu führen. Dieser Konkurrenzkampf bewirkt eine ständige Verschärfung der Ausbeutung.«

Dr. Bartmann diktierte schnell und wiederholte, sobald sich jemand meldete, die zweite Satzhälfte.»… ständige Verschärfung der Ausbeutung. Das ist das Wolfsgesetz des Kapitalismus. Das Wolfsgesetz bewirkt a) eine Weiterentwicklung der Produktivkräfte und deren Hemmung, b) verstärkte Ausbeutung und Ruin großer Teile der Bauernschaft und der kapitalistischen Unternehmer, c) Kampf um Absatzmärkte und Rohstoffe, Klammer auf, Kriege, Neokolonialismus, Klammer zu.«

Dr. Bartmann wischte das Kästchen mit dem angeeigneten Profit weg.»Das führt zu 9.1.2.3. Der Grundwiderspruch des Kapitalismus, neue Zeile, Zitat, Anführungsstriche: Die Bourgeoisie hat, Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen, massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen, Punkt, Ausführungsstriche, Klammer auf, Marx, Engels, Manifest, Klammer zu. Jetzt nicht mitschreiben, weil das erst für die nächste Stunde ist, nur zum Mitdenken. «Und dann schrieb Dr. Bartmann, ohne ein Wort zu sagen, die Worte an die Tafel:»Der Widerspruch zwischen dem gesellschaftl. Charakter der Produktion und der privatkap. Aneignung ist der Grundwiderspruch des Kapitalismus.«

Er trat neben die Tafel, wies mit der flachen Hand auf das Geschriebene und sagte:»Daraus leitet sich der antagonistische Klassengegensatz zwischen Arbeiterklasse und Bourgeoisie her!«Ins Klingeln hinein rief er:»Was gesetzmäßig die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse zur Folge hat — Freundschaft!«

Die ersten, die aufsahen, erwiderten den Gruß leise, als führten sie Selbstgespräche.

Dr. Bartmann machte eine Notiz ins Klassenbuch, versenkte den Zeitungsausschnitt in seiner Aktentasche und ließ diese zuschnappen.

«Ich hab ein ganz dummes Gefühl«, sagte Joachim, der neben der Bank wartete,»ein ganz dummes.«

Titus räumte seine Sachen zusammen. Als er Joachim ansah, begriff er, daß ihrer Freundschaft nur noch ein paar Stunden blieben. Joachim würde sagen, daß man seine Hände nicht in Unschuld waschen könne und daß man bereit sein müsse, Vater und Mutter zu verlassen.

Joachim sprach, während sie die Treppe hinuntergingen. Selbst als sie sich im Russischzimmer auf ihre Plätze gesetzt hatten, redete Joachim weiter, so daß Titus seine Sachen noch nicht ausgepackt hatte, als das blonde Gift, wie Joachim Frau Berlin nannte, in der Tür erschien.

Das blonde Gift ließ sich Zeit. Je länger das» Rumgezuckle «und» Rumgehample «dauerte, um so unnachsichtiger würde sie in der Stunde sein.

«Sdrastwuitje!«rief das blonde Gift, und die Klasse antwortete im Chor: Sdrastwuitje! Reglos verharrten sie, niemand setzte sich. Das blonde Gift zwinkerte.»Choroscho, saditjes, poshaluista, wer sagt’s denn, der Mensch ist lernfähig. Wot!«Und nach einer kurzen Pause, in der sie das Klassenbuch aufschlug, wandte sie sich von Bankreihe zu Bankreihe.»Wy gotowy? Wy gotowy? Wy gotowy?«Jedesmal ließ sie für einen Augenblick ihr Kinn hängen und blinzelte mit wackelndem Kopf wie eine Schwachsinnige. Titus hatte genickt, als ihr Blick in seine Nähe gezielt hatte. Er glaubte, sie habe gefragt, ob sie bereit seien zum Unterricht. Doch bei dem folgenden» Kto chotschet?«durchfuhr es ihn heiß.

«Oje«, flüsterte Titus,»wir haben den Dialog vergessen.«

Peter Ullrich und seine Banknachbarin begannen, ihr einstudiertes Stück aufzusagen. Joachim zuckte mit den Schultern. Natürlich, es war unter seinem Niveau, sich vorzubereiten. Diese Dialoge waren etwas für Schüler wie Titus, die bereits eine Vier hatten.

Die Klasse lachte. Peter Ullrich war gut in Russisch, er hatte ein paar Monate in Leningrad verbracht und glänzte durch seine gurrende Aussprache.

«Ich fang an«, flüsterte Joachim. Und wenn er hundertmal begänne, das würde ihm, Titus, gar nichts nützen. Entschuldigungen zählten nur, wenn man sich zu Beginn meldete.

Das blonde Gift stellte Fragen, und Titus versuchte sich zu merken, was Peter Ullrich antwortete. Peter Ullrich bekam eine Jediniza, schon die dritte, wie das blonde Gift überrascht bemerkte, aber als Offiziersanwärter stehe ihm das gut zu Gesicht. Seine Banknachbarin erhielt ebenfalls eine Jediniza — damit honoriere sie auch die Freiwilligkeit, sagte das blonde Gift.

