[Brief vom 9. 3. 90]


SCHNITZELJAGD

… und sende Euch viele Grüße aus Thalheim! In unserem Ferienlager ist immer was los. Nie bleibt Zeit zum Schreiben. Nur heute regnet es dauernd. Die Stimmung ist klasse. Adelheid, die unsere Gruppe leitet, hilft immer, auch wenn jemand immer noch nicht richtig sein Bett machen kann. Es ist uns ja oft genug gezeigt worden. Die Mädchen aus den andern Gruppen beneiden uns wegen Adelheid. Nur wenn abends Schluß ist und das Licht aus und wir in den Betten liegen, dann ist sie nicht mehr da.

Wir haben oft Dienst in der Küche oder Saubermachen. Ich komme mit allen gut aus. Zweimal war Tanzabend. Morgen ist wieder Tanzabend. Die Großen sind alle in Rolf verliebt, den Stellvertreter von Herrn Funke. Der hat ein Moped und Helm. Herr Funke sagt immer: Sein Rolf ist seine rechte Hand. Am Gedenkstein hat Rolf Trompete gespielt, um alle Opfer zu ehren. Davor machten wir Subbotnik und jäteten Unkraut.

Gestern war Schnitzeljagd. Maik hat ganz schön geweint, als er vortreten mußte. Frau Borchert hat den Brief vorgelesen. Maik will nicht im Ferienlager sein. Frau Borchert hat ihn gefragt, was er denn zu Hause will, wo doch alle arbeiten und niemand Zeit für ihn hat und die Kinder alle im Ferienlager sind. Wir haben ganz schön lachen müssen. Herr Funke hat dann gefragt, warum er lieber zu Hause spielen will und nicht hier im Ferienlager. Er sollte sagen, was ihm nicht gefällt. Da hat er natürlich nichts gewußt. Erst solche Briefe schreiben und dann keinen Mucks rausbringen und sich nie ausmären. Adelheid sagt: Maik ist ein Kandidat fürs Abhauen. Kinder wie Maik hauen leicht mal ab, und dann müssen Polizei und alle anderen suchen gehen. Und in der Zeit kann natürlich allerhand passieren und niemand ist dann da, weil die Maik suchen müssen.

Maik hat angefangen zu heulen. Das hätte er sich eher überlegen sollen. Wir waren alle erschrocken, weil Maik gegen die Lagerordnung verstoßen hat. Herr Funke hat ihn gefragt, aber natürlich wieder kein Mucks. Herr Funke sagte, er hat keine Wahl mehr, wenn Maik nicht redet. Das hat Maik sich selbst eingebrockt. Aber eine Chance gibt er ihm noch. Da kann sich Maik bewähren und Maik hat genickt und dann hat er ja gesagt. Wir sind dann zum Sportplatz marschiert und haben Appell gemacht. Als Brigadeleiter melde ich immer die Bereitschaft. Es ist großer Mist, wenn ich als letzte melde, weil jemand aus meiner Brigade schwatzt und einfach nicht zur Ruhe kommt. Wir mußten uns mit Maik befassen. Maik hat allen gelobt, nicht abzuhauen. Da hat er was gutzumachen. Solche Briefe schreiben! Wenn die in falsche Hände fallen hat Herr Funke gesagt. Überall auf der Welt sehnen Kinder sich nach Ferienlager wie bei uns und müssen arbeiten gehen und dürfen nie in ein Lager. Und zu essen haben sie auch nicht genug. Aber wir dürfen jedes Jahr fahren. Alle waren dafür, daß Maik es macht. Herr Funke hat gefragt, wer nicht damit einverstanden ist, aber alle wollten das mit Maik, und der hat selbst die Hand gehoben, also einstimmig. Er ist dann losgerannt, wie er war, mit kurzen Hosen und Unterhemd. Wir haben alle laut gezählt, acht, neun, zehn, Klasse! Auf Klasse gings los! Maik rannte mit dem Sack den Weg hoch zum Wald. Herr Funke hat noch gerufen, er soll dran denken, er hat schließlich was gelobt. Dann hat Herr Funke geredet und gesagt, wir sollen uns jetzt nicht blamieren. Eine halbe Stunde Vorsprung ist ganz schön lang. Aber wir müssen eben üben bis es klappt. Immer üben am besten jeden Tag. Schnitzeljagd ist nämlich eine feine Sache, hat Herr Funke gesagt, und die Küche wird auch entlastet. Wenn es nach Herrn Funke ginge, würde viel mehr Schnitzeljagd gemacht, überall bei uns in der Republik. Vier Gruppen haben wir gebildet. Die großen Jungens wurden in zwei Gruppen geteilt. Und ein paar von den großen Mädels dazu. Wir sollten Tannenzapfen sammeln. Adelheid hat alles in Beutel getan und zugemacht und die Jungens nahmen es mit. Herr Funke ging natürlich mit und auch Rolf. Wir haben hier die Augen aufgemacht. Kann ja keiner wissen was so ein Maik macht. Wenn der die Kurve kratzt und plötzlich hier ist und alle im Wald. Wir hielten die Augen auf und sammelten Holz. Wir haben es dorthin getan wo immer Anstoß ist, also genau in die Mitte vom Sportplatz. Im Wald war mir mulmig, aber keiner wollte Schiß haben. Immer schreien hat Adelheid gesagt, wenn Maik kommt schreien. Kann gar nix passieren. Der ist bestimmt fünf Zentimeter kleiner als ich. Na ja, wir haben die Augen aufgehalten. Mehr als genug Holz war dann rangeschafft. Konnte keine meckern. Und dann hörten wir die Sirene. Herr Funke hat die Lagersirene mitgenommen. Und da wußten wir, es hat geklappt. Dann sind wir los mit Adelheid und Sylvia, die ganz lange Haare hat bis zum Po. Die wird immer schnell zum Tanzen aufgefordert. Sylvia ist die Schönste im Lager. Sie hat auch einen breiten Gürtel mit goldner Schnalle dran, sie will mir von ihren Eltern einen besorgen wenn wir zurück sind, weil ihr Vater den besorgen kann. Dann haben wir beide einen. Bestimmt einen Kilometer sind wir in den Wald rein. Adelheid zeigte uns Kacke von Rehen oder andern Tieren. Das wollen wir in den nächsten Tagen mal lernen und auch die Vogelstimmen erkennen.

