Pfingstmontag, 4. 6. 90

Verotschka,

jetzt muß ich Dir doch schreiben:310 Mamus war zwei Tage hier.

Am ersten Abend waren wir bei Michaela eingeladen.

Plötzlich war alles wie früher, jeder saß auf seinem Platz, und wenn Freund Barrista nicht in Hausschuhen herumgelaufen wäre, hätte man auch ihn für den Gast halten können. Mamus benahm sich, als sei nichts geschehen, und ignorierte die neue Konstellation. Robert ist ihr Enkelkind und Michaela ihre Schwiegertochter, und nun ist erfreulicherweise noch der Baron hinzugekommen. Bei allem, was er sagte, war Mamus stets seiner Meinung und lobte mehrmals die Sachlichkeit des Herrn von Barrista. Er sprach immer wieder von Dresden, und wie herrlich doch die Fahrten mit der Straßenbahn und die Stadtführung gewesen seien und wie herzlich ihre Gastfreundschaft. Das ist erst drei Wochen her!311

Neu war für Mamus, daß Michaela im Theater gekündigt hat.»Warum denn das?«rief sie. Michaela aß weiter, als hätte sie die Frage nicht gehört. Statt dessen begann ihr Baron umgehend zu dozieren. Zuerst sprach er über den Zustand der Welt und erklärte unser Heute kurzerhand zur besten Gegenwart, die es je auf dieser Erde gegeben habe (konkurrenzlos starke Demokratien und ein technologischer Fortschritt, der den Menschen mehr und mehr entlaste und ihm die Freiheit schenke, seiner eigentlichen Berufung nachzugehen). Vor uns, so der Baron, liege jetzt, da der Eiserne Vorhang gefallen sei, die Zeit der Bewegung, der Tat, hinter uns die der Kontemplation und Grübelei. Gerade nun, da sich in einer Woche mehr verändere als früher in Jahren, stehe die Kunst, egal ob in Ost oder in West, auf verlorenem Posten. Die Erfahrungen von heute werden nicht im Theater gemacht, sondern im Geschäft, auf dem Markt. Der tägliche Wandel sei in unseren Tagen nicht nur aufregender als Shakespeare, sondern auch mit Shakespeare nicht mehr zu fassen.

Im Grunde sagte er nichts anderes als das, was ich sinngemäß bereits im Januar vorgebracht hatte. Mitunter verwendete er sogar dieselben Worte. Jetzt aber nickte Michaela geradezu eifrig, und Mamus stimmte dem Baron zu und wiederholte, daß wir die Dinge jetzt sachlich sehen müßten.

Nach Tisch ließ Freund Barrista etwas in einem Schächtelchen mit Glasdeckel herumgehen. Der Anblick verhieß nichts Gutes, irgendein vertrocknetes Etwas in einer Art Mausefalle. Ahnst Du es? Unsere arme Mamus erschrak so sehr, daß sie sich gegen die Stuhllehne preßte — ein paar Knöchelchen des Bonifatius.

«Sachlich «vollzog sich dann auch unser Abschied, obwohl jeder von uns verlegen war. Robert brachte uns zum Auto. (Freund Barrista hat ein so schlechtes Gewissen, daß er mir nicht nur den Wagen überschrieben hat, sondern auch noch die Versicherung bezahlt.)

Auf der Fahrt erzählte ich Mamus von der neuen Wohnung, beschrieb ihr den Blick hinüber zum Schloß und die Weitläufigkeit unserer Räume. Ich erwähnte dies, um ihr das öde Zimmer, in dem sie mit mir übernachten sollte, erträglich zu machen.312 Außerdem schien es mir besser, mit ihr zu reden, als sie ihrem Schweigen zu überlassen.

«Ich ziehe nicht allein ein«, sagte ich plötzlich, es war mir so herausgerutscht. Mamus zeigte keine Reaktion. Erst als wir hielten, verkündete sie das Ergebnis ihrer Überlegung:»Vera!«

«Ja«, sagte ich,»Vera!«Ich fragte Mamus, ob sie noch einen Spaziergang mit mir machen wolle, denn im Zimmer gebe es außer den beiden Luftmatratzen nur einen Stuhl. Sie schüttelte den Kopf. Ich erschrak richtig, als ich sah, wie langsam sie die Treppen hinaufstieg.

Cornelia und Massimo waren nicht da. Wir hätten uns in die Küche setzen können, aber Mamus wollte sich gleich» bettfertig «machen. Als ich nach ihr ins Badezimmer ging, entdeckte ich in ihrem Kulturbeutel ein ganzes Sammelsurium von Medikamenten und Salben.

