Sonnabend, 5. 5. 90

Liebe Nicoletta!

Im nachhinein wirkt die Affäre mit Nadja durchschaubar. Damals wunderte ich mich, daß eine Frau wie sie sich mir in die Arme warf. Nadja war Veras große Liebe gewesen. Anfang 81 hatte ihre Mutter einen schwulen Schweizer geheiratet, und im Mai waren sie ausgereist.

Vera hatte sich nur langsam davon erholt. Bis heute vermeiden wir es, Nadja zu erwähnen. Nadja hieß eigentlich Sabine, aber wegen Veras Begeisterung für Breton nannten sie bald alle Nadja.

Bei den wenigen mir damals zugestandenen Besuchen hatte Vera Nadja und mich wie Kinder behandelt, uns Welpen genannt und mich jedesmal bald wieder fortgeschickt. Von Nadja wußte ich nur, daß verheiratete Exemplare meines Geschlechts — Vera brachte damals das Wort» Mann «nicht über die Lippen — vor ihrer Tür kampiert hätten, wobei es zu Prügeleien um die Sechzehnjährige gekommen sei.

Am 23. März 1985 nachmittags gegen drei Uhr traf ich Nadja auf dem Treppenabsatz unter Veras Wohnung wieder. Zuerst erkannte ich sie nicht, weil sie einen Hut aufhatte und heulte. Gekleidet war sie wie früher. Ihr neuer Dialekt verwirrte mich.

Vera hatte ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen, Nadja war hartnäckig geblieben und hatte versucht, mit Vera zu reden. Und dann war ich aufgetaucht. Wie vom Himmel gefallen hätte ich plötzlich vor ihr gestanden … Ich weiß nicht, wie oft wir uns das in den folgenden Monaten erzählt haben. Sie habe sofort gewußt: Das ist er! Den will ich!

Ich war mit Vera verabredet gewesen, aber Nadja einfach stehenzulassen brachte ich nicht über mich. Nadja fragte, ob ich sie auf ihrem alten Schulweg begleiten wolle, und erzählte, wie oft sie versucht habe, nach Dresden zu kommen. Wir gingen dann weiter zum Rosengarten und zur Elbe, liefen am Ufer entlang und überquerten das Blaue Wunder, ohne daß Nadjas Redefluß je gestockt oder sie den Arm aus meinem genommen hätte. Auf dem Rückweg über die Elbwiesen dämmerte es schon.

Mein Part beschränkte sich aufs Zuhören, während sie über Geld, Arbeit, Studium und ihre Wohnung in Salzburg sprach, wohin es sie vor einem Jahr verschlagen hatte. Österreich gefalle ihr besser als die Schweiz. Nadja schien mir nicht sonderlich zufrieden mit ihrem Leben zu sein, doch meine Frage, warum sie denn nicht ihre Arbeit oder ihr Studium wechsle, beantwortete sie mit einer abrupten Kopfbewegung und einem geradezu empörten» Wieso denn?«.

Vielleicht wäre unsere Begegnung damit beendet gewesen, aber der Sonnenuntergang und die Silhouette der Altstadt, auf die wir zuliefen, verliehen unserem Schweigen Bedeutung.

Im» Secundo genitur «auf der Brühlschen Terrasse kannte Nadja einen Kellner. So hatten wir einen ganzen Tisch für uns. Nadja fragte, ob ich denn immer noch schriebe. Ich erzählte ihr von meinem Armeebuch, verschwieg jedoch, in zwei Tagen nach Seeligenstädt ins Armeelager zu müssen. Jeder DDR-Student, wenn er nicht ausgemustert war, hatte diese fünf Wochen zu absolvieren.

Ich brachte Nadja zur Straßenbahnhaltestelle — sie wohnte bei einer Freundin in Dresden-Laubegast. Wir sagten einander Lebewohl, denn wir konnten uns auf unser Gespür für dramatische Steigerungen verlassen. Schließlich gab es nicht so viele Züge, die nachmittags nach München fuhren.

Nadja war eine Silhouette mit Hut unter dem Bogen des Bahnhofsdaches — von draußen blendete die Sonne. Als sie dann in ihrem dunkelbraunen Kostüm auf mich zugerannt kam, mir um den Hals fiel und flüsterte» Ich hab’s gewußt, ich hab’s ja gewußt«, war ich mir sicher, sie zu lieben. Wie sonst war es zu erklären, daß mir die Demütigung, die ich durch diesen Abschied erfuhr — die Demütigung, nicht zu Nadja in den Zug steigen zu dürfen —, die Tränen in die Augen trieb?

Meine Mutter empfing mich mit Vorwürfen. Ich hatte den Friseurtermin bei einer Nachbarin versäumt. Nun griff sie selbst zur Schere, rasierte meinen Nacken aus und stellte mir die gepackte Tasche vor die Füße.

Der Zug nach Jena war überfüllt. Mir war es recht. Ich wollte nicht lesen, ich brauchte keine Ruhe. Alles, was ich wollte, trug ich in mir. Endlich hatte ich Zeit, die Szenen mit Nadja zu entwickeln199 und Details zu entdecken.

Nadja hatte mich beim Flüstern an den Ohrläppchen gezogen. Ich spürte wieder ihren Atem, ich spürte ihre Fingerkuppen in meinem Nacken, auf meiner Wange. Ich spürte die Kraft ihrer Arme, ich spürte ihre Brüste, ihre Lippen.