Martina Bachmann in der Bank vor ihnen meldete sich, und das blonde Gift rief:»Sieh da, ein Wunder!«Titus war ihr dankbar, weil die Wahrscheinlichkeit, daß nun auch noch sie aufgerufen würden, gering war. Martina Bachmann wollte nur erklären, warum sie sich nicht habe vorbereiten können.»Soll ich mich damit abspeisen lassen?«unterbrach sie das blonde Gift.

Titus hoffte, sie würde die Entschuldigung nicht gelten lassen und Martina Bachmann trotzdem prüfen. Aber das blonde Gift drehte sich weg, denn in der mittleren Reihe meldeten sich zwei, und das blonde Gift rief: Sie auch? Aber die beiden wollten drankommen und sprachen so lange, daß sich das blonde Gift an den Lehrertisch setzte, die Arme verschränkte und zufrieden lächelte. Und als sie fertig waren, stellte sie keine Fragen und schrieb ihnen Einsen ins Klassenbuch.

Jetzt war noch seine Reihe dran. Titus wußte nicht, wohin er blicken sollte, und spürte, wie gleichgültig ihm die letzte Stunde und der Vortrag waren, wenn er nur aus dieser Stunde heil herauskäme. Dann hörte er einen Namen, nicht seinen und nicht den von Joachim. Das blonde Gift hatte Mario aufgerufen, weil sie glaubte, ihrem Mario damit einen Gefallen zu tun. Mario schüttelte den Kopf.»Nächste Stunde wäre mir lieber«, sagte er. Das blonde Gift lächelte.»Schade«, sagte sie.»Jetzt ist es noch einfach, in der nächsten Stunde erwarte ich mehr. «Sie rief Sabine auf, und Sabine begann sofort, und die andere Sabine neben ihr antwortete, und so ging es zwischen den beiden Sabinen hin und her. Jede Reihe hatte nun ihr Opfer gebracht, und Titus glaubte zu wissen, was das blonde Gift im Anschluß sagen würde: Schließt den Mund und öffnet die Bücher. Natürlich würde sie es auf russisch sagen.

«Tschto?!«kreischte das blonde Gift.»Tschto?«Peter Ullrich und ein paar andere lachten. Nach dem nächsten Satz von der ersten Sabine lachte auch Joachim. Die zweite Sabine antwortete. Das blonde Gift war aufgesprungen. Die erste Sabine bekam rote Wangen und versuchte zu lächeln.»Tschto?«kreischte das blonde Gift auch nach dem nächsten Satz.

Als Titus endlich begriff, daß Sabine und Sabine in ihrem auswendig gelernten Text um eine Zeile verrutscht waren und Nonsens von sich gegeben hatten, weinte die zweite Sabine bereits. Das blonde Gift verurteilte beide zu einer Vier, aber mit der Möglichkeit, in der nächsten Stunde ihre Noten zu verbessern. Nun brach auch die erste Sabine in Tränen aus.

«Los«, sagte das blonde Gift und nickte Joachim zu.

Titus sah, wie Joachim mit den Schultern zuckte und» choroscho «sagte. Und dann tat er, als hebe er etwas auf den Tisch, griff nach dem unsichtbaren Hörer und bewegte seinen rechten Zeigefinger im Kreis. Er wählte und lehnte sich anschließend zurück. Titus wurde übel. Joachim machte» Klingelingeling«. Titus tat, als nehme auch er den Hörer ab, jemand lachte. Titus wartete einen Moment, dann sagte er:»Allo?«Alles lag in Gottes Hand.

«Sdejs goworit Joachim, sdrastwuitje!«

«Sdejs goworit Titus, sdrastwuitje. «Titus hielt seine rechte Hand ans Ohr, stützte sich auf den Ellbogen und starrte auf die Tischplatte.

«Fsjo choroscho?«

«Fsjo choroscho«, wiederholte Titus.

«Ja chotschu priglassit tebja …«Was folgte, blieb unverständlich.

«Oh, spassibo«, sagte Titus, und dann geriet ihm ein Wort in den Mund, das er noch nie ausgesprochen hatte.»Otlitschno!«rief er in den Hörer. Es war ihm so selbstverständlich über die Lippen gekommen, daß er es gleich noch einmal wiederholte.»Otlitschno!«

Das blonde Gift stieß einen spitzen Laut aus.

Titus verstand Joachims Antwort nicht, da er aber keine Zeitangabe gehört hatte, fragte er nur:»A kogda?«

Joachim machte mehrere Vorschläge und endete mit der Frage:»Eto udobno?«

Titus wiederholte es, ohne die Bedeutung zu wissen:»Da, eto udobno.«

Joachim redete weiter. Als Titus wieder an der Reihe war, sagte er nur:»Ponimaju. A tschto ty chotschesch?«Das ging immer.

