Freitag, 20. 4. 90


Verotschka!174

Damit wir nicht unsere Telephonzeit damit verschwenden: Roland war hier. Er ist auf Vortragstour durch den Osten. Die PDS läßt ihn nur in Kleinstädten auftreten. Am liebsten aber spricht er von Dir, als wärst Du seinetwegen in den Westen gegangen.

Wenn ich Roland richtig verstanden habe, muß er sich bald nach etwas Neuem umsehen. Für seine Theorien haben sie nicht mal mehr an der Uni Verwendung. Er sagte es natürlich anders: Jetzt, da wir überhaupt erst beginnen würden, über den Sozialismus/Kommunismus nachzudenken, ausgerechnet jetzt wollten sie seine Stelle abschaffen. Ich fragte, wen er denn mit wir meine. Die Unterdrückten und Entrechteten, die Hungernden und Durstenden, die Vertriebenen, Vergewaltigten und Obdachlosen, sagte er ohne jede Ironie.

Dann zog er über das Neue Forum her, wie unverantwortlich sie gehandelt hätten, wie naiv und kindisch, als hätten sie nie etwas vom Kapitalismus gehört. Und jetzt könne man ja zusehen, wie alles zerschlagen werde, all das, was die» Differenz zum Kapitalismus «ausgemacht habe.

Es ist sinnlos, mit ihm zu streiten, das wußte ich vorher. Er hat dieses Geschick, einen ständig in Positionen zu manövrieren, in denen man von allein beginnt, sich zu rechtfertigen. Für ihn war ich einer vom Neuen Forum, der die DDR nolens volens ans Kapital verkauft hat.

Für die Zeitung hat er sich nicht interessiert. Früher habe in unseren Zeitungen wenigstens nichts gestanden, heute finde er nur noch Unsinn darin. Im nächsten Satz warf er mir vor, daß wir über seinen Vortrag nicht berichten würden —»wahrscheinlich aus Platzgründen«. Als ich ihn fragte, warum er mir das unterstelle, höhnte er, er sehe meinen Artikel bereits vor sich. Ich war sprachlos. Darauf Roland: Er habe an Reaktionären schon immer bewundert, daß sie aufhörten zu reden, sobald ihnen etwas nicht passe, sie vertrauten in das Bestehende, in die Macht des Faktischen, wozu da noch streiten? Ob er in mir einen Reaktionär sehe, fragte ich. Er lachte. Das sei ich doch schon immer gewesen! Im Gegensatz zu den PDS-Leuten ist er frei von Schuldgefühlen und völlig unbefangen. Das irritiert am meisten.

Er wäre wohl erst zufrieden, wenn wir seine Rede in voller Länge abdruckten, auf der ersten Seite beginnend, alles andere ist für ihn Zensur. Wie aber schreibt man über einen, der den Begriff Demokratie, bürgerliche Demokratie, so geschickt benutzt, daß ein Kind glauben müßte, das sei etwas Verdächtiges, ja Verachtenswertes.

Rolands triumphierende Schlußvolte, in der er Schalck-Golodkowski als letzten Internationalisten pries, der die kommunistischen Verlage und Parteibüros im Westen am Leben gehalten habe, und die in der Feststellung gipfelte, am 9. November habe die Konterrevolution gesiegt, war selbst den alten SED-Kadern peinlich. Sie fürchteten, daß Rolands Rede in die Öffentlichkeit gelangt.

Die Sowjetunion, die sozialistischen Staaten seien die einzige Macht der Welt gewesen, die den Kapitalismus noch gezügelt habe. Wir, der Osten, seien der Garant gewesen, daß der Kapitalismus im Westen ein menschliches Antlitz habe. Aber damit sei es jetzt vorbei. Ich würde schon sehen. Ich würde noch an seine Worte denken, wenn der Staat und die Bürger nichts mehr, die Wirtschaft und der Konsument dagegen alles seien, wenn man für Kindergärten und Universitäten, ja wahrscheinlich auch noch fürs Sterben werde bezahlen müssen.

Roland scheut vor keiner Übertreibung zurück. Eigentlich wünscht er sich jene Verhältnisse zurück, in denen es unmöglich war, den Kapitalismus kennenzulernen.

Der Mann von Ilona, ein ehemaliger Genosse, kam selig aus Bayreuth zurück, weil er dort schnell und problemlos eine Hose für sich gefunden hatte, die ihm paßte, ohne daß sich Ilona wieder ans Kürzen machen mußte. Die tröstliche Bestätigung, offensichtlich doch keine abnorme Figur zu haben, hat ihn bekehrt. Man kann das lächerlich finden, und ich habe auch nicht gewagt, gegenüber Roland davon zu sprechen, aber ich verstehe Ilonas Mann, ich glaube ihm sein Glück, ein Glück, das Roland nur als Zeichen von Verblendung und Verführbarkeit schmähen kann.

Ist es nicht ein Verbrechen zu sagen: Ihr dürft das Mittelmeer nicht sehen, oder erst, wenn ihr alt und grau seid und nicht mehr arbeiten könnt? Ach, Schluß damit! Ich bin schon wie Michaela, die sich immer mal wieder an der Vorstellung berauscht, ihren früheren Lehrern und Professoren zu begegnen und sie zur Rede zu stellen. Als hätte sie nicht schon im Theater die Erfahrung gemacht, wie sinnlos das ist, sinnlos, weil man Scham und Reue nicht einfordern kann.