Das letzte, was Nadja aus meinem Mund gehört hatte, war» Gute Reise!«. Mir wurde heiß, so schämte ich mich dafür. Und sie? Was hatte sie gesagt? Wir hielten uns an den Händen, ich lief neben dem anfahrenden Zug her. Je schneller ich rannte, um so übermütiger lachte sie, um so weiter lehnte sie sich heraus, bis sie zurückschrak, als wäre das Ende des Bahnsteigs ein unerwarteter Schicksalsschlag. Der Schrecken hatte sich in ihrem Gesicht gehalten, bis nur noch ihr wirbelndes Haar zu sehen gewesen war. Schließlich der Moment, da ich mich umdrehte und über den leeren Bahnsteig ging.

Ich weiß weder, ob wir von Jena aus auf LKWs oder per Zug nach Seeligenstädt verfrachtet wurden, noch, wer uns beaufsichtigte und in Kompanien einteilte. Allein das immer wieder neu explodierende Lachen, das jeder Neuankömmling auf dem bis zum Morgen währenden Besäufnis auslöste — als wären die kurzen Haare eine originelle Kostümierung —, dringt aus diesem Dunst. Ich trank aus jeder Flasche, die mir angeboten wurde.

Meine Erinnerung beginnt erst wieder mit einer Geste, die Bewegung der rechten Hand, die das Koppelschloß löst und das herabfallende Ende an der Öse auffängt, während die Linke das Käppi vom Kopf nimmt. Diese Geste hatte ich mit solcher Selbstverständlichkeit ausgeführt, daß ich erschrak, als würde mich jemand nachäffen.

Die Menge der kurzgeschorenen Uniformierten irritierte mich. Es reichte eine bestimmte Gangart oder Mundbewegung aus, und schon grüßte ich einen vermeintlichen Bekannten aus Oranienburg. Am zweiten Tag war ich davon überzeugt, Nikolai komme direkt auf mich zu. Als ich meinen Irrtum bemerkte, hatte ich bereits seinen Namen gerufen. Die vertrauten Gesichter hingegen erkannte ich nicht wieder. Anton, mein Kommilitone und Freund, stolperte unter seinem Stahlhelm derart blind und apathisch umher, daß wir einander erst nach Tagen fanden.

Sobald es ein paar freie Minuten gab, lag ich auf dem Bett, als könnte ich nur dort wirklich an Nadja denken.

Bereits nach Stunden war mir klar gewesen, daß ich mich geirrt hatte, daß es in Seeligenstädt nichts zu holen gab. Was sich um mich herum abspielte, paßte weder in mein Armeebuch, noch schien es geeignet, in Briefen mitgeteilt zu werden. Diese beflissene Unterwürfigkeit überdurchschnittlich intelligenter Menschen war abgrundtief beschämend.200 Und ich gehörte dazu.

Die Jenenser Sportstudenten und die Studenten aus Ilmenau, aus denen meine Gruppe bestand, feuerten sich gegenseitig auf der Sturmbahn an und wollten mir nach Dienstschluß beibringen, die Eskaladierwand im Sprung zu bezwingen. Sie spielten Stubendurchgang, korrigierten einander beim» Päckchenbau«(wie lege ich meine Unterwäsche zusammen), waren neidisch, wenn andere mehr Platzpatronen erhielten, und traten beim Marschieren dem Vordermann aus erzieherischen Gründen auf die Hacken. Da war kein Sand mehr im Getriebe, keine Trunkenheit oder Unordnung, keine Verspätung oder Maulerei. In Seeligenstädt mußte nichts mehr befohlen werden, da reichte ein Wink, und die Meute parierte.

Seeligenstädt paßte nicht zu den Erfahrungen, die ich während des Grundwehrdienstes gemacht hatte und hier machen wollte. Die Fronten waren verschwunden.

Ich schrumpfte, irgend etwas brach in mir zusammen. Im Politunterricht schwieg ich und war froh, daß wir bei den Märschen zum Übungsgelände den Stahlhelm am Koppel tragen durften — ein Privileg der Unteroffiziere.

Nadjas Briefe erreichten mich nach zweieinhalb Wochen über meine Mutter. Nadja hatte bei ihr angerufen.

Als am nächsten Morgen der Weckpfiff kam, viele schliefen in Sportsachen, um pünktlich auf dem Gang zu stehen, blieb ich liegen und trat zu, als mir jemand die Bettdecke wegriß.

Statt zum Frühsport schlich ich zum Regimentszahnarzt, klagte über Schmerzen unter einer Plombe — und wurde tatsächlich nach Ronneburg geschickt. Der Zahnarzt dort ließ mich erst gar nicht warten, drückte seinen Stempel auf die Überweisung und wünschte mir einen schönen Tag. Plötzlich hatte ich schulfrei und schritt so leicht dahin, als hätte man mir gerade einen Gips vom Fuß geschnitten. Ich durchforstete die Buchhandlung, legte mich vor einer alten Friedhofsmauer ins Gras und genoß die vollkommene Ruhe. Als es zwölf schlug, ging ich Mittag essen, trank Bier und sonnte mich dann wieder.