«Tschto ja chotschu?«fragte Joachim.

«Da«, sagte Titus schnell.

Joachim sprach von Büchern, Schallplatten, Theater und sagte irgendwas über Fußball, woraufhin wieder einige lachten.

«Mui idjom f teatr«, antwortete Titus, als müßte er für Ordnung sorgen.

Joachim ließ einen weiteren langen Satz folgen, den Titus nicht verstand. Titus beharrte auf seiner Meinung:»Mui idjom f teatr. «Joachim mimte Aufgeregtheit. Offenbar wollte er nicht ins Theater. Titus spürte um sich herum die Bereitschaft zum Lachen.

«Kak ty chotschesch. A ja chotschu kuschat tort.«

Joachim mußte einen Moment warten, bis sich die Klasse wieder beruhigt hatte.»Do swidanija«, sagte Joachim.

«Fsjo choroscho?«

«Fsjo choroscho!«rief Joachim.

«Spassibo«, sagte Titus.»Do swidanija.«

Gleichzeitig legten sie die imaginären Hörer auf. Das blonde Gift sagte» Otlitschno «und» Spassibo «und setzte sich an den Lehrertisch. Sie wies Joachim auf zwei Fehler hin, lobte die Lebendigkeit des Gespräches und sagte, wobei sie Titus zuzwinkerte, daß man auch mit begrenzten Mitteln zum Ziel käme, wenn man sich nur bemühe. Sie sagte sogar etwas von Talent zur Schauspielerei und bescheinigte Titus ein Pokerface. Als sie die Noten ins Klassenbuch schrieb, machte sie zweimal dieselbe Bewegung.

Was war er doch für eine armselige Kreatur, die ihr Heil in einer Zensur suchte, einer Zensur im Russischunterricht. Dafür hatte er Gott angefleht? Und Joachim, den er belog, dem er immer noch nicht gestanden hatte, daß er den Vortrag vorlesen wollte, dieser Joachim hatte ihn gerettet. War das nicht ein Zeichen? Eine unerwartete Wendung, an die er selbst in seinen kühnsten Träumen nicht gedacht hätte? Würde ihn Gott nicht führen, wenn er sich für ihn entschied, so wie er ihn eben geführt hatte? War nicht Joachim das beste Beispiel? Wollte er denn nicht werden wie er?

Titus starrte auf die neuen Vokabeln, die sie durchgingen, er sprach mit im Chor, aber das waren bedeutungslose Laute und Silben.

Für einen Augenblick wagte er den Gedanken, daß Gott ihn zur Belohnung für seine Aufrichtigkeit mit ähnlichen Fähigkeiten, wie Joachim sie besaß, auszeichnen würde. Konnte er sich denn nicht aus freien Stücken entscheiden, das Notwendige zu tun?

«Pokerface«, flüsterte Joachim mit dem Stundenklingeln.»Pokerface «aus Joachims Mund zu hören gefiel Titus.


und machte» Klingelingeling«. In diesem Moment glaubte Titus, etwas Eisiges berühre ihn, etwas, das sein Blut gefrieren ließ.

«Klingelingeling«, machte Joachim zum zweiten Mal. Warum zog er ihn da mit hinein? Titus tat, als nehme auch er den Hörer ab.»Allo?«Er wußte nicht, ob die Klasse wegen des Schauspiels lachte oder weil seine Stimme so kläglich klang.»Sdejs goworit Joachim, sdrastwuitje!«

«Sdejs goworit Titus, sdrastwuitje. «Titus stützte sich mit dem Ellbogen auf den Tisch, die Knöchel seiner Finger am rechten Wangenknochen. Er sah auf Martina Bachmanns Rücken, auf die Stelle zwischen Lehne und Haarspitzen.

«Fsjo choroscho?«

«Fsjo choroscho«, wiederholte Titus.

«Ja chotschu priglassit tebja …«Titus hoffte, es würde schnell vorüber sein.

«Spassibo«, antwortete Titus.

Joachim reihte Satz an Satz. Pirouetten, dachte Titus. Das letzte Wort war eine Frage. Titus nickte. Er wollte zeigen: Ich weiß, jetzt bin ich dran. Er hatte sogar den Sinn der Frage verstanden. Aber so schnell ging das bei ihm nicht. Er wollte sagen, daß er die Einladung selbstverständlich annehme und hoffe, mit den Hausaufgaben schnell fertig zu werden, um ihm, Joachim, bei den Vorbereitungen zu helfen. Er wollte fragen, wer außer ihm noch eingeladen sei und ob er vielleicht etwas mitbringen solle und ob Joachim einen bestimmten Wunsch für sein Geburtstagsgeschenk habe.

Joachim sagte:»Nu?«und begann von neuem. Einige lachten. Titus sagte:»Da.«

Joachim quasselte weiter. Titus sagte noch einmal:»Spassibo. «Es machte keinen Unterschied, ob er sprach oder schwieg. Titus spürte die eigene Hand an der Wange. Er konnte sich selbst sehen. Joachim flüsterte etwas, aber da sonst niemand sprach, hörten es alle. Er würde es nicht wiederholen. Das verbot ihm sein Stolz. Titus hörte seinen Schuh, der auf den Boden tippte.

