Dienstag, 20. 2. 90


Lieber Jo!

Wir haben gearbeitet wie die Teufel. Trotzdem war ich erst nach Mitternacht zu Hause.55 Aber vier Stunden Schlaf reichen, und allmählich, da ich mir mit den Briefen die Zeit vertreibe, lerne ich, diese langen Morgen zu lieben.56

Ich werde Dich nicht wieder mit Zeitungsdingen langweilen, muß jedoch etwas nachtragen, das ich nicht erwähnen würde, wäre es nicht der Anlaß unserer ersten Krise geworden.57

Habe ich Dir schon von dem» Propheten «erzählt? Er ist ein komischer Kauz. Das merkt jeder schnell. Der Prophet bewegt fortwährend seinen Mund, als hätte er etwas gekostet und würde nun verkünden, wonach es schmeckt. Sein Kinn hält er vorgestreckt, so daß der Bart, der dem Anschein nach die Konsistenz von Zuckerwatte hat, drohend vorsteht. Auf der Demonstration nach dem Mauerfall hatte er die Schaffung einer Räterepublik gefordert. Er ist immer für eine Überraschung gut.58

Der Prophet hatte frühzeitig unsere Premierenfeier59 mit seiner Gegenwart beehrt, sich aber bald in eine Ecke verzogen. Ihm paßte, wie wir jetzt wissen, die Couleur der Gäste nicht. Jörgs und Georgs Einladungen waren, wie es sich für eine Zeitung gehört, an den Rat der Stadt und den Rat des Kreises gegangen, an alle Parteien (mit Ausnahme der Genossen), an die Museen und das Theater, an die Guelfen und Ghibellinen. Pünktlich jedoch waren nur die Alt-Offiziellen erschienen, während all jene, die sich uns auf natürliche Weise zugehörig fühlten — wir empfingen in den Räumen des Neuen Forums —, auf sich warten ließen, weil sie unsere Zeitung verkauft und ausgeliefert hatten.

Selbst die» Bonzen«, wie der Prophet sie später nannte, zeigten sich irritiert. Entweder wollten sie nicht miteinander reden, sondern lieber mit den» neuen Kräften«, oder sie reagierten verängstigt. Als ich dem Bürgermeister vorschlug, demnächst ein Interview mit ihm zu führen, nahm er seine Brille ab, rieb sich lange die Augen und fragte:»Was wollen Sie denn noch von mir?«Bevor ich antworten konnte, rief er:»Wissen Sie, was ich tun werde? Nichts werde ich tun! Ich hab schon viel zuviel getan!«Leider waren auch Jörg und Georg nicht gerade in Best-form. Jörg hatte an der Hand des Bürgermeisters gezappelt und kaum die Zähne auseinanderbekommen, um sich für das monströse Alpenveilchen zu bedanken. Georg hatte ernst wie Don Quichotte auf seine Gratulanten herabgeblickt, verwundert, daß jene, gegen die er ins Feld ziehen wollte, sich nun lächelnd zu seinen Füßen wanden. Doch das nur am Rand.

Spätestens nachdem Dr. Schumacher, der Offenburger Oberbürgermeister, umgeben von seiner Corona, den Raum betreten hatte — mit Rosen für die Damen und einem Diktiergerät für uns —, räumten die Bonzen das Feld. Nachdem auch die Offenburger wieder verschwunden waren und allein die eigenen Leute, wie Michaela sie nennen würde, sich noch vergnügten, schlug der Prophet gegen sein Glas, reckte seinen Bart vor und fragte laut:»Was steht im ›Altenburger Wochenblatt‹?«

Seite für Seite gab er eine Inhaltsangabe. Die fiel etwas launig aus, dennoch lachte ich mit — in sicherer Erwartung einer Laudatio. Spätestens bei seiner Verdammung von Jan Steens Anzeige, die er eine Verhöhnung des Zeitungskäufers und Lesers nannte, dämmerte mir, was für eine Unverschämtheit diese Rede war.»Was wollten wir?«donnerte der Prophet, machte eine Pause, in der sein Mund einen neuen Geschmack zu bestimmen suchte, und fragte im Ton bittersten Vorwurfs:»Doch was wollt ihr?«Das war kein rhetorischer Kunstgriff mehr! Aber ein Eklat? Wegen dieses Verrückten?

Jeder von uns bekam sein Fett ab, sogar an meinem Gärtner-Dippel-Artikel mäkelte er herum. Alles, was er bei uns finde, könne er heutzutage auch