Es war gegen drei, als ich eine Telephonzelle betrat und zum ersten Mal das samtene, tiefe Rufzeichen von Nadjas Apparat hörte, das mir in den kommenden Monaten so vertraut werden sollte. Niemand hob ab.

Bevor ich, mein Buchpaket unterm Arm, in den Bus stieg, versuchte ich es kurz vor fünf noch ein letztes Mal, wieder vergeblich.

Im Triumphgefühl über den gewonnenen Tag verfaßte ich meinen ersten Brief. In Großbuchstaben schrieb ich ÖSTERREICH und SALZBURG auf das Kuvert, als wäre das die Parole, die mir Immunität garantierte.

Am nächsten Morgen machte ich wieder mit. Hatte ich es bisher geschafft, dem Befehlegeben zu entgehen, kam ich diesmal um die» Zielansprachen«201 nicht herum. Ich meldete fliegende Essenskübel unbekannten Inhalts in der Vorwärtsbewegung, schweren Beschuß durch zu kurz treffende Gulaschkanonen aus den eigenen Reihen und befahl Rückzug. Ich weiß, auch das ist erbärmlich, damals jedoch hielt ich mir meinen Lacherfolg zugute. Der Leutnant, ein Ilmenauer Kommilitone202, beorderte uns zurück und ließ mich die Zielansprache wiederholen.

Auch die zweite, ja selbst noch meine dritte Zielansprache ernteten Lachen. Danach aber wollten alle, ausnahmslos alle, daß ich richtige Befehle erteilte. Die anderen Gruppen warteten bereits abmarschbereit. Nun hatten sie mich dort, wo sie mich wollten. Diese Demütigung war noch schlimmer, als am Ersten Mai an der Tribüne vorüberzuziehen. Am Nachmittag fand ich eine Ausgangskarte auf meinem Bett.

Ich kümmerte mich um Kleingeld und belagerte ab acht eine funktionierende Telephonzelle.

Es war schon nach zehn, als sich Nadja endlich meldete. Ich hatte geglaubt, sie wisse durch meine Mutter, wo ich sei, und könne sich vorstellen, unter welchen Umständen ich diese Wochen verbrachte. Sie aber schien nur glücklich, mich endlich zu hören, nannte Namen, Freunde, die mich kennenlernen wollten. Sie wünsche sich ein Photo von mir, und Briefe, viele Briefe.

Ich mußte ihr erklären, wo ich war und was ich hier tat, und je länger ich sprach, um so spürbarer wurde ihr Schweigen, ein Schweigen, das mich zwang, mehr und mehr vom hiesigen Alltag preiszugeben. Ich hoffte schon, die Verbindung wäre unterbrochen, da herrschte mich Nadja an: Warum fährst du denn in so ein Lager?

Statt zu antworten, begann ich, von meinen Zielansprachen zu berichten und wie ich meine Gruppe damit geradezu in einen Lachtaumel versetzt und mir immer neue Szenarien ausgedacht hatte …»Mach dich doch nicht lächerlich!«rief Nadja.

Im selben Augenblick wurde ich ganz ruhig. Der Kampf war vorbei, ich hatte verloren, alles Weitere ging mich nichts mehr an.

«Das lohnt doch nicht«, hörte ich Nadja dann sagen. Sie kenne eine schöne Pension in Prag, wann ich denn komme, sie sehne sich so nach mir …


Mein Armeebuch war zu einem blinden Fleck geworden. Ich wußte nicht, wann ich mich jemals wieder an die Arbeit machen würde. Wenn ich nach Dienstschluß nicht auf dem Bett lag, spielte ich Schach. Ich war ein beliebter Gegner, weil ich meistens verlor.

Am Ende der fünf Wochen, am vorletzten Tag, hatten wir noch einmal Politunterricht. Ich weiß die Frage nicht mehr und auch nicht meine Antwort, auf die es keinerlei Reaktionen gab. Wahrscheinlich ging es ums Wettrüsten.

Vor der letzten Stunde, sie galt als Prüfung, wurden Zensuren verkündet. Mit Gesamtnote» vier«— im ersten Seminar war mein Schweigen noch mit einer Zwei belohnt worden — war ich der Schlechteste.

Kaum hatte der Leutnant, ein in sich gekehrter Informatikstudent, sein Urteil verkündet, als ein» Sturm der Entrüstung «losbrach, ein Hohngelächter voller Zwischenrufe. Gorbatschow war seit ein paar Wochen im Amt.

In der Pause wurde ich zu einem Offizier gerufen, einem Hauptmann, im zivilen Leben Dozent für Werkstoffkunde, der meinen Vornamen kannte, mich duzte und all das tat, was er unter» ins Gewissen reden «verstand. Ich solle mir meine Laufbahn nicht durch läppische Dummheiten verderben. Er nannte mich naiv, unterstellte mir eine» Mit dem Kopf durch die Wand«-Mentalität. Ich müsse Kompromisse eingehen und so weiter. Ich erwiderte in der Manier eines Simpels, nur meine Meinung gesagt zu haben, wie es doch immer von uns erwartet werde.

«Das ist es nicht wert, Enrico«, rief er,»wirklich nicht. «Die Resignation zog seine Stimme in vertrauenerweckende Tiefen. Ich ließ ihn reden und betrachtete das dünne Lächeln des Honecker-Porträts vor blauem Hintergrund. Von einem Augenblick auf den anderen war ich kein Schiffbrüchiger mehr, sondern wieder der Kapitän, der einzige Aufrechte, der sich nicht von der allgemeinen Verkommenheit anstecken ließ.