Joachim redete von Büchern, Schallplatten, Theater und sogar etwas über Fußball. Titus wollte nichts mehr sagen. Sie sollte ihm endlich eine Fünf geben und ihn in Ruhe lassen. Nicht blondes Gift sollte sie heißen, sondern Kreissäge, ihre Stimme war eine Kreissäge. Joachim schwieg.

Titus, aufgefordert, dem blonden Gift in die kleinen Augen zu sehen, hob den Kopf. Es war ihm egal, was aus ihrem verwaschenen Mund kam.»Ich hatte es vergessen«, sagte er und verschlimmerte damit nur alles. Neben ihm wurde sogar Martina Bachmann zur Heldin.

Er hatte tatsächlich Besseres vorgehabt, als so einen Unsinn zu lernen, den er sowieso nie brauchen würde.

Titus sah sich wieder in der hellen Welt, in der er sich gestern aufgehalten hatte, in einer Welt, in der für das blonde Gift kein Platz war.

Trotzdem war Titus überrascht, daß sie ihm tatsächlich eine Fünf einschrieb. Warum hackte sie noch weiter auf ihm herum? Man tritt niemanden, der schon auf dem Boden liegt, dachte er. Aber das weiß sie natürlich nicht. Wofür sollte er sich entschuldigen? Er hatte es vergessen und seine Fünf bekommen. Er schwieg. Das blonde Gift schleuderte ihren silbernen Kuli auf den Lehrertisch, von dort sprang er irgendwohin. Jemand hob den Kuli auf und brachte ihn nach vorn. Sie bedankte sich nicht. Sie schlugen die Bücher auf.

Wie hatte er glauben können, so davonzukommen? Er hatte das Wochenende von einem Augenblick auf den anderen vergessen wie einen Traum. Mit einer Vier in Russisch auf dem Halbjahreszeugnis konnte er nicht an der Schule bleiben. Mit dem Abitur war es jetzt vorbei. Gab ihm Gott eine zweite Chance?

Er hatte ja nicht einfach nicht gelernt, er hatte mit anderen Dingen gerungen, mit den wesentlichen Fragen. Sollte das alles sinnlos gewesen sein?

Er war überzeugt, daß es dieser Züchtigung bedurft hatte, um ihn an sein eigentliches Vorhaben zu erinnern.

Selbst eine wie das blonde Gift, dachte Titus, macht der Allmächtige zu seinem Werkzeug.

Als es zur Pause klingelte, fürchtete Titus, das blonde Gift könnte mit ihm reden wollen. Aber sie behelligte ihn nicht. Er lief quer über den Hof zum Nebengebäude. Die frische Luft tat gut. Im Mathematikzimmer stellte er sich ans offene Fenster, die Knie am Heizkörper. Er wartete, bis die Wärme durch den Stoff drang.

Titus hoffte, Petersen würde ihn jetzt aufrufen und nicht bis zur letzten Stunde warten. Petersen begann das Lösen von Sachaufgaben zu wiederholen.»Schreiben Sie«, sagte er und ließ seinen rechten Zeigefinger eine Art Kopfsprung ins Nichts machen.»Ein Güterzug transportiere mit insgesamt 38 Wagen 730 Tonnen Braunkohlebriketts. Einige Wagen seien mit 15 Tonnen, die anderen mit 20 Tonnen beladen. Wie viele Wagen von jeder Art sind es? Zweitens …«Titus hörte das Wispern, spürte die Angst, daß Petersen ihnen eine Kurzkontrolle diktieren könnte. Doch Petersen ließ wieder seinen Zeigefinger springen und wiederholte:»Zweitens! Ein Panzer der Nationalen Volksarmee habe einen Weg von 230 Kilometern zurückgelegt. Im ursprünglich vollen Kraftstofftank befinden sich noch 40 Liter. Könnte der Kraftstoffverbrauch je 100 Kilometer um 15 Liter eingeschränkt werden, so würde dieser Panzer einen Aktionsradius von 270 Kilometern haben. Wie groß ist das Fassungsvermögen des Tanks? Wieviel Kraftstoff wird für 100 Kilometer verbraucht. Drittens! Ein Aufklärungsflugzeug der NVA …«Titus schrieb. Aufgaben wie diese beherrschte er. Petersen mußte die Klasse für zwanzig Minuten verlassen. Peter Ullrich wurde als Verantwortlicher für Ruhe und Ordnung eingeteilt.

Es blieb auch still, nachdem Petersen das Zimmer verlassen hatte.

Joachim war nach zehn Minuten fertig, Titus gerade noch rechtzeitig vor Petersens Rückkehr.

«Ich gehe davon aus«, rief Petersen von der Tür her,»daß sie die Ergebnisse bereits verglichen haben. Gab es Probleme?«

Niemand meldete sich.

