Montag, 12. 3. 90


Ach, Verotschka, das war zwei Stunden zu früh!91 Jetzt bezahlst Du Deine Unzeitigkeit mit Angst! Aber diese Zeilen werden wohl genauso verlorengehen wie all die anderen. Es ist so absurd!

Wenn wenigstens Georg oder Jörg den Hörer abgenommen hätte! Aber Ilona! Ein Unfall! Die Schwester! Wie herrlich! Mir sagte sie, sie habe Dich beruhigt und über alles informiert. Und wie sie Dich beruhigt haben wird! Am Ende wirst Du es für ein gnädiges Schicksal halten, daß Dein Bruder nur im Rollstuhl sitzt statt im Hades.

Mir brummt der Schädel, eine Gehirnerschütterung, mehr aber auch nicht. Was hat sie Dir über Nicoletta erzählt? Sie ist mit einer Beule davongekommen.

Wir waren, von Leipzig kommend, über Borna in Richtung Frohburg gefahren. Wir wollten zum Schwind-Pavillon.92 Schuld war eigentlich niemand. Ein Lada (ich glaube, er war weiß) überholte uns in einer Linkskurve, drängte sich wegen des Gegenverkehrs zwischen uns und das Auto vor uns, ich bremste — im selben Moment krachte die Frontscheibe, vor mir nur noch Eiskristalle93. Ich schlug mit der Hand dagegen, um wieder etwas sehen zu können, der Wagen schleuderte, und schon ging es holterdiepolter runter von der Straße — ich glaubte den zweiten Knall bereits zu hören, den Schlag zu spüren. Plötzlich Stille. Wir standen und starrten durch das große Loch in der Scheibe. Die Stille war märchenhaft.

Mir tat nichts weh, ich wäre am liebsten einfach sitzen geblieben. Wir hatten genau die Lücke zwischen den Bäumen erwischt, auf Nicolettas Seite betrug der Abstand höchstens einen halben Meter.

Das Blut bemerkte ich erst später. Nicoletta behandelte mich mit ihrem Taschentuch. Und mir, Du kennst mich ja, wurde übel. Ich kippte die Lehne zurück, schloß die Augen und überließ alles Weitere Nicoletta. Die Leute, die zu Hilfe kamen, waren mir lästig. Jemand breitete eine Decke über mich und versuchte unaufhörlich, sie auf beiden Seiten festzustecken. Ich stieß ihn weg, weil ich glaubte, mich übergeben zu müssen. In dieser Haltung studierte ich eine ganze Weile das Stückchen Erde neben dem Wagen.

Als Polizei und Krankenwagen eintrafen, waren aus der Übelkeit schlimme Kopfschmerzen geworden.

Es dauerte alles eine Ewigkeit, die Fahrt nach Borna, das Röntgen, der Befund, die Halskrause, wieder Polizei, überall Herumsitzen, dann endlich per Taxi nach Altenburg. Taxen gibt es ja plötzlich wie Sand am Meer. Robert starrte entsetzt auf meinen Apollinaire-Turban und die Halskrause. Nicoletta ist mit demselben Taxi gleich weiter zum Bahnhof gefahren.

Sie wohnt in Bamberg. Jemand wie sie kann oder will nicht glauben, daß ich das Theater freiwillig verlassen habe. Sie hat viel für die Zeitung getan,94 und da sie über De Chirico schreibt und Moritz von Schwind eines seiner Vorbilder gewesen sein soll, hatte ich ihr eine Besichtigung der Fresken in Rüdigsdorf vermittelt.

Über Barrista ein andermal. Dank seinen Stiefeln und Astrid, dem Wolf, gehört er schon zum Stadtbild. Er interessiert sich für alles und jeden und starrt den Frauen mit seinen Glupschaugen auf den Busen. Aber das» von «vor dem Namen, die Erbprinz-Mission und nicht zuletzt seine höfliche Aufmerksamkeit, zu der auch ein phänomenales Namensgedächtnis gehört, verfehlen nie ihre Wirkung. Gehört er in die Reihe Deiner unglücklichen Verehrer?

Ach, Verotschka, Liebste, wie lange noch dieses Warten?

Es küßt Dich

Dein Heinrich mit der Halskrause95

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