Die Frage des armen Leutnants, wo ich denn gewesen sei — ich war verspätet in den» Seminarraum «zurückgekehrt —, beantwortete ich mit einem schnippischen» Na, wo schon«, was ich für einen starken Auftakt hielt.

In einer Stunde konnte ich bereits exmatrikuliert sein. Dieser unglückselige Leutnant, dieses Werkzeug des Schicksals, wußte ja selbst nicht ein noch aus — dafür sprachen zumindest die roten Flecken an seinem Hals —, aber auf wundersame Weise hielt er sich weiter an seine Vorgaben. Und deshalb würde er mich in wenigen Minuten bis an sein Lebensende auf dem Gewissen haben.

Frage um Frage ließ ich passieren, ohne mich zu melden. Doch während ich lauernd verharrte, geschah etwas, was Sie rührend oder fürchterlich nennen können: Meine Schachspieler ließen mir über Bänke hinweg Zettel mit den» richtigen Antworten «zukommen. Einer nach dem anderen stand auf und antwortete, mancher erhielt zwei oder gar drei Chancen.

Als ich mich endlich meldete, verschwanden die anderen Arme. Man wies den armen Leutnant auf mich hin. Aber nicht ich, mein Nachbar wurde aufgerufen.

Bevor ich mich überhaupt wieder melden konnte, hörte ich meinen Nachnamen, in meinem Kopf Trommelwirbel. Ich bat den armen Leutnant, die Frage zu wiederholen.

Ich antwortete zögernd, ganz so, als müßte ich mich überwinden und zur Wahrheit durchringen, fügte aber diesmal Adjektive wie» dumm «und» menschenverachtend «ein. Ich hoffe, sagte ich zum Schluß, mich diesmal klar ausgedrückt zu haben. Der Stille im Raum und der Miene des Leutnants entnahm ich, daß die Sache gelaufen war.

Alle» bestanden «die Prüfung. Der Leutnant verkündete es am Ende der Stunde beiläufig und verließ grußlos den Raum. Mich feierten sie als Sieger, klopften mir wild auf Schulter und Rücken und hielten meine Versteinerung für fassungsloses Glück.»Ich hab nie geglaubt«, bekannte der Sportler aus dem Bett unter mir feierlich und musterte mich von Kopf bis Fuß,»daß du von der Firma bist!«203

Am Abend eines Tages, der noch mit Weckpfiff und Frühsport begonnen hatte, schloß ich in Prag eine wunderschöne Frau aus Salzburg in die Arme.

Ich hatte Nadja im einfahrenden Bummelzug erspäht (wenn ich mich richtig erinnere, kam sie von Linz) und stand vor ihr, als sie ihren Fuß auf den Bahnsteig setzte. Sie schob mich zurück, ließ Plastetüten und Koffer fallen und schlang die Arme um meinen Hals. Über ihre Schulter sah ich wie aus einem Versteck den Aussteigenden zu.

«Laß dich anschauen«, rief Nadja, als sei ihr endlich der richtige Satz eingefallen. Sie trug dasselbe braune Kostüm wie beim Abschied in Dresden. Plötzlich preßte sie ihren Mund auf meinen, ihre Zunge drang weit vor.

Die Pension, zu der wir im Taxi fuhren, lag im Villenviertel» Vinohrady«. Es war alles etwas heruntergekommen, doch weder der marode Zaun noch das rostzerfressene Gartentor, an dessen Maschendraht die Briefkästen baumelten, konnten das Herrschaftliche des Hauses schmälern. Wir gingen zwischen Tulpenbeeten und Obstbäumen, von deren Duft die Luft schwer war, zur Haustür, in der uns Frau Zoubková erwartete. Sie hielt Dora am Halsband, eine Hündin, schwarz wie die Hölle und sterbensmüde. In ihren Filzlatschen erweckte Frau Zoubková den Eindruck, sie bewege sich nur deshalb den ganzen Tag, um auf diese Weise das Linoleum zu polieren. Meistens ging sie dicht an den Wänden entlang, und erst wenn einer ihrer Gäste vom Küchentisch auf geradem Wege zur Tür hinaus war, folgte sie und verwischte die Fährte.

Frau Zoubková bewohnte im ersten Stock zwei Zimmer neben der Küche und vermietete die drei oberen Gemächer, die durch Symbole an den Türen als Sonnen-, Stern- und Mondzimmer ausgewiesen waren.

Muß ich noch sagen, daß wir das Sonnenzimmer bekamen? Die hohen Fenster lagen nach Süden, wo wir hinter den weißen Baumkuppen die Stadt mehr ahnten als sahen. Das Plätschern des Springbrunnens und Vogelgezwitscher waren die einzigen Geräusche.