Petersen sah mit halbgeöffnetem Mund umher, hob den Arm, fragte erneut:»Keine Probleme?«und nickte mehrmals anerkennend. Er suchte nach einem geeigneten Stück Kreide und schrieb an die Tafel:»Gleichungssysteme mit mehr als zwei Variablen«.

Titus begann eine neue Seite und unterstrich die Überschrift zweimal. Petersen sagte, er wolle sich dabei nicht lange aufhalten, denn wer die Lösungsverfahren für Gleichungssysteme beherrsche, was ja jeder vorhin habe überprüfen können, bekäme damit keine Probleme. Es handle sich um nichts weiter als eine Erweiterung des Einsetzungsverfahrens. Das Verfahren beruhe auf der schrittweisen Reduzierung der Anzahl der Variablen und Gleichungen jeweils um 1.

Fünf Minuten später schrieb Petersen drei Gleichungen an und wandelte die erste bereits um. Das Einsetzungsverfahren leuchtete Titus ein.

Kurz darauf warf Petersen die Kreide auf den Lehrertisch, trat neben die Tafel und schob sich die Brille zurecht. Wer die Gleichungen skeptisch betrachtete, lief Gefahr, nach vorn gerufen zu werden.


[Brief vom 4. 7. 90]

Offenbar reichte es, ein bestimmtes Prinzip zu beherrschen. Alles andere ergab sich daraus. Titus wunderte sich, wie rätsellos derartige Zahlenreihungen werden konnten.

Petersen gab keine Hausaufgaben auf und beendete noch vor dem Klingeln die Stunde. Auf dem Weg zur Tür hielt er inne.»Alles verstanden, Titus?«fragte er. Petersens Finger zappelten wie Marionetten neben der Federmappe. Titus hob den Kopf, sagte» Ja«, lächelte und sah wieder in seinen Hefter. Petersens Hemdsärmel war ein Stück über den Handrücken gerutscht. Die Fingernägel trommelten einen schnellen Rhythmus auf die Bank und setzten nach seinem» Dann ist ja gut «einen Schlußpunkt.

Sportstunde. Titus streifte sein altes Dreß über. Martins Klasse kam verspätet in die Umkleideräume im Keller. Mario und Peter Ullrich wärmten sich draußen bereits auf. Joachim lehnte in seiner ausgebeulten Trainingshose am Torpfosten.

Kampen, der Sportlehrer, der mit seinem grauen Haarschopf wie ein schneebestäubter Dean Read in» Alaska-Kid «aussah, jonglierte mit dem Fußball. Nach dem Dreitausendmeterlauf würden ihnen zwanzig Minuten fürs Spiel bleiben.

Etwas verspätet gingen sie hinüber in den Volkspark. Die Aufwärmrunde liefen Martin und Titus als letzte. Niemand nahm den Kniehebelauf und die Fußgelenk- und Dehnübungen so ernst wie sie. Bernadette, sagte Martin, sei krank. Am Sonntag habe sie fast vierzig Fieber gehabt.

Kampen wartete vor dem kleinen Anstieg und wiederholte, für welche Zeiten es welche Noten geben würde. Danach preschte die Herde in einem unsinnigen Tempo los. Titus ließ Martin den Vortritt und legte so die ersten zweihundert Meter als letzter zurück. Erst an der Eiche, an der sie kehrtmachten, um dann auf die lange Zielgerade zu kommen, ließen sie die ersten hinter sich. Am Start überholten sie Joachim. Kampen rief Titus zu, an Martins Fersen zu bleiben.»Jag ihn!«Mit kurzen schnellen Schritten nahmen sie den Anstieg, ohne langsamer zu werden.

Titus glaubte, unendlich lange hinter Martin Böhme herlaufen zu können, hinter ihm, seinem wippenden Haar und dem Shampoo-Duft. Titus genoß die Mühelosigkeit, mit der sie an den anderen vorbeizogen. Nach drei Runden hatten sie nur noch Peter Ullrich und Mario vor sich. Doch Peter Ullrich würde sich bald wie eine Gurke nach vorn krümmen, und Mario würde wegen seiner Gelenke aufgeben. In der vierten Runde überholten sie beide, und in der fünften überrundeten sie Joachim.

