Mittwoch, 4. 4. 90


Liebe Nicoletta!

Ich weiß ja nicht einmal, ob meine Briefe Sie überhaupt erreichen, geschweige denn, ob Sie sie lesen. Solange aber keiner zurückkommt oder Sie mich nicht ausdrücklich bitten, Sie mit meiner Geschichte zu verschonen, will ich fortfahren.

Von Geronimo hörte ich lange nichts. Er war mit Beginn der elften Klasse nach Naumburg gewechselt, ans kirchliche Proseminar, dessen dreijährige Ausbildung offiziell nicht anerkannt wurde, so daß er de facto ohne Abitur blieb. Hin und wieder ließ er mich in Briefen grüßen, die er mit einigen Mädchen aus unserer Klasse wechselte.

Wundersamerweise war ich zu Beginn der elften Klasse in den Schulchor aufgenommen worden und nahm bereits im November, versteckt im ersten Baß, an einer Aufführung des» Deutschen Requiems «von Johannes Brahms teil. Unseren Musiklehrer wie auch die Proben mit ihm zu beschreiben ist hier nicht der Ort, obwohl die Stunden als Sänger — wenn auch als äußerst mittelmäßiger144 — die einzigen sind, an die ich mich ohne Scham erinnere.

Im Chor sah ich auch zum ersten Mal Franziska, von deren Existenz als Schülerin der neunten Klasse jeder wußte, sie, die Tochter von ***145, den nicht nur in Dresden jeder kannte, der alles konnte und alles durfte.

Franziska sang Sopran, trug Jeans und enganliegende Pullover und hatte glattes schwarzes Haar. Nicht weniger aufsehenerregend als sie selbst war der Aufkleber ihrer Umhängetasche:»Make love, not war!«Im Chor setzte ich mich immer auf einen Stuhl am Gang, so daß ich dem Sopran schräg vor uns möglichst nahe kam. Es brauchte Monate, bis Franziska meinen Gruß erwiderte. Als sie mich aus heiterem Himmel fragte, ob ich nicht mit ihrer Klasse in die Tanzstunde gehen wollte, sie seien zu viele Mädchen, sah ich mich bereits am Ziel meiner Träume. Aus der Tanzstunde wurde jedoch nichts, und meine wiederholten Einladungen lehnte sie ab. Trotzdem lebte ich in der Gewißheit, Franziska eines Tages für mich zu gewinnen.

Ich versuchte mich in Gedichten und hatte mäßigen Erfolg bei Wettbewerben, die» Junge Dichter gesucht «hießen und Teil der» FDJ-Poetenbewegung «waren, ein Begriff, der mir damals weit weniger komisch vorkam als heute. Wir sollten freundlich schreiben, war eine der Maximen, an die ich mich erinnere, vorgetragen von einem tatsächlich freundlichen, ja geradezu heiteren älteren Herrn, dem angeblich ein vollkommenes Gedicht über einen bulgarischen Esel gelungen sein sollte, das ich aber nie zu lesen bekam.

Ich zählte nicht zu den großen Begabungen oder gar zu den Frühvollendeten (solche Bezeichnungen waren selten, doch nicht unüblich), besaß aber genügend Selbstbewußtsein, um felsenfest daran zu glauben, daß meine Zeit kommen würde.

Vera führte ein Boheme-Leben, wie es Mutter und Großvater nannten. Sie trug für die» Volkssolidarität «Mittagessen aus, wofür sie monatlich zweihundert Mark plus eine tägliche Mahlzeit und Versicherung erhielt; damit konnte man durchkommen. Da Vera wie ein Schlot rauchte und ständig Geld brauchte, stand sie in der Kunsthochschule Modell. Daraus wurde schnell eine Art Karriere.