Wir warteten an einem Häuschen mit vielen Wegweisern. Da kamen dann Herr Funke und die Jungens mit Maik. Zwei Jungens vorn und zwei hinten, und Rolf zeigte immer wie es nicht weh tut auf der Schulter, wie sie den Ast tragen sollen. Herr Funke hat erzählt, wie sie schon wütend gewesen sind. Maik hat ganz wenig gestreut. Dabei hatte er es versprochen gehabt. Dann saß er auf einmal auf einem Baumstumpf mit dem leeren Sack auf den Knien. Ringsherum Kiefern. Maik ist weggerannt als die Jungens angefangen haben zu werfen. Hat natürlich nichts genützt. Grad wenn Herr Funke mit dabei ist. Der wirft hundert Meter weit und trifft immer. Sie haben immer zusammen geworfen. Herr Funke sagte, das war wie früher ne Orgel, wie aus einer sowjetischen Stahlorgel. Maik hat sein Unterhemd anbehalten, das hat geleuchtet egal wohin er ist. Sie mußten immer nur nach dem Unterhemd werfen. Maik hat auch keine Schuhe mehr gehabt, aber die Augen offen. Ist aber paarmal gegen was gehauen. Als Herr Funke merkte, daß wir alle mit dabeisein wollen, hat er gesagt, wir sind in Ordnung. Herr Funke ist ein Strenger, sagt Adelheid immer, aber gerecht. Das ist was ganz Seltenes, wenn er nichts zu meckern hat. Wir haben es aber geschafft, weil wir zusammengehalten haben mit Adelheid. Wir stellten uns hin wie morgens beim Appell drum rum um Maik. Herr Funke sagte, wie stolz er auf uns ist. Alle haben ihre Aufgabe erfüllt.

Die Jungs haben ihn dann auf die Veranda getragen wo Herr Funke und Herr Meinhardt, der Hausmeister, standen. Adelheid sagte, Herr Meinhardt hat gesagt, da könnte jeden Tag so ein Satansbraten kommen, das würde die Küche ganz schön entlasten. Das ging dann schnell, und weil alle was mitbekommen wollten. Herr Funke lobte Herrn Meinhardt, weil der sein Handwerk versteht und auch immer an die Schüssel denkt und die drunterhält. Die Jungens mußten die ganze Zeit rühren. Wir kümmerten uns ums Brotschneiden und brachten den Teekübel auf den Sportplatz. Wir nahmen den Handwagen und die Jungens haben das Gestell für den Spieß gebracht. Und Rolf hat das Holz angemacht über das dann der Lagerspieß kam. Herr Funke lachte, weil der Maik gar nicht wiederzuerkennen war. Hat ganz schön lang gedauert, bis wir randurften, lange nach Nachtruhe. Ich esse aber lieber Wurst. Wurst schmeckt mir besser als so ein Schnitzel. Herr Funke hat viel erzählt von früher und wie sie gekämpft haben und die ganzen Opfer und wie sie trotzdem immer an den Sieg geglaubt haben. Deshalb machen wir auch Ehrenwache. Und dann hat Herr Funke Gitarre gespielt, und Adelheid hat gesungen und wir auch. Ich dachte immer an den Gürtel. Wenn ich den schon gehabt hätte. Und dann sagte Herr Funke: Wer will denn den Kopf mal sehen? Und hat ihn rausgeholt aus dem Sack, wo er die ganze Zeit drin war. Wer will den Kopf tragen, hat Herr Funke gefragt. Ich hab Maiks Kopf so angefaßt, wie Herr Funke es uns gezeigt hat, an den Haaren. Ganz schön schwer war der, weil ich mich ja nicht dreckig machen wollte. Das hatte ich nicht gedacht, daß Maiks Kopf so schwer ist. Ach du grüne Neune hab ich gedacht. Weil er so schwer war, haben wir uns abgewechselt, Sylvia und ich. Sylvia ist meine beste Freundin. Wenn wir zurück sind, wollen wir uns besuchen.

Es grüßt Euch Eure Sabine, Gruppe M 4

Загрузка...