«Jag ihn!«rief Kampen. Titus war glücklich. Er würde sich nicht abschütteln lassen, eher würde er sich zerreißen. Jetzt verstand er besser, was der Satz hieß: Dynamo könnte es noch gegen Liverpool schaffen, aber dafür müßte sich jeder einzelne Spieler zerreißen. Zerreißen und dranbleiben. Immer mehr Schüler und Lehrer säumten die Rennstrecke. Noch zwei Runden, keine achthundert Meter mehr. Er würde dranbleiben, er würde jedes Tempo mitgehen. Sie überrundeten weiter, wie Pfeile schossen sie vorbei. Titus kannte jeden Meter, wußte, wie die Schritte in den Kurven zu setzen waren und daß es an der Eiche mehr brachte, einen etwas größeren Bogen zu laufen, aber dafür das Tempo zu halten. Titus hörte den Jubel, sah die Fähnchen und die Leute, die sich über die Absperrung beugten und ihre Namen riefen. Er spürte den Schmerz in der Lunge, aber was hatte der mit ihm zu tun? Seine Beine liefen, sie waren nicht aufzuhalten. Martin Böhme konnte rennen, wie er wollte, ihn, Titus, würde er nicht loswerden. Als sie sich zum letzten Mal Kampen näherten, waren sie bereits Helden, Martin Böhme und er. Titus sah die aufgerissenen Münder und Augen und wäre Martin Böhme an der Eiche fast in den Rücken gerannt. Titus brauchte nicht mehr zu atmen, das behinderte ihn nur. Es waren Rücken vor ihm, mehrere Rücken, er sah Kampen, das staunende Gesicht Kampens, und hörte, wie Bernadette seinen Namen rief, nicht» Martin «rief sie, sondern» Titus! Titus!«.

Plötzlich war kein Rücken mehr vor ihm, und er flog an Kampen vorbei und immer weiter, weil er nicht mehr Herr seiner Beine war, weil sie noch liefen, mit ihm, und er schon die Arme herunternahm und sich umsah und weiterlief und endlich gehen konnte und Kampen neben ihm war und ihm die Uhr vor die Nase hielt und Martin ihm auf den Rücken schlug und gratulierte, Martin, der weiß und rot im Gesicht war.

Mit Nadelstichen kehrte sein Atem zurück. Statt einer Lunge steckte eine Röhre in ihm, ein altes Wasserrohr, der ganze Mund war rostig, er roch es sogar. Er wollte es anhalten, das Atmen anhalten, sich anhalten, aber seine Beine gingen weiter, mal nach rechts, mal nach links, er torkelte, und Kampen rief:»Weiterlaufen, Jungs, weiterlaufen!«Und Martin sagte:»Völlig ausgerußt.«

Titus sah die Mädchen kommen, näher springende Farbflecken, sie überquerten die Straße, dieselben Stimmen, die die Strecke gesäumt hatten. Sie sahen ihn an. In ihren Blicken aber lag keine Bewunderung, es war eher Schauder, Schrecken, Mitleid oder auch nur Unverständnis. Plötzlich stand sie vor ihm, klein, bleich, unauffällig, mit unruhigen Augen. Sie reckte das Kinn über den Kragen ihrer Trainingsjacke, der sie zu behindern schien.»Da«, sagte sie und entfaltete etwas, ein Zellstofftaschentuch. Und da er zögerte, drückte sie ihm das Taschentuch auf die Stirn und die Augen, eine Berührung, die unendlich guttat. Das Taschentuch blieb kleben. Er wischte die Fetzen ab und drehte sich nach ihr um, sah sie aber nicht zwischen den anderen. Den feuchten Klumpen behielt er in der Hand.

Joachim quälte sich den Anstieg hinauf, die Ellbogen an die Rippen gepreßt, die Knie aneinandergeklebt. Seine Fersen schlenkerten seitlich aus, was Titus als weibisch empfand.

Später durften Titus und Martin die Mannschaften wählen. Titus begann. Nachdem jeder sieben Namen genannt hatte, wählte Titus Joachim. So blieb Peter Ullrich unter den letzten. Martin verschmähte Peter Ullrich ebenfalls, und Titus zeigte auf einen mit zusammengewachsenen Augenbrauen und riesigen Nasenlöchern. Peter Ullrich ging als letzter an Martin.

Joachim stellte sich freiwillig ins Tor.»Auf zur Revanche, Martin«, sagte Kampen und pfiff das Spiel an.

Es war ein schlechtes Spiel. Keiner wollte mehr rennen. Joachim hatte an einer Rückgabe vorbeigetreten, es hatte Eckstoß gegeben, und der war irgendwie ins Tor gegangen. Für die Größe des Feldes waren sie zu viele Spieler und die Tore zu klein. Kurz vor dem Abpfiff sprang der Ball in der Mitte des Spielfelds ein paar Augenblicke herrenlos herum, Titus erreichte ihn als erster und traf ihn so glücklich mit dem Spann, daß der Ball ins Netz flog. Niemand jubelte.»Ein Schuß wie ein Strich«, sagte Kampen und pfiff das Spiel ab.

Mit dem Klingeln betrat Titus das Klassenzimmer, die Mädchen fehlten. Petersen rief» Freundschaft!«An die Tafel schrieb er» Isaac Newton 1643–1727«, warf die Kreide auf den Lehrertisch, steckte die Hände in die Taschen seines Kittels, wippte auf die Zehenspitzen und erzählte nach, was im Lehrbuch über den Begründer der klassischen Mechanik stand. Titus kam es so vor, als bestünde sein gesamtes Wissen allein aus dem, was Petersen gerade erzählte, als wäre Newton der erste Mensch, über den er sich etwas merken würde. Er war von seinem Tor noch wie benommen. Wie oft hatte Titus von solch einem Schuß geträumt — ein Schuß wie ein Strich.