Von Ende der Siebziger bis Mitte der Achtziger gibt es eine Vielzahl von Gemälden und Blättern Dresdner Künstler, auf denen eine Frau mit breitem katzenhaften Kopf und rotblonden Haaren zu sehen ist, oft nackt und verloren, doch auch als Faschingskönigin. Vera ist keine Schönheit, aber sie hat kein DDRGesicht. Ich kann Ihnen nicht erklären, was ein DDR-Gesicht ist, doch man erkennt es.146 Vera verfügte bald über genug Beziehungen und Geld, um sich elegant zu kleiden. Mitunter hielt man sie sogar für Westbesuch.

Sie bewohnte in der Dresdner Neustadt eine Dachwohnung im Hinterhaus, zu dem kein Vorderhaus existierte. Da nur die Wohnungstür eine Klingel hatte und um acht alle Tore und Türen verschlossen wurden, mußte man sich abends oder nachts irgendwie bemerkbar machen. Veras Nachbarn revanchierten sich, indem sie bei ihr morgens unter irgendeinem Vorwand klingelten und gegen die Tür hämmerten. Oder sie klauten ihr Wäsche von der Leine. Oft haben wir uns im Dunkeln unterhalten, weil einer ihrer Verehrer auf der Straße krakeelte und, nachdem er sich Mut angetrunken hatte, versuchte, über den Zaun zu klettern.

Von einem langen Flur, in dem eine kleine Anrichte die Küche ersetzte, gingen zwei winzige Zimmer ab.

Im hinteren trug mir Vera ihr Repertoire für die Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule vor. Die Seeräuberjenny war immer dabei. Ich liebte ihre Auftritte in dem engen Raum, fürchtete aber jenen Augenblick, in dem sie verstummte; sollte ich in Tränen ausbrechen oder applaudieren?

Natürlich fällt es mir schwer, von Vera zu erzählen, ohne das, was später geschah, bereits vorgezeichnet zu sehen. So selten wir uns trafen, wenn sie» jemanden hatte«, so unzertrennlich waren wir in den Tagen und Wochen dazwischen. Sie führte mich ein in das, was man Szene nannte. Ich war doppelt gern gesehen: einmal als Bruder, den man hofierte, um ihr zu gefallen, zum anderen als leibhaftiges Zeichen dafür, daß Vera wieder frei und zu haben war.

Ich wußte nie, wann Vera mich zu sich bitten, wann sie mich wegschicken würde. Ich brach oft mit ihr, holte aber trotzdem weiter die Töpfe ab, in denen meine Mutter ihr hin und wieder Essen brachte.

Tauchte Vera dann wieder auf, sie wartete meist vor der Schule, machte sie mir Vorwürfe, warum ich mich nicht mehr bei ihr sehen ließ.

Vera lebte ein Leben, wie ich es auch bald führen wollte, eine ununterbrochene Folge von Ausstellungen, Lesungen, Feiern, Aufführungen und nächtlichen Wanderungen. Meine Kleidung würde ebenfalls nach Atelier riechen, ich würde schreiben, was ich wollte, um eines Tages, wenn ich den DDR-Mächtigen zu gefährlich geworden wäre, in den Westen abgeschoben zu werden, in den Westen, wo meine Bücher bereits erschienen waren und wo ich zusammen mit Franziska das Leben genießen, lieben, schreiben und reisen würde.

Die Schulzeit galt es zu überstehen. Ich überlegte, was zu sagen sich lohnen würde, um Reibung und damit Stoff zu gewinnen. Ein beschreibungswürdiges Erlebnis mußte her! Sollte ich vielleicht» Schwerter zu Pflugscharen «an die Tafel malen?

Im Januar 80 löste ein mit roter Farbe an die Mauer neben dem Haupteingang gepinseltes» Karl und Rosa leben «Panik aus. Ich sah nur noch den grauen Stoff, mit dem die Aufschrift verhängt worden war, als stünde die Enthüllung einer Gedenktafel bevor. Alle gerieten ins Visier, gerade auch jene, die als überzeugt galten. (Verstehen Sie, was ich mit»überzeugt «meine? Also unsere» Roten«, die von der DDR Überzeugten.)