Mamus hatte schon das Licht ausgemacht und sich statt auf die Luftmatratze mit dem frischen Bettzeug auf meine Matte gelegt.

Ich fragte, wozu sie solche Mengen an Medikamenten brauche.»Alles mögliche«, sagte sie. Ich wollte wissen, ob» alles mögliche «auch bedeute, daß sie noch Schmerzen von den Mißhandlungen habe.

«Das geschieht mir ganz recht«, sagte sie.

«Wer sagt denn so was?«fragte ich.»Deine Kolleginnen?«

«Nein«, antwortete Mamus,»ich sage das, ich selbst.«

Sie hatte die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen, ihre Nase ragte spitz auf. Am liebsten hätte ich das Licht wieder angemacht.

Plötzlich sagte sie:»Ich schäme mich so «und drehte sich von mir weg.

Ich stand auf und kniete mich neben sie. Ich bat sie, mit mir zu sprechen, ich versuchte, ihre Wange zu berühren, ich beugte mich hinab, um ihr in die Augen zu sehen. Aber das war alles falsch, ich solle mich hinlegen, ich solle mich bitte hinlegen. Nein, sagte ich, sie solle mir endlich sagen, was los sei.

Sie schwieg.

«Dieser verdammte Photoapparat«, begann sie, nachdem ich mich auf die Luftmatratze zurückgezogen hatte.»Dieser verdammte Photoapparat.«

Ich wagte kaum zu atmen, als belauschte ich sie heimlich.

Mamus war am 6. Oktober, einem Freitag, nach der Klinik zum Hauptbahnhof gefahren. Sie war neugierig, sie wollte sehen, was wirklich passierte. Und sie hatte ihren alten Photoapparat dabei. Sie hatte ihn eingesteckt, ohne groß zu überlegen. In der Bahn traf sie C., die Kinderärztin, ihre Sitznachbarin beim Staatskapellenanrecht. C. fuhr mit ihr zum Hauptbahnhof. Zunächst schien alles harmlos. Dann aber begannen die Demonstranten Steine zu werfen. Mamus hielt ihren Photoapparat hoch und drückte ab. Die Polizei ging auf die Demonstranten los, und C. rief:»Jetzt!«,»Dort!«,»Da!«,»Jetzt!«und riß Mamus am Arm. Mamus erzählte von Kampfgruppen, die sich, angetrieben von einem Megaphon, gegen die Demonstranten wandten. Auf einmal verschwamm alles um sie her. Tränengas, rief C., sie solle die Augen fest schließen und sich die Hände vors Gesicht halten. Sie hakten sich unter. Ohne zu sehen, wohin, gingen sie hundert oder zweihundert Meter, bis sie glaubten, aus der Wolke rauszusein.

Danach verabschiedete sich Mamus von C. und stieg in die erste Straßenbahn, die kam. Der Fahrer aber weigerte sich abzuklingeln, weil die Demonstranten die Straßenbahn angriffen. In der Bahn wurden Sprüche geklopft. Nun könne man nicht mal mehr abends ins Kino fahren. Ein paar grölende Demonstranten stiegen in die Bahn, und einer rief:»Scheißbullen!«Dann ging alles» ruck, zuck«. Mamus wußte gar nicht, wie ihr geschah. Der hintere Wagen wurde geleert. Sie sah die Leute aussteigen, sah, wie sie auf die Knie gingen, wie sie sich auf die Steine vor dem Hauptbahnhof legten, das Gesicht nach unten, über ihnen die Polizisten mit Schlagstöcken und Hunden.»Chile eben«, sagte sie und machte eine Pause, in der ich sie atmen hörte.

«Saudumm bin ich gewesen«, fuhr sie fort,»saudumm, weil ich dachte, das geht mich nichts an. Ein dicker Uniformierter stieg vorn in den Wagen ein und rief: ›Steigen Sie bitte aus und legen Sie sich hin!‹ Das sagte er ganz höflich, als handelte es sich um einen Unfall. Von hinten aber kam ein drahtiger Typ und schrie: ›Raus! Hinlegen!‹ Und ich blödes Schaf mache auch noch, was der sagt! Ich hab es einfach gemacht. Verstehst du? Deine Mutter steht auf, steigt aus und legt sich draußen auf die dreckige Straße, verstehst du das?«

Mit tränenerstickter Stimme sagte sie:»Ich habe völlig versagt, völlig …«Ich wagte nicht, sie zu berühren. Ich sagte, daß sie sich nichts vorzuwerfen habe. Was habe das denn mit Versagen zu tun?