Als sich die Tür zum ersten Mal öffnete und ein paar Mädchen mit hochroten Gesichtern hereinkamen, reagierte Petersen nicht. Den zweiten Pulk starrte Petersen stumm und finster an, bis die Mädchen auf ihren Plätzen saßen. Beim dritten Mal rief er, daß er sich das nicht länger bieten lasse, jeden Montag dasselbe!

Martina Bachmann, die als letzte hereingeschlüpft kam, wollte gerade beginnen, sich zu entschuldigen. Petersen winkte sie ungeduldig nach vorn —»Kommen Sie, kommen Sie, kommen Sie!«— und überreichte ihr das Stück Kreide wie eine Blume.»Da, machen Sie weiter, machen Sie weiter!«Petersen setzte sich auf die freie Bank vorne links und ließ seinen Unterschenkel baumeln. Immer mehr Mädchen rechtfertigten sich. Martina Bachmann durfte sich setzen.

Als Titus wieder aufsah, schrieb Petersen F = m · g und dann G = m · g an die Tafel. Titus versuchte sich einzuprägen, daß Masse und Gewichtskraft eines Körpers unterschiedliche Größen sind und die Gewichtskraft nicht in einer Einheit der Masse gemessen werden darf.»Die Gewichtskraft eines Körpers«, sagte Joachim,»ist die Kraft, mit der er senkrecht nach unten auf eine Unterlage drückt oder an einer Aufhängung zieht, also Masse mal Fallbeschleunigung. Also, g ist gleich neun Komma einundachtzig Meter durch Sekunde hoch zwei und wird in Newton oder Kilopond gemessen. «Petersen nickte, vergewisserte sich, daß das Buch vor Joachim zugeschlagen war, und sagte, daß sie nun zum Trägheitsgesetz kämen. Er schrieb ein paar Gleichungen an die Tafel. Titus wunderte sich, wie ruhig er war, als wäre das eine Stunde wie jede andere, in der er schlimmstenfalls eine schlechte Note bekommen würde, bevor es wieder klingelte. Vielleicht hatte Petersen die ganze Sache bereits vergessen.

«Wirkt auf einen Körper keine Kraft, so behält er seine Geschwindigkeit bei«, schrieb Petersen an die Tafel und umrahmte es. Während Titus überlegte, was das für ihn bedeutete, zeichnete Petersen schon ein Schiff, Meereswellen und vier Pfeile, nach oben und unten, nach rechts und links. Das waren die wirkenden Kräfte, Gewichtskraft und Auftriebskraft, Schubkraft und Wasserwiderstand. Die Trägheit eines Körpers ist um so größer, je größer die Masse des Körpers ist. Jemand kicherte. Petersen rief Peter Ullrich zu, daß er gleich Gelegenheit bekomme, das neuerworbene Wissen anzuwenden.

Titus wußte nicht, ob ihm schlecht war, weil er Hunger hatte oder weil er vorhin sein Brot zu hastig gegessen hatte. Oder weil sein Orientierungssinn gestört worden war, oder weil er sich in einer Art Schwerelosigkeit befand, einer Leere, in der man sich allein auf die Wissenschaft und ihre Gesetze verlassen konnte, in der Meinungen nicht zählten. Seine Dreitausendmeterzeit gehörte zur objektiven Realität, auch sein Tor, Newton war real, die Gleichungen waren real.

«Jeder Körper«, sagte Petersen und warf die Kreide auf den Tisch,»beharrt so lange in geradliniger, gleichförmiger Bewegung, solange die resultierende Kraft aller einwirkenden Kräfte null ist. Kommen Sie vor, da liegt die Kreide.«

Peter Ullrich schrieb weiter, als hätte er Petersens Zeigefinger nicht gesehen, erhob sich dann aber plötzlich und ging mit seinem schwankenden Gang nach vorn.

«Nach dem Trägheitsgesetz«, hob Petersen die Stimme,»bewegt sich das Schiff geradlinig, gleichförmig. Warum befindet es sich nicht in Ruhe?«Damit verließ er Peter Ullrich und setzte sich wieder auf die freie Bank links vorn. Es war so still, daß Titus die anderen atmen hörte.

Er sah sich anstelle von Peter Ullrich dort stehen, sah, wie sein eigener Blick über die Klasse flog und an Petersen hängenblieb.

«Ich kann diesen Vortrag nicht halten. «Und sofort verbesserte er sich.»Ich möchte diesen Vortrag nicht halten.«

«Warum?«bellte ihn Petersen an.

«Weil ich den Dienst an der Waffe verweigere«, antwortete Titus.

«Was?«fragte Petersen.»Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun?«

«Ich weiß es nicht«, sagte Titus,»ich weiß es wirklich nicht mehr, ich habe es vergessen.«

«Palaver, alles Palaver!«rief Petersen Peter Ullrich zu.»Sie haben nichts verstanden, nichts verstanden. Warum befindet sich das Schiff nicht in Ruhe?«Petersen wandte sich an die Klasse. Zuerst meldete sich Joachim, dann Martina Bachmann.