Was mich abhielt, die Tat auf mich zu nehmen, war allein die Furcht, der wahre Urheber könnte sich zu erkennen geben. Doch wurde nie eine Täterin oder ein Täter ruchbar. Zumindest hörte ich nichts davon. Die Schrift wurde umgehend entfernt, ihre Spuren allerdings avancierten zu einer Art Menetekel. Die einen wähnten den Spruch links oben, andere glaubten, die vier Worte über die ganze Mauer verteilt und statt eines Ausrufezeichens Hammer und Sichel erkennen zu können. Allein die Mauer zu betrachten galt schon als Akt des Widerstands. Immer wieder versammelten sich Grüppchen wie zufällig davor. Gesehen habe ich nie etwas.

Ich erwähne diese Mauerepisode, weil die Erinnerung an sie Jahre später zur Keimzelle für einen Roman werden sollte.

In der Hoffnung zu provozieren heftete ich ein Gedicht an die Wandzeitung — einem» Frühvollendeten «war das in seiner Schule zum Verhängnis geworden. Myslewski riß mein Blatt samt Reißzwecken herunter und stellte mich vor der Klasse zur Rede. Er war in die Falle getappt. Gerade dieses Gedicht sollte in einer Schüler-Anthologie veröffentlicht werden.147 Ob ich das, worum es mir ging, nicht auch einfacher hätte sagen können, fragte er und ließ unter allgemeinem Gelächter das eingerissene Blatt vor mir auf die Bank segeln.

Die bei uns erschienenen Ehrenburg-Memoiren boten Gelegenheit, nach den Stalinschen Lagern zu fragen. Die Lager, bekam ich zu hören, seien Auswüchse der längst überwundenen Phase des Personenkultes gewesen und bereits 1956 von der KPdSU verurteilt worden.

Vergeblich suchte ich nach etwas, was zu tun oder zu lassen wirklich lohnend sein würde.

Meine Hoffnung war die Armee!

Seit der Musterung, seit ich das erste Mal von Uniformierten befragt worden war, wußte ich, wo ich finden würde, was ich mir wünschte.

Im Wehrkreiskommando fiel mir sofort etwas ein, dort kamen die Ideen von allein. Kein anderer Ort besaß so viel Poesie, so viel Unausweichlichkeit. Ich glaube, ich verglich den Wimpel des Armeesportklubs mit meiner Unterhose, denn so wie die Wimpel die Leere der Wand verdecken sollten, dabei aber deren Kahlheit erst recht zur Geltung brachten, wirkte die Unterhose an meinem Körper — oder so ähnlich. Eine ganze Reihe solcher Vergleiche notierte ich noch an Ort und Stelle. Uniformen machten Leiden plausibel. Das war keine pubertäre Empfindlichkeit mehr, kein risikoloses Aussteigertum à la Neustadt oder Loschwitz148, das war Kalter Krieg, das war Welttheater!

Der Höhepunkt der Musterung war ein Gespräch.»Einige hochgestellte Persönlichkeiten«, sagte der Offizier hinter dem Schreibtisch,»haben Pläne mit Ihnen. Große Pläne!«Im Interesse meiner weiteren Entwicklung lege er mir eine dreijährige Dienstzeit nahe …

In meiner Hochstimmung sah er nur Arroganz und drohte, nachdem ich nein gesagt hatte, recht unbeholfen, mir Abitur und Studium zu verwehren. Anschaulicher gelangen ihm die düsteren Schilderungen des Alltags jener Soldaten, die die Arbeiterund Bauernmacht enttäuscht hatten. Befriedigt registrierte ich die in seinen Mundwinkeln dicker werdende Spucke, den schnellen Lidschlag, die rotblaue Färbung seiner Gesichtshaut, die an den Nasenflügeln am intensivsten war, und verfolgte den Kuli in seiner Rechten, mit dem er das Morsealphabet auf der Tischplatte exerzierte. Um die literarische Abrundung meiner Vorstellung bemüht, sah ich mich in Unterhosen strammstehen, zitternd in der eisigen Zugluft, jedoch unbeugsam.

Glauben Sie mir: Seit der ersten Musterung freute ich mich auf die Armee.

