Dienstag, 17. 4. 90


Liebe Nicoletta!

Noch immer hoffe ich Tag für Tag, Nachricht von Ihnen zu erhalten. Ich habe es von Anfang an geahnt, daß ich auf Ihre Briefe würde warten müssen. Solange Sie mir aber erlauben, Ihnen zu schreiben, will ich mich nicht beklagen und fahre in meiner Beichte167 fort.

Für die vier Monate zwischen Abitur und Einberufung suchte ich mir nicht wie alle anderen eine Arbeit. Ich hatte ja eine. Das wenige Geld, das ich für Bücher, Theaterkarten und die Zugfahrten nach Naumburg oder Berlin brauchte, gaben mir Mutter oder Vera.

Vera, als habe sie gewußt, daß man ihr Ende des Jahres den Ausweis abnehmen und ein sogenanntes Berlin-Verbot erteilen würde,168 reiste rastlos — an die Ostsee, in den Harz, durch Mecklenburg — und schrieb mir Ansichtskarten und Briefe, so daß ich ihren Touren auf der Landkarte folgen konnte. War sie in Berlin, lernte sie töpfern, beschrieb etliche Wände mit den Gedichten ihrer Freunde und rauchte angeblich Marihuana.

Veras Abwesenheit beruhigte mein Leben. Mein Pensum bestand aus fünf bis sechs Stunden Schreiben. Doch verfaßte ich, anders als manch Frühvollendeter, keine Gedichte, in denen von der Elbe, von Dresden, von Frauen mit langen Haaren oder dem kupfernen Hämmern über den Dächern Budapests die Rede war.169 Das lag mir fern. Ich schrieb über die Armee!

Befehlen preisgegeben, geschliffen bei Appell und Sturmangriff, würde ich von selbst einen unverwechselbaren Stil ausbilden. Und wartete man im Westen nicht auf Kassiber und Klopfzeichen aus östlichen Kasernenmauern wie einst auf die Lagergeschichten Solshenizyns?

Woran ich bereits arbeiten konnte, war der Morgen der Einberufung, jene Minuten zwischen Erwachen und Aufstehen, denen der Abstieg in die Hölle folgen würde.

Wahrscheinlich halten Sie es für übertrieben, wenn ich behaupte, meine Gedanken kreisten seit jeher um diesen Abschied. Armee war mir der Inbegriff des Von-zu-Hause-Abschied-Nehmens. Kindergarten, Schule, Hort und Ferienlager waren unangenehm, doch nichts im Vergleich zu jenem schrecklichen Abschied, für den sie Vorstufen darstellten.

Wir wuchsen ja auf im Schatten der endlosen Russenkasernen, die sich von Klotzsche bis hinein in die Stadt zogen. Die zum Heller, einem Truppenübungsplatz, marschierenden Soldatenkolonnen und die nächtlichen Gesänge hinter den Kasernenmauern bildeten die Kulisse für Schauermärchen. Die achtzehn Monate NVA lagen in meiner Vorstellung immer schon als schwerer Riegel vor dem eigentlichen Leben.

Mit Kindheitserinnerungen und der frühen Angst vor der Armee glaubte ich, die Verzweiflung eines sensiblen jungen Mannes illustrieren zu können, der einrücken mußte. Für ihn gab es kein Ausweichen, kein Entrinnen, die totalitäre Macht überwachte jeden Schritt. Schließlich saß mein Held zerschlagen und bleich bei einer Tasse Kaffee in der Küche, seine Mutter — wieder eine deutsche Mutter, die ihren Sohn hergeben mußte — umsorgte ihn schweigend, das Gesicht abgewandt, damit er ihre Tränen nicht sah.

Zu Ihrer Erinnerung sei gesagt: Im Herbst 81 stand Polen kurz vor der Verhängung des Kriegsrechts. Von einem Nachbarjungen, der ein Jahr zuvor eingezogen worden war, wußte ich, daß sein Regiment im Sommer mit scharfer Munition ausgerückt war. Selbst der Regimentskommandeur, ein Oberst, hatte Felduniform getragen, und die Offiziere waren von einer nie gekannten Freundlichkeit gewesen. Ihm selbst war die Aufgabe zugewiesen worden, die Hinweisschilder für die nachrückenden Reservisten aufzustellen.

Das war Wasser auf meine Mühlen und beflügelte meine Phantasie. Ich fürchtete, zu spät zu kommen; trotzdem hätte ich gern den Tag der Einberufung hinausgezögert, denn so, wie es jetzt war, gefiel mir mein Leben.

Ende Oktober, etwa zehn Tage vor der Einberufung, geschah etwas völlig Unerwartetes.

Geronimo wollte mich, bevor ich kaserniert würde, wie er sich ausdrückte, noch einmal sehen. Wir hatten uns monatlich besucht. Von Naumburg aus waren wir viel gewandert und mit den Rädern nach Schulpforta oder nach Röcken170 gefahren.