Von den Früchten, die wir spätabends unter den traurigen Blicken von Dora wuschen, wußte ich oft nicht mal die Namen. Noch erstaunlicher: Weintrauben Ende April! Wie Lebkuchen zu Ostern. Nadja gefielen solche Vergleiche. Sie ließ mich jede Frucht kosten, und ich mußte sagen, wie sie schmeckte und woran sie mich erinnerte. Dabei sah ich auf Nadjas nasse, vom kalten Wasser geröteten Hände, die schälten und schnitten und mir unentwegt etwas in den Mund schoben, so daß ich mit Kauen und Sprechen nicht nachkam, worüber sie lachte, und je mehr sie lachte, desto schneller bewegten sich ihre Finger, desto belebter war das Spiel der Sehnen auf ihrem Handrücken … Plötzlich hielt ich ihre Unterarme fest, nicht um Nadja Einhalt zu gebieten, sondern weil alles so unfaßbar schön war.

Ich leckte einen Tropfen von ihrem Handteller, fuhr ein zweites Mal, wie um sicherzugehen, daß ich auch alles erwischt hatte, mit der Zunge von ihrem Handgelenk hinauf die Lebenslinie entlang und glaubte, in dieser herben Süße eine Pampelmuse zu schmecken. Wie Wimpel leuchteten die Fruchtreste an Nadjas Nägeln, grün, rot, weiß. Fingerkuppe um Fingerkuppe schob sie mir in den Mund und berührte meine Zähne. Wie eine Blinde tastete sie über mein Gesicht, fuhr meine Nase auf und ab, zeichnete Augenbrauen und Lippen nach, während ich ihre Bluse öffnete und ihr Hemd nach oben schob.

Beim Knarren der Holztreppe erstarrten wir, lauschten — Wasser rann auf die Fliesen. Das Waschbecken lief über! Nadja drehte den Hahn zu, tauchte die Hände ins Wasser, holte die Schalen aus dem Abfluß, drehte sich langsam zu mir, hob die Arme und streckte sich, wie um ihre Brüste zu zeigen. Ich wollte sie gerade küssen, als mir etwas auf den Kopf tropfte. Nadja hielt noch die Fruchtschalen in Händen. Dora, der Höllenhund, schlabberte das Wasser vom Boden.

Halbnackt hantierten wir dann nebeneinander wie Fremde, wir mußten aufräumen, abspülen, zusammenpacken, vor der Toilette aufeinander warten und über die endlose Holztreppe nach oben steigen.

Ich sah Nadjas Silhouette vor dem Fenster. Sie hatte ihren Slip anbehalten. Es klang wie ein Geständnis, als sie mir ins Ohr flüsterte, daß sie ihre Tage habe und wir heute nicht könnten … Ich verstand nicht, warum das eine das andere ausschloß, war aber, wie ich gestehen muß, auch erleichtert.

Wie überflüssig meine Bedenken gewesen waren, spürte ich schnell. Nadja verstand sich darauf, mir das Gefühl zu geben, selbst der Erfinder all dieser unbekannten Liebkosungen zu sein.

Dann, es war schon gegen Morgen, gab es einen Moment, in dem ich fürchtete, alles Glück verdorben zu haben. Nachdem Nadjas Kopf wieder auf meine Schulter zurückgekehrt war, sagte ich unwillkürlich» danke«, so unglaublich fand ich, was sie getan hatte. Noch in dem Augenblick, da ich es aussprach, spürte ich ihre Reglosigkeit, ich wußte, wie falsch, wie dumm das gewesen war. Ihr Gesicht erschien über mir, sie stützte den Kopf auf die Hand, sah mich an, lächelte und fragte, die wievielte Frau sie denn für mich sei. Ich zögerte. Los, sagte sie. Ich hob meine Linke und spreizte Daumen und Zeigefinger ab.

Nadja sagte, ich solle ihr nichts vormachen. Dann amüsierte sie sich über mich, machte mir aber plötzlich Vorhaltungen, nicht auf sie gewartet zu haben. Als ich mich weigerte, ihr von Katalin zu erzählen, wurde sie sogar ungehalten.

Beim Frühstück legte sich Dora zwischen unsere Stühle. Frau Zoubková nickte uns vielsagend zu. Sollten wir Spuren in der Küche hinterlassen haben, so waren diese längst verwischt.

Traumwandlerisch fanden Nadja und ich die schönsten Flekken der Stadt, fuhren mit der Bahn hinauf zum Petřin, stiegen auf halber Höhe aus, gingen durch die Gischt der blühenden Kirschbäume und legten uns ins Gras.

Nahe der Moldau, nur wenige hundert Meter von der Karlsbrücke entfernt, betraten wir durch einen Torbogen unversehens einen verwunschenen Park, an dessen Ende wir über breite Stufen zu einer Terrasse aus braunem Sandstein emporstiegen, auf der eine Rotbuche stand. Ich wollte gerade die Blätter, die ich von weitem für verwelkt gehalten hatte, berühren, als es hinter uns rauschte. Wir fuhren herum und sahen zwei Pfauen, die gleichzeitig ihr Rad schlugen.

Als ich Nadja zum Zug brachte, von ihrem Gepäck war nur ein Köfferchen übriggeblieben, sprachen wir kaum miteinander. Schweigend durchquerten wir den Bahnhof. Auf dem Bahnsteig, ihr Zug mußte jeden Moment einfahren, sagte Nadja, daß ich ihr das nächste Mal von meinem Manuskript erzählen müsse, sie wolle alles darüber wissen, denn schließlich stünde es ja jetzt ihr zu, mein Werk in den Westen zu schmuggeln. Wenn mir noch etwas zu meinem Glück gefehlt hatte, dann war es dieser Satz gewesen.