Erwähnenswert ist vielleicht noch ein Intermezzo gegen Ende der elften Klasse, etwa vier Monate nach der Karl-und-Rosa-Episode, als mitten im Unterricht und ohne Vorwarnung die Türklinke krachte und die stellvertretende Direktorin meinen Nach- und Vornamen rief. Ich stand auf, sie winkte mich heran. Ich wußte sofort: Hier ging es nicht um einen Unfall meiner Mutter oder eine andere private Katastrophe.

Ich folgte ihr. Hinter den Türen brummelte der Unterricht. Treppauf, vorbei am Wandbild mit der elften Feuerbachthese von Marx, der zufolge die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert hätten, es aber darauf ankomme, sie zu verändern. Ich vertiefte mich in das Spiel der Wadenmuskeln unserer stellvertretenden Direktorin. Im Vorzimmer des Direktors tauschte ich mit der Sekretärin einen stummen Gruß. Später beschrieb ich den Geruch als eine Mischung aus Zigaretten, Bohnerwachs, Kaffee und Sperrholz, doch wahrscheinlich nahm ich das gar nicht wahr. Ich versuchte, meiner Aufregung Herr zu werden, indem ich die Sandalen der Sekretärin fixierte.

Geronimo hatte es nur mit dem Direktor zu tun gehabt. Auf mich warteten zusätzlich zwei Männer. Sie saßen nebeneinander an einem Tisch, der mit der Stirnseite an den Schreibtisch des Direktors stieß. Sie ließen sich Zeit mit dem Ausdrücken ihrer Zigaretten. Als sie aufblickten, grüßte ich auch sie.

Ihr Aussehen enttäuschte mich nicht. Zumindest der Ältere mit seinen Triefaugen und den schwarzen zurückgekämmten Haaren entsprach meiner Vorstellung. Der andere wirkte freundlich, Typ Sportkumpel. Der Direktor saß wie ein Schiedsrichter da, die Handflächen aneinandergelegt. Er schien erschöpft und ratlos. Triefauge begann im Tonfall einer Zurechtweisung, sie seien in einer sehr ernsten Angelegenheit hier. Ich hoffte schon, sie würden mich stehen lassen wie einen Häftling, als sich der rechte Zeigefinger Triefauges kurz streckte, was soviel hieß wie: Setz dich!

In Gedanken ging ich meine Gedichte durch. Welches hatte sie hellhörig gemacht, welches hielten sie für das gefährlichste? Die Mappe, auf der die Hände des Sportkumpels ruhten, war stattlich. Wie waren sie da herangekommen?» Ja, Sie sprechen mit dem Autor, doch dieses Gedicht habe ich bereits verworfen«, wollte ich sagen, und es mit Mängeln an Reim und Rhythmus begründen. Kurz zuvor war mir Majakowskis» Ein Tropfen Teer «in die Hände gefallen, ein Insel-Bändchen, in dem er die Verfertigung seiner Gedichte beschreibt — eine empfehlenswerte Lektüre. Der Selbstmörder Majakowski schreibt ein Gedicht gegen Jessenins Selbstmord. Ja, ich plante, unseren Tschekisten Majakowski um die Ohren zu hauen.

Es klingelte zur Pause und wieder zum Unterricht, und ich verstand nicht, worauf ihre Fragen nach meiner Familie, insbesondere nach unserer Westverwandtschaft, hinausliefen. Ja, wir beabsichtigten, nach Budapest zu fliegen. Wenn sie plauschen wollten, bitte, ich hatte Zeit. Sie ersparten mir Chemie und Russisch. Sportkumpel und ich lächelten um die Wette. Er orderte bei der nächsten Tasse Kaffee ein Glas Selterswasser für mich, bot mir eine Zigarette an — um gleich darauf so zu tun, als falle ihm erst jetzt ein, daß ich ja ein Schüler sei.