Natürlich bewundere ich Roland auch. Schon allein seine Vitalität, seine Lust zu reden, sich zu streiten, seine Extravaganz (damit meine ich nicht nur Gürtel, Hüftschwung und Seidentuch). Er ist ein brillanter Logiker ohne Angst vor Konsequenzen, ja, ich bewundere seinen Mut, aber es ist eine verderbliche Logik, um nicht zu sagen: eine mörderische.

Ich habe ihm von Mamus’ Verhaftung erzählt und davon, was in Dresden letzten Herbst passiert ist. Ich ärgerte mich, schon während ich sprach, über mich selbst, weil ich die Verhaftung als Argument benutzte, weil es plötzlich so eitel klang. Wenigstens hat er nicht versucht, Rechtfertigungen dafür zu suchen oder es gar anzuzweifeln. Er hat seinen Abscheu ausgedrückt, sich dann aber nicht enthalten können, mir zu raten, Dich nach Schatila und Badra175 zu fragen, danach, was in Griechenland oder Spanien, in Argentinien und Uruguay176 passiert sei. Und dann kamen sie wieder, die abgehackten Hände von Victor Jara.177

Warum will er nicht in einer Welt leben, die halbwegs angenehm ist, warum immer kämpfen, leiden, sterben? Du, mein Heinrich, wirst Du sagen, müßtest es doch selbst am besten wissen? Weil es Leuten wie Roland nicht darum geht, in einer schönen Welt zu leben, sondern produktiv zu bleiben. Dafür nehmen sie alles in Kauf, Revolution, Chaos, Tod. Deshalb muß Roland auch im 9. November ein Werk der Konterrevolution sehen. Wie sollte er sonst weiterschreiben? Nun können sie wieder ihre Budjonny-Mützen178 aufsetzen. Man denkt, Leute wie Roland müßten unendlich verzweifelt sein, weil die Geschichte sie um hundert Jahre zurückgeschleudert hat, weil ihr ganzes proletarisches Tschingderassa, all die Millionen Opfer, die sie anklagend auf ihren Fahnen trugen, nun genauso sinnlos werden wie jene Millionen Opfer, die im Namen ihrer eigenen Götzen gemordet worden sind. Aber so ist es nicht. Seine Augen leuchten heller denn je. Sind sie Narren? Wirrköpfe? Egal was mit der Welt geschieht — an ihrer göttlichen Mission halten sie fest. Verzeih, ich wiederhole mich. Roland und seine Genossen sind einfach lästig. Ja, ich empfinde größte Genugtuung, daß ihnen nun kurzerhand der Hahn abgedreht wird und sie sich, wie alle anderen, nach einer Arbeit umsehen müssen. Wir grüßen die Genossen der Deutschen Kommunistischen Partei ein letztes Mal! Nur nicht zuviel Ärger, nur nicht zuviel Kraft und Gefühl an sie verschwenden. Alles, was sich auf sie bezieht, selbst wenn man ihnen vor die Füße spuckt, deuten sie als Zeichen der Aufmerksamkeit. Roland hat vollkommen recht, wenn er in mir einen Reaktionär sieht. Ist es nicht herrlich, sich ans Faktische zu halten, zu schweigen, zu lächeln?

Wieviel weiß er denn über uns?

In Liebe, Dein H.


PS: Mit Deinem Freund Barrista hat er sich komischerweise bestens verstanden; Barrista nennt Lenin und Luxemburg Terroristen, für Roland sind sie Revolutionäre. Aber in ihren» Analysen «waren sich Roland und Barrista einig und gaben die Schuld am Übel der Welt den deutschen Reaktionären, die sich immer erst selbst das erschaffen, wogegen sie dann zu Felde ziehen.

Bei Roland bin ich mir allerdings nie sicher, ob er uns nicht über den Haufen schießen würde, falls das im Namen der Revolution von ihm gefordert würde. Bei Barrista besteht da wohl keine Gefahr.


PS II: Ich habe von Mamus geträumt. Sie ist auf Kur, und ich soll die Wohnung renovieren. Es ist aber nichts vorbereitet, nicht mal die Bilder hat sie von der Wand genommen. Ich suche überall nach Bürsten, Eimern, Farben. Vergeblich. Im Keller dann finde ich die Utensilien vom Maler Neudel, die er mir beim letzten Mal zum Auswaschen gegeben hat, aber die Farbe im Topf ist steinhart, ein Rundpinsel steckt darin fest. Als ich versuche, die Schrankwand in Richtung Zimmermitte zu schieben, fällt die georgische Vase herunter. Mamus fängt sie mit einer Hand auf wie bei diesem Bierdeckel-Kunststück. Sie will wissen, was ich da mache. In dem Moment merke ich, daß ich mich getäuscht habe. Die Frau, die mir gesagt hat, ich solle renovieren, war gar nicht Mamus. Schau dich nur um, sagt Mamus und deutet mit einer sehr erhabenen Geste auf die Wände. Die Wände sind tatsächlich weiß, ganz frisch weiß. Und draußen, sie weist zum Fenster, liegt überall Schnee. Er leuchtet so grell, daß das Haus gegenüber unsichtbar wird. Mamus schickt mich vor den Spiegel, damit ich endlich merke, wie ich jetzt aussehe.

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