Zurück in Jena, stellte sich bereits mit dem ersten Satz, den ich Nadja schrieb, ein Tonfall ein, in dem ich ohne Konzept, ja eigentlich ohne wirklich nachzudenken, loslegen konnte. Während ich die Blätter zusammenfaltete, formulierte ich schon den Beginn für Brief Nummer 2.

Täglich, nun auf der Maschine, schrieb ich an Nadja und war überrascht, daß mein Alltag keineswegs so unliterarisch war, wie ich gedacht hatte.

Nach ihrer ersten Antwort — die hellblauen Kuverts trudelten alle vier, fünf Tage ein —, in der sie meinen Brief als» wunderbare Prosa «bezeichnet hatte, legte ich Blaupapier zwischen die Blätter.

Ich hatte zu spät begonnen, für die bevorstehende Dreierprüfung zu lernen: Literatur, Kunst und Geschichte Roms, dazu die Sprachen, eine Prüfung zum deutschen Drama des 18. Jahrhunderts und Politische Ökonomie (oder war es dialektischer Materialismus?). Für» Vivat Polska!«blieb keine Zeit, wollte ich nicht mein Briefkontinuum zerstören — die Tage nachträglich zu referieren hätte den Ton verdorben. So bestand meine Arbeit am Roman allein darin, Nadja von meinen Fortschritten zu berichten. Regelmäßig meldete ich den Abschluß eines Kapitels.

Kommt Ihnen das nicht komisch vor? Bemerken Sie, daß ich mich, nach allem, was Sie von mir wissen, völlig untypisch verhielt? Warum warf ich gerade in jenen Tagen mein Manuskript in die Ecke? Ja, die Liebe, werden Sie vielleicht sagen, ja, die Liebe war schuld! Ja, ich liebte Nadja. Aber auch die Liebe muß einem ja irgendwie in den Kram passen.

Ich weiß nicht mehr, welcher Brief es gewesen ist. Doch die Überzeugung, an einem Briefroman zu schreiben, besaß ich schon nach wenigen Tagen. Und sie war übermächtig! Gelängen die Briefe an Nadja, so mein Kalkül, entstünde das Werk von allein.204

Ich fand mich in einer ähnlichen Situation wie in Oranienburg wieder. Alles, was ich sah und tat, wurde literarisches Material. Jeder Brief entwickelte sich, ohne daß ich es beabsichtigte, zu einer Art Erzählung. Ich war überrascht, wie sich selbst weit auseinanderliegende Ereignisse unversehens miteinander verflochten, als wären sie Teil eines kompositorischen Plans. Sobald ich den Deckel von der» Rheinmetall «abnahm, geriet ich ins Erzählen. Ich mußte kaum nachbessern, denn ich ergänzte das Erlebte mit größter Selbstverständlichkeit, geradezu automatisch. Wenn man weiß, wohin die Roulettekugel rollt, setzt man natürlich auf die richtige Zahl.

Ich liebte Nadja, ich liebte Jena, ich liebte mein Leben, und alle sahen, wie mich die Liebe veränderte. Nur Vera schwieg.

Nadja und ich trafen uns alle zwei oder drei Wochen in Prag, Brno oder Bratislava, manchmal nur für Stunden. Am Telephon hatten wir einen Geheimkode entwickelt, in dem wir uns selbst verfingen. Bei unserem dritten Treffen — mitten in den Prüfungen — wartete ich in Bratislava, weil Nadja für eine Woche ihre Mutter, die mittlerweile in Wien lebte, besuchte. Ihr Zug sollte kurz nach meinem eintreffen. Als eine Stunde Verspätung angezeigt wurde, nahm ich ein Taxi, fragte nach einem Hotel und bezahlte eine Nacht im Voraus mit zweihundert Mark, was meinem gesamten Monatsstipendium entsprach.205 Als ich zum Bahnhof zurückkehrte, betrug die Verspätung bereits zwei Stunden. Die Abkürzung für Wien Südbahnhof, die sich hartnäckig auf der Anzeige hielt, während alle anderen Städtenamen wechselten, wurde mir in jener Nacht zum Fluch. Seither weiß ich auch, daß nástupiště Bahnsteig heißt und příjerdy vlaků Ankunft der Züge. Ich entwickelte hilflose Rachegelüste und überlegte mir böse Kommentare zu dem Wandgemälde im Bahnhof, Kommentare, mit denen ich vor Nadja glänzen wollte — über den Köpfen aller friedliebenden Menschen der Erde spießte der Sputnik gerade die Friedenstaube auf. Nach zwei Stunden empfand ich nur noch blanken Haß und wünschte nichts weiter, als daß die drei finsteren Typen, die sich links aus dem Bild stahlen, umkehrten, um mit ihren Maschinenpistolen all diese zukunftsfrohen sozialistischen Visagen, vom blonden Stahlarbeiter bis zur schwarzen Mutter, über den Haufen zu ballern. Nach fünf Stunden flehte ich zu diesem gräßlichen Olymp, er möge endlich Erbarmen mit uns haben. Fünf geraubte Stunden bedeuteten ein Viertel unserer Zeit, einen verlorenen Abend, eine halbe Nacht.