Jeden Moment erwartete ich die schroffe Wendung, ich war neugierig, wie sie die Kurve zu den Gedichten kriegen würden. Mein erstes Bezirkspoetenseminar hatte mit der Frage begonnen, wer unter den Anwesenden die Meinung vertrete, Literatur müsse Opposition sein?

Damals war alles so schnell gegangen.149 Jetzt bot sich endlich Gelegenheit, den Fehler zu korrigieren. Wahre Literatur ist per se Opposition!

Mit dem Klingeln zur letzten Stunde fragte mich Sportkumpel, warum meine Mutter plane, gemeinsam mit mir, mit dem hier anwesenden Enrico Türmer, die Deutsche Demokratische Republik auf illegalem Wege zu verlassen?» Wir wollen nur wissen, warum. Beweise dafür haben wir mehr als genug.«

Wut und Scham würgten mich, ich kämpfte mit den Tränen. Sie hielten das für einen Volltreffer! Triefauge und Kumpel schossen tak tak tak tak ihre Fragen ab. Ich bekam Sätze zu hören, die ich in der Pause gesagt hatte, abfällige Äußerungen über den antifaschistischen Schutzwall, Vera wurde zitiert und als staatsfeindliches Element bezeichnet, Geronimo widerfuhr die Ehre, mehrmals erwähnt zu werden. Immer wieder Geronimo! Es war wie ein Fluch. Auch deshalb brauchte ich länger, als mir lieb war, bis ich wieder über eine feste Stimme verfügte. Ich glaube nicht, daß ich tatsächlich aufstand, doch kann ich mir meine Sätze nie anders als im Stehen gesprochen in Erinnerung rufen. Wir redeten gleichzeitig: Noch nie hätte ich auch nur im Traum daran gedacht, dieses Land zu verlassen. Nichts wäre schlimmer für mich, als von hier wegzugehen. Hier hätte ich meinen Platz, meine Wurzeln, meine Familie, meine Schule, mein Zuhause. Was sollte ich denn im Westen?

Ich plapperte wie aufgezogen, irgendwann waren sie verstummt.»Ich«, sagte ich,»will Schriftsteller werden, und gerade als Schriftsteller bin ich darauf angewiesen, dort wirken zu können, wo ich mich auskenne, wo die Menschen leben, die meine Erfahrungen teilen. Jemand wie ich verläßt nicht freiwillig ein Land, in dem Literatur das Wichtigste ist!«Verstanden sie meine Drohung überhaupt?» Was soll ich denn im Westen?«wiederholte ich in dem Bewußtsein, daß mir dieser Satz überzeugend gelungen war — es fehlten nur ein oder zwei Wörtchen zur Wahrheit: Was soll ich denn jetzt im Westen? hätte es heißen müssen, oder jetzt schon. Doch je mehr ich redete, um so deutlicher spürte ich, daß mir zwar nicht die Empörung, aber die Argumente langsam ausgingen.

Ich verteidigte Vera, eine Ausnahmebegabung, die an ihrer Entwicklung und Entfaltung gehindert werde, Vera, die nur offen ihre Meinung sage, worüber sie froh sein sollten.

Ich fügte einiges zur gesellschaftlichen Rolle der Literatur hinzu, bevor ich fragte, was sie denn zu dieser Unterstellung der Republikflucht berechtige. Und dann hörte ich mich, wie ich ihre Verdächtigung unverschämt nannte, unverschämt, ja, unverschämt! Eine Steigerung war nicht möglich. Sie müssen wissen, daß keine Rüge bei unseren Volkserziehern beliebter war als:»Ich schäme mich für dich! Ich schäme mich für euch!«150

«Wir stellen hier die Fragen«, unterbrach mich Sportkumpel und lächelte wieder. Ich glaubte, sein Lächeln rühre daher, daß er eine Redensart zitierte, ein Scherz unter Eingeweihten.

Triefauge wollte wissen, warum meine Mutter behauptet habe, bei unserer Reise nach Budapest handle es sich um eine Auszeichnungsreise meiner Mutter, und ob sie vielleicht, ohne mein Wissen, Republikflucht plane? Die beiden registrierten mein Zögern, bevor ich antwortete. Dann schwiegen wir alle, bis der Sportkumpel dem Direktor zunickte.