Die Anspannung jedoch, die ich bei unserem ersten Wiedersehen gespürt hatte, blieb bestehen. Ich sehnte mich nach Geronimo und fürchtete unsere Treffen. Unbeschwert war ich nur, wenn ich ihm schrieb.

Diesmal wollte er nicht vom Bahnhof abgeholt werden, ich sollte ihn zu Hause erwarten. Als es endlich klingelte, stand nicht er da — sondern Franziska! Ich glaubte an ein Wunder! Franziska hatte meine Adresse herausgefunden und war zu mir gekommen. Gott sei Dank brachte ich so lange kein Wort heraus, bis Geronimo hervortrat.

Obwohl sich damit alles geklärt hatte, war ich weniger bestürzt als ungläubig. Ich hatte in Geronimo nie ein Wesen gesehen, für das sich Frauen interessieren würden. Und jetzt Franziska!

Trotz aller Zärtlichkeit zwischen den beiden glaubte ich zunächst an einen Scherz. Benutzte sie Geronimo? Gehörte sie nicht viel mehr zu mir, spätestens jetzt, da sie uns vergleichen konnte? Ihre Gegenwart in meinem Zimmer, ihr unverhofftes Dasein inmitten jener Welt, in der ich von ihr geträumt hatte, ließen für Geronimo keinen Platz.

Anfangs hatte ich, wie man so sagt, nur Augen für sie. Doch sowenig ich Geronimo als Fluchtpunkt jeder Regung, jedes Wortes von ihr akzeptieren wollte, so unvermeidlich war es, ihn irgendwann anzusehen. Und das änderte alles!

Geronimos Lächeln war so selig, daß sein ganzes Gesicht vor lauter Entrücktheit etwas Schafartiges bekam.

Kennen Sie den demütigenden Impuls, zwischen zwei Liebende fahren zu wollen wie der Teufel?

«Johann!«sagte ich wie ein Arzt, der einen Bewußtlosen anspricht.»Johann!«

Ich wollte ihn ohrfeigen, ihm die Brille herunterreißen und zerbrechen, ihn mit der Faust ins Gesicht schlagen, während er weiter blöd lächelte, sich umranken ließ und beim Küssen schmatzte. Make love, not war!» Johann!«Er hörte mich nicht einmal mehr! Fremd und verlassen hockte ich neben den beiden im eigenen Zimmer.

Als er mich bat, mit Franziska bei uns übernachten zu dürfen, machte es mir schon nichts mehr aus, ihm das ohne Begründung abzuschlagen. Ich bot ihm an, allein und bei mir auf der Luftmatratze neben meinem Bett zu schlafen.

Sie blieben zum Abendbrot und hielten sich selbst beim Essen an den Händen. Meine Mutter bestand darauf, jedes Detail ihrer ersten Begegnung zu erfahren. Und auch die beiden wollten über nichts anderes reden, erfaßt von unerträglicher Erzähllust.

Warum aber störte sich niemand daran, daß ich schwieg, auf meinen Teller starrte, vollkommen versteinert. Sie hatten mich bereits aus ihrer Gesellschaft getilgt. Es war nicht nur der brutale Egoismus der Liebenden, nein, sie alle hier probten bereits das Leben ohne mich.

Ich konnte von Glück reden, daß meine Mutter die beiden nicht zum Übernachten einlud. Mir fällt nicht mal mehr ein, wie wir uns verabschiedet haben.

Johann hatte mich in einen Hinterhalt gelockt, er hatte mich verraten! Und ich winselte seinen Namen ins Kopfkissen!

Am nächsten Morgen fand ich auf dem Frühstückstisch ein Kuvert.»Ist es ein Roman?«fragte meine Mutter später. Das war Johanns zweiter Verrat. Er hatte mit keiner Silbe erwähnt, daß er ebenfalls schrieb. Kämpfte Johann heimlich gegen mich?

Das war am Sonntag. Bei einer Fußballübertragung würde man sagen: Wir zeigen Ihnen diese Szenen ungekürzt.

Der Montag hielt eine weitere Hiobsbotschaft für mich bereit.

Der Auflage der Musterungskommission entsprechend, hatte ich mir den Brustkorb röntgen lassen, doch nicht beim Militärarzt, sondern im Friedrichstädter Krankenhaus, in dem meine Mutter arbeitete. Am Montag war der Befund mit der Post gekommen. Ich kam nicht mal auf die Idee, das Latein zu entschlüsseln, und legte den Umschlag auf Mutters Küchenstuhl, wo sie ihn erst fand, als wir uns zum Abendbrot setzten. Haben Sie jemals erlebt, wie in einem vertrauten Gesicht von einem Augenblick auf den anderen der Schädel aufscheint?

«Das kann nicht sein!«flüsterte sie.

«Was kann nicht sein?«war alles, was ich hervorbrachte. Dann wurde mir schlecht. Eine Minute später fragte ich vom Fußboden der Küche aus, wie viele Jahre mir noch blieben.