Titus sah den leeren Ausdruck in Peter Ullrichs Gesicht, als er an Martina Bachmann vorbei zu seinem Platz zurückkehrte.

Ich kann nicht mehr, ich kann es nicht, dachte Titus, es ist so sinnlos. Und was lag schon an so einem Gerede. Nie zuvor hatte er die Nichtigkeit und Sinnlosigkeit solcher Meinungen und Behauptungen stärker gespürt als in diesem Moment. Ihm kam es vor, als wüßte er nicht mehr, wo oben und wo unten sei, und von vorn, vom Lehrertisch aus, würde er es noch viel weniger wissen.

Petersen lobte Martina Bachmann, ihren Sinn für die konkrete Vorstellung, für die Welt des Realen. Mit einem Lachen, das aussah wie Weinen, und merkwürdigen Schulterbewegungen ging sie zu ihrer Bank.

Petersen sah auf die Uhr.»Keine Angst, Titus, ich habe Sie nicht vergessen«, sagte er und sprach nun davon, daß sie aus einem allgemeinen Gesetz, dem Newtonschen Grundgesetz, ein spezielles Gesetz, nämlich das Trägheitsgesetz, abgeleitet hätten. Er nannte das deduktiv.»Es besteht jedoch ein grundlegender Unterschied zwischen mathematischen Sätzen und physikalischen Gesetzen.«


[Brief vom 9. 7. 90]

Spielte Petersen auf ihn an, auf den Gegensatz von Sätzen und Gesetzen? Mit jedem Wort, das Petersen aussprach, breitete sich die Leere in Titus weiter aus. Es grenzte an ein Wunder, daß die drei maschinengeschriebenen Seiten gerade in dem Augenblick griffbereit vor ihm lagen, da Titus seinen Namen hörte. Beim Aufstehen tastete er nach dem Hemd, ob es ihm nicht hinten aus der Hose hing.

Noch blieb ihm Zeit, eine Entscheidung zu fällen. Als er dann vorne stand, spürte er plötzlich seine Knie. Sie zuckten, sie zitterten, etwas, was er nur als Redewendung kannte. Er kümmerte sich nicht weiter darum, denn man konnte nur seinen Oberkörper sehen. Titus staunte, wie vollkommen unvorbereitet ihn diese Prüfung traf. Niemand würde es ihm glauben. Die Quälereien waren sinnlos gewesen, vollkommen sinnlos. Jeder Augenblick löschte den vorherigen aus. Titus sortierte die drei Blätter, nicht einmal das hatte er geschafft — und legte sie gleich wieder vor sich hin, aus Angst, auch seine Hände könnten zu zittern beginnen.

Wort für Wort tastete er sich durch den ersten Satz. Er mühte sich, hervor aber quollen bloß Laute, Laute jenseits des Menschlichen, ein Geleiere, das zum Kichern, Lachen und Prusten reizte. Titus erschrak. Sie lachten über ihn. Nur Joachim und Petersen fixierten ihn finster. Er würgte an jeder Silbe, seine Zunge vollbrachte Kunststücke, die Stimmbänder jedoch blieben unbeherrschbar. Wieder Lachen. Erst jetzt bildete sich langsam der erste Satz.

Petersen brüllte. Titus begriff nicht, warum. Nicht er, die Klasse lachte! Was konnte denn er dafür?

Die Klasse schwieg wie erstarrt, Joachim kippelte. Petersen stand vor Titus, und Titus konnte sehen, wie Petersens Worte dessen Mund verzerrten.

Aus der Ferne, wie das Glockengeläut, das gerade einsetzte, erreichte Titus eine Ahnung, die, je deutlicher sie wurde, seine Züge entspannte, bis sich ein Lächeln auf seinem Gesicht abzeichnete, ein ganz feines Lächeln. Allmählich verstand Titus, warum Petersen so wütete. Und mit dieser Erkenntnis kam noch eine andere, eine, die er nicht zu benennen wußte, die hell war und licht und die schwarzen Schatten von seiner Seele vertrieb.

Petersen redete weiter. Sein Speichel traf ihn am Kinn. Titus nahm die Arme auf den Rücken. Sein Körper war leicht und gespannt, von keiner Anstrengung zu erschöpfen. Er würde singen, er würde zusammen mit dem Maestro Sanddorn singen. Und er würde Gunda Lapin Modell sitzen, ihr zuhören, ihr erzählen.

Titus sah die windschiefen Wolken, ein weißliches Gelb und dunkles Blaugrau. Bei der Vorstellung, daß ihm die Knie gezittert hatten, lachte er auf. Er würde Bernadette von seinen zitternden Knien erzählen, um sie aufzuheitern. Und in der Art, wie er über sich selbst sprach und lachte, würde auch sie verstehen, was er eben verstanden hatte.

Titus legte die drei Blätter übereinander, faltete sie sorgfältig zusammen und begab sich, wie von Petersen gefordert, zurück auf seinen Platz.

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