Auf der Toilette wusch ich mir das Gesicht — meine Augen waren tränengerötet — und verließ die Schule in Richtung Café»Toscana«.

Zum» Toscana «muß vorerst genügen, daß ich nicht nur alle Caféhausszenen, von denen ich las, in jene Oase am Blauen Wunder verlegte (so könnte ich Ihnen heute noch jenen Tisch zeigen, an dem der Zögling Törleß gesessen hat), ich bevölkerte das Café auch mit berühmten Kollegen. Manchmal riefen sie meinen Namen und winkten mich heran. Manchmal tuschelten sie, weil sie nicht sicher waren, ob die wundervollen Verse, die von Hand zu Hand gingen, tatsächlich aus der Feder jenes Jünglings stammten, der dort einsam und bleich vor seinem Absinth saß. Manchmal blieb ich allein. Die Serviererinnen hielten mich wohl für einen Kruzianer, zu deren größten Vergnügungen es zählte, nach Vormittagsproben dort zu frühstücken. Selten mußte ich auf einen Platz warten.

An jenem Tag wurde ich von meinen berühmten Kollegen geradezu stürmisch begrüßt. Sie beglückwünschten mich zu der mutigen Rede, die ich gerade gehalten hatte. Der Empfang wie auch das Würzfleisch taten gut. Ich bestellte umgehend eine zweite Portion.

Allmählich gewann ich der Szene im Direktionszimmer einiges ab. Immerhin hatte ich mein erstes Verhör hinter mir. Das war so bedeutsam wie ein hundertseitiges Manuskript. Außerdem wußten diese Typen jetzt, daß hier ein Schriftsteller heranwuchs. Auf alle Nachfragen müßte ich ab jetzt nur» Stasi «flüstern und schweigen. Das Raunen, das bald die gesamte Schule erfassen, Franziskas Bewunderung entfachen und schließlich bis zu Geronimo dringen würde, genoß ich zusammen mit dem zweiten Würzfleisch.

Vera, es war die Zeit, in der sie mit Nadja lebte, umsorgte mich wie einen Schwerverletzten und begleitete mich abends nach Hause.

Meine Mutter hatte nicht nur ein dreistündiges Verhör hinter sich, sie war auch von zwei Herren in unsere Wohnung eskortiert worden. Die beiden hatten darauf bestanden, das von der Schule genehmigte Gesuch mit der Bitte um meine Freistellung zu sehen. Darin stand nichts von Auszeichnungsreise. Trotzdem waren wir irritiert, hatte meine Mutter doch, um Neid zu vermeiden, diese Formulierung erwogen. Wurden wir abgehört? Steckten Wanzen unter der Tapete? Die Lösung war banal. Der einzige Offiziersanwärter unserer Klasse hatte unlängst bei uns übernachtet, weil unsere Wohnung nicht weit vom Flughafen entfernt lag. Wir beide vertraten unsere Klasse in einem Jubelkomitee, das sich für die Ankunft eines ausländischen Bonzen bereithalten sollte (der aber nie gelandet war). Offenbar hatte die Wachsamkeit meines Mitschülers den Fehlalarm ausgelöst.

Am nächsten Tag hoffte ich bei jedem Klingklong, das den Ansagen des Flughafenlautsprechers vorausging, unsere Namen zu hören. Doch ich hoffte vergeblich.

Erst viel später erkannte ich in dem Irrtum der Staatssicherheit den eigentlichen Reiz dieser unfreiwilligen Begegnung. Damals schämte ich mich fast dafür, wegen unbegründeter Verdächtigungen verhört worden zu sein, weshalb ich diesen Vorfall literarisch auch nie verwertet habe.

Ich grüße Sie herzlichst

Ihr Enrico


PS: Georg hört auf. Ich übernehme seinen Part. Kein böses Wort ist gefallen, Erleichterung auf allen Seiten. Wir suchen eine neue Bleibe.

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