«Vier oder fünf«, sagte sie, fuhr in ihre Straßenschuhe und rief:»Aber das kann nicht sein! Das kann nicht sein!«Und zog die Wohnungstür hinter sich zu.

Die Kälte des Fußbodens war angenehm. Ich sah die Deckenlampe, in deren Glasschirm sich Dreck angesammelt hatte, und die Therme, in der ein einziges blaues Flämmchen brannte. Es tat gut, Dinge ins Auge zu fassen, die sich mein Leben lang nicht verändert hatten. Vier Jahre! Um die Fenster zu sehen, mußte ich den Kopf drehen. Ich lächelte der abgeschlagenen Ecke des Fensterbrettes zu. Vier Jahre! Da hatte ich meine Unausweichlichkeit! Mir blieb Zeit für ein Buch, vielleicht sogar für zwei. War Todesnähe nicht überhaupt die notwendige Voraussetzung schöpferischer Arbeit? Versuchte nicht jeder, sie so oder so vorzutäuschen? Vier Jahre! Ich drückte dieses Urteil an mich, als wäre es ein Versprechen, eine Abmachung zwischen Gott und mir.

Es dauerte fast eine Stunde, bis meine Mutter zurückkehrte. Sie war mit dem Rad die Telephonzellen abgefahren, hatte dann aber niemanden mehr in der Röntgenabteilung erreicht. Sie lächelte und wischte sich mit dem Taschentuch über das gerötete Gesicht. Der Befund sei falsch, ein Irrtum, völliger Nonsens, sonst käme ich kaum noch die Treppen hinauf.

«Hörst Du, Enrico? Das ist unsere Chance! Keine Armee der Welt nimmt dich mehr mit so einem Befund! Das will der Herrgott!«jubilierte sie.

Noch nie hatte sie dieses Wort gebraucht. Mir war nicht nur ihr Herrgott lästig, ich wollte überhaupt allein sein, allein mit den Dingen dieser Welt, die auf einen Schlag mein waren, alle schön, alle wichtig.

Je euphorischer sie sprach —»Mußt nur ein bißchen lamentieren, ein bißchen spielen«—, desto ungehaltener wurde ich.»Entweder verweigere ich, oder ich gehe wie alle anderen!«

Eine Stunde später lief ich an der Elbe entlang, über der Nebel lag.»Denn alles Fleisch, es ist wie Gras«, dröhnte mir Brahms Requiem im Ohr,»und alle Herrlichkeit des Menschen wie des Grases Blumen!«Wie soll ich diesen Zustand beschreiben? Zwar blieb ich der alte Adam, der sich Geronimo überlegen fühlte, ich erlebte etwas, was mich vor allen anderen auszeichnen würde. Darüber hinaus aber überraschte, nein, überrumpelte mich ein unerwarteter Trost: Ob tot oder lebendig, ich würde auf dieser Erde bleiben. Sterben und verwesen bedeutete nicht, sich in nichts aufzulösen, sondern, wie auch immer, weiter hier, weiter in der Welt zu sein. Dieser Gedanke, der sich wie im Schlaf eingeschlichen hatte, beruhigte mich. Ich will nicht sagen, auf diesem Spaziergang hätte ich die Angst vor dem Tod überwunden, doch so oder ähnlich fühlte es sich an. Alles Schöne war plötzlich schön, alles Schlimme schlimm, alles Gute gut. Für kurze Zeit entkam ich meinem Wahn — und mußte nichts mehr tun! Jeder Zwang, jeder Plan, jedes Kräftemessen fiel von mir ab.

Dienstag früh fuhr ich mit Mutter ins Krankenhaus und ließ mich erneut röntgen. Wieder zu Hause, schrieb ich Geronimo. Es war mein Testament, ein Abschied in vielerlei Hinsicht. Jeder Satz ein Hauptsatz. Ich wünschte ihm Glück, ich wünschte Franziska Glück, lieber hätte ich ihm alles mündlich gesagt, ich war krank, todkrank, aber ich nahm mein Schicksal an, ich wollte es tragen als das mir zugedachte, Schritt um Schritt auf meinem Weg vorangehen. Ich war von mir selbst beeindruckt. Sein Manuskript ließ ich unerwähnt.

Am Mittwoch um zwölf, ich hatte meine Mutter anrufen müssen, erfuhr ich, daß die Vergrößerung meines Herzens keine krankhafte war, im Gegenteil, ich besaß ein Sportlerherz. Im selben Moment erloschen Luzidität und Einsicht. Ja, ich ärgerte mich, durch die ganze Aufregung Zeit verloren zu haben, und spürte, wie die alte Kleinlichkeit durch jede Pore zurückkroch. Doch für Augenblicke hatte ich eine seltsame Klarheit erlebt. Und alles, was ich jetzt darüber schreibe, ist nicht mal ein Abglanz davon.

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