«Doch, doch!«flüsterte sie, um mich kurz darauf anzufahren:»Natürlich habe ich versagt!«

Mamus bat mich um ein Taschentuch und schneuzte sich.

«Neben mir«, begann sie wieder,»lag eine Frau, die wimmerte und heulte wie ein Kind, völlig hemmungslos. Als ich den Kopf hob, sah ich die Bahn, und mitten in der leeren Bahn saß eine ältere, sehr gut gekleidete Dame. Sie erschien mir unglaublich vornehm. Zwanzig, dreißig Leute liegen auf dem Boden, nur die eine sitzt dort und schaut zur anderen Seite aus dem Fenster. Plötzlich zieht eine Frau die Heulende neben mir hoch, hakt sie unter und geht an dem Bitte-Polizisten vorbei in die Bahn. Und ich, ich kann nur Blödsinn denken, keinen vernünftigen Gedanken fassen. Ich denke, jetzt ist das Kontingent erschöpft, mehr Ausnahmen können die nicht machen. Ich denke, daß sie den Photoapparat nicht sehen dürfen, wenn sie den finden, verhaften sie mich. Und dabei hab ich immer auf die vornehme Dame geschaut, und dann klingelt die Bahn und fährt mit den drei Frauen im ersten Wagen ab.«

Mamus lachte auf.»Wäre die Vornehme nicht gewesen, würde ich mir nicht mal jetzt Vorwürfe machen. So kaputt haben sie uns gemacht, Enrico, so kaputt!«

Mamus zu trösten war sinnlos. Sie ließ keine Entschuldigung gelten. Sie habe vorher genug gesehen, wie die auf die Leute los sind und wie die zugeschlagen haben. Aber das spiele eigentlich gar keine Rolle, das müsse ich doch verstehen.»Ohne Gegenwehr habe ich mich in mein Schicksal gefügt, willfährig bin ich gewesen, einfach nur willfährig!«

Alles, was danach passiert sei, was ihr die jungen Burschen zugefügt haben, daß sie auf ihren Händen habe knien müssen, wegen dieses verdammten Photoapparates, das erscheine ihr jetzt wie die Strafe für ihr Versagen.

Die letzten Worte hatte sie geflüstert, weil Cornelia und Massimo nach Hause gekommen waren. Als ich etwas sagte, zischte Mamus, ich solle still sein. Die Dielen knarrten. Wir hörten auf das helle Kichern von Cornelia und Massimos ewig heisere Stimme. Ich hörte, wie sie eine Flasche entkorkten und wie sie anstießen. Und dann hörte ich plötzlich das Schnarchen von Mamus.

Sie schlief bis acht, angeblich so lange wie seit Jahren nicht mehr. Beim Frühstück sagte sie: Die Photos waren sowieso alle verwackelt!

Den ganzen Sonntag verbrachte Robert mit uns. Und als wir Mamus zum Bahnhof begleiteten, sagte sie, daß sie sich darauf freue, die Familie bald wieder zusammen zu wissen.


Soll ich Dich eifersüchtig machen? Weißt Du, wer mich am Freitag besucht hat? Mein schöner Nikolai!313 Er stand plötzlich vor mir, mitten in der Redaktion, und lächelte, er zerfloß förmlich vor Lächeln. Aber keine Angst, auch er hat sich mit einer Familie umgeben — Marica,»ein Bild von einer Frau«, wie Mamus sagen würde, eine Jugoslawin, die, wenn sie nicht gerade ihre beiden Mädchen kommandierte, mir berichtete, was Nikolai ihr alles von mir erzählt hat. Manchmal habe sie den Eindruck, sie wisse von mir mehr als von ihm. Nikolai ist schon 84 in den Westen, nach Bielefeld, wo sich sein Vater niedergelassen hat. Er hat eine Fachschule besucht, irgend etwas mit Elektrotechnik, und verdient» gutes Geld«, wie Marica sagte. Jedenfalls fahren sie einen riesigen Mercedes, eine Staatskarosse, der gegenüber sich mein LeBaron wie ein Spielzeug ausnimmt. Sieben Jahre hatten wir nichts voneinander gehört.

Johann wird im August bei uns anfangen. Franziska hat endlich eingewilligt, eine Entziehungskur zu machen, im September wird ihre Wohnung hier fertig, es soll für sie ein Neubeginn werden.

In Liebe, Dein Heinrich

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