Endlich, nach Mitternacht, traf der Wiener Zug ein, aber ohne Nadja. Im Hotel standen mir noch die Tränen in den Augen, als ich um Rückgabe des Geldes bettelte. Man hatte Erbarmen mit mir. Ich nahm meine Tasche und stieg in den nächsten Zug, der nach Brno fuhr. Zwischen zwei und drei Uhr morgens suchte ich den dortigen Bahnhof nach Nadja ab und sprang, alarmiert von der Vorstellung, sie könnte an der Grenze festgehalten worden sein und mit dem nächsten Zug kommen, in einen schon anfahrenden Zug zurück nach Bratislava. Ich hatte Glück, daß ich nicht kontrolliert wurde. Wieder in Bratislava, rief ich ihre Mutter an, die, obwohl ich sie aus dem Schlaf riß, mit tiefer Stimme» Ach, mein Junge «sagte und mir dann die Nummer des Hotels» Jakub «in Brno diktierte.

Im Hotel» Jakub «war unsere Geschichte bereits bekannt. Eine Kellnerin schritt uns voran in den Frühstücksraum und bewirkte mit einer Geste, als wäre ihr ein Zauberstück gelungen, mächtigen Applaus für das glückliche Ende unserer Irrfahrt.206 War das nicht der Stoff, aus dem Romane gemacht werden? Mit Nadjas wenigen Schillingen spielten wir westliches Paar. Jede Kellnerin, jeder Museumswärter wurde in ein Gespräch verwickelt und ins Vertrauen gezogen, in jeder Passantin, in jedem Tischnachbarn fanden wir unser Publikum.

Einmal, es war in Prag, hat mich Nadja sehr verunsichert.

Ich wäre wohl auf die Kippah getreten, hätte sich nicht Nadja zuvor danach gebückt. Mit einer Spange — solche Utensilien barg ihre Handtasche — befestigte sie die Kippah in meinem Haar. Ich glaubte, Nadja sei neugierig, wie ich damit aussähe. Da es nur wenige Schritte bis zur Synagoge waren, die wir besichtigen wollten, behielt ich das Käppchen auf.

Wieder auf der Straße, vergaß ich, es abzunehmen. Nach wenigen Schritten, Nadja hatte sich bei mir eingehakt, sprach uns ein Mann an. Er fragte nach der Synagoge und starrte auf meine Kippah. Beinah hätte ich sie abgesetzt wie einen Hut.

Wieso er uns auf deutsch anspreche, fragte Nadja. Ihre Aussprache ähnelte der von Frau Zoubková, nur klang Nadja schneidend. Wieso er glaube, daß wir Deutsch verstünden, daß wir es gar sprechen wollten.

Er nickte. Mit irrlichterndem Blick und bebenden Lippen suchte er nach einer Entschuldigung. Nadja, noch immer an meinem Arm, trat einen halben Schritt vor und wies mit der flachen Hand in Richtung Synagoge:»Geraadeaus!«schnarrte sie. Er nickte erneut, lächelte auf einmal wie befreit und rief» Schalom!«.

Nadja zog mich fort. Ich wartete auf eine Reaktion von ihr, vielleicht sogar auf ein Lachen. Je länger sie schwieg, desto unruhiger wurde ich. Als ich sie ansah, blieben wir stehen. Nadja war eine Fremde, traurig und stolz, ja beinah hochmütig.

Sie wollte nicht, daß ich die Kippah abnahm. Sie stehe mir gut. Am nächsten Tag, wir sprachen von ihrer Mutter, sagte Nadja, in ihrer Familie habe es auch Juden gegeben. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Die Kippah liegt noch hier bei den Mützen und Schals.

Um die Prüfungen hatte ich mir kaum Gedanken gemacht. Ich glaubte an mein Glück und bestand jedesmal knapp. Die gutwilligen Prüfer honorierten meine Semesterarbeiten.

Die längste Zeit, die Nadja und ich je gemeinsam verbrachten, waren acht oder neun Tage im August.

Wir hatten uns im Isargebirge bei einer Slowakin eingemietet. Im Treppenhaus hing ein Photo von J. F. Kennedy im Silberrahmen.

Nadja schien gewillt, Klarheit zu schaffen. Schon auf der ersten Wanderung zum Fernsehturm von Liberec fragte sie, wie es mit uns weitergehen solle. Ich sagte, daß ich mein Buch (an dem ich seit Monaten nicht mehr gearbeitet hatte) zu Ende schreiben wolle. Dann, wenn das wirklich ihr Wunsch sei, könne ich den Ausreiseantrag stellen. Das Wort Ausreiseantrag nahm kein Ende. Es zerfiel mir im Mund wie muffiges Konfekt. Nadja fragte, ob das denn wirklich mein Wunsch sei. Ja, sagte ich. Sie sagte, daß sie mich heiraten würde. Ich sagte, das wäre das einfachste.

Wir liefen durch den abgestorbenen Wald207 und merkten zu spät, daß wir auf einen verblichenen Wegweiser hereingefallen waren, der die verbliebene Distanz statt mit neunzehn nur mit neun Kilometern angegeben hatte.

Im Restaurant des Fernsehturms mußte ich zweimal ansetzen, um pivo208 zu bestellen, so ausgetrocknet war meine Kehle.

Eine Kleinbahn sollte uns, nach dem Plan unserer Wirtin, ins Dorf zurückbringen, aber in Liberec wußte niemand etwas von einer Kleinbahn. Es blieb uns nur der Fußmarsch über den Kamm, die Dämmerung im Rücken. Nie werde ich diese Minuten auf der kahlen Höhe vergessen, das Licht der Abendsonne, die den Weg wie im Theater ausleuchtete, während die Dunkelheit die Berghänge heraufkroch; die Luft war klar, der Horizont ringsherum unendlich weit. Das einzige Geräusch waren unsere Schritte. Als mich Nadja plötzlich umarmte, spürte ich ihren hastigen Herzschlag. Wir hielten uns umschlungen und sahen über die Bergkuppen, als könnten wir in dieses Bild auswandern.

Es folgten drei Tage Regen, und als es auch am vierten Tag dunkel blieb, machten wir uns auf den Weg nach Dresden. Wortlos schloß Frau Krátká hinter uns die Haustür.

Damit Sie Nadja und mich verstehen, muß ich Ihnen noch etwas offenbaren, das mich zunehmend verstörte. Nach außen ein ideales Paar, waren wir doch nie eins geworden.

Anfangs hatte es immer einen Grund gegeben: Nadjas Angst, schwanger zu werden, die Pille wollte sie nicht nehmen. Dann wieder hatte ich keine Kondome dabei, oder wir waren von unseren Eskapaden zu erschöpft. Ich will Sie nicht mit weiteren, mir unangenehmen Details behelligen. Sobald wir die Tür hinter uns schlossen, befiel uns neuerdings eine unerklärliche Scheu.

Über Vera schwiegen wir lange. Seit ich mit Nadja vor Veras Tür umgekehrt war, hatte ich meine Schwester nicht mehr gesehen. Deshalb konnte ich Nadjas Nachfragen mit einem Schulterzucken abtun. Aber Nadja ließ nicht locker. Ich wurde eifersüchtig auf Vera. Zudem deutete Nadja an, daß sie in Dinge eingeweiht war, die Vera und ich geheimzuhalten geschworen hatten.209

Von der gemeinsamen Zukunft mit Nadja entwickelte ich klare Vorstellungen. In Salzburg wollte ich mich als Taxifahrer durchschlagen und in der verbleibenden Zeit schreiben. Sobald aber mein Buch erschienen wäre, brauchte Nadja nicht mehr zu arbeiten und könnte sich ganz auf ihr Studium konzentrieren. Und an den Wochenenden würden wir immer etwas unternehmen, wandern, flanieren oder reisen, nach München, Wien oder Italien.

Ich steigerte mich in dieses neue Kapitel hinein und wußte, daß meine Augen am Ende jedes Monologes glänzten. Nadja schwieg um so beharrlicher, je mehr Vorschläge ich vor ihr aufhäufte.

Ich fürchte, sie war ebenso erleichtert wie ich, als wir endlich zum Bahnhof aufbrechen konnten. Doch schon in der Straßenbahn überfiel mich eine große Wehmut und eine ungeheuerliche Angst, Nadja zu verlieren. Ich sagte ihr, daß ich alles dafür gäbe, um die vergangenen Tage wiederholen zu dürfen, selbst wenn sie um nichts von dem Erlebten abweichen würden. Sie umarmte mich, und wir hielten einander fest wie auf dem Bergkamm.

Bisher war es mir nie schwergefallen, nach unseren Treffen zu den Briefen zurückzukehren, ganz im Gegenteil. Diesmal verzweifelte ich daran, riß Blatt um Blatt wieder aus der Maschine und legte mich schließlich ins Bett, ohne zu wissen, wie es weitergehen sollte. Als ich erwachte, war ich überzeugt, Nadja in dieser Nacht verloren zu haben.

Von da an versuchte ich nur noch, mich als Briefschreiber so lange wie irgend möglich zu behaupten. Eher fürchtete ich eine Antwort, als daß ich sie erwartet hätte. Auf Anrufe verzichtete ich fast gänzlich, nachdem Nadja auf die Frage, ob sie denn meine Briefe erhalten und was sie in letzter Zeit so gemacht habe, erwidert hatte: Geschuftet, immer nur geschuftet.

«Was soll ich denn tun?«antwortete ich. Ich sei ja zu allem bereit!

Um uns zu sehen, fehlte das Geld. Mein Sparbuch war leer, die D-Mark-Zuwendungen von Tante Camilla hatte ich aufgebraucht, Vera um Hilfe zu bitten kam nicht in Frage. Für Briefe mangelte es Nadja an Zeit. Ich akzeptierte das, und in der Folge auch alles andere. Mit Semesterbeginn gab es wieder Stoff für Briefe in Hülle und Fülle.

Bei meinem letzten Anruf in Salzburg klang Nadja plötzlich wie früher, als es schon eine unfaßbare Zärtlichkeit gewesen war, wenn sie meinen Namen geflüstert hatte.»Ich liebe dich«, schrie ich ins Telephon.»Ich dich auch«, rief sie und lachte. Noch einmal beschwor ich unsere Liebe und hörte, wie mir Nadja Küsse durchs Telephon schickte. Dann war Schluß, weil ich zuwenig Kleingeld parat hatte.

Mit dieser Pointe sollte mein Briefroman enden, falls ich nicht dereinst noch einen besseren Schluß finden würde.

In Liebe

Ihr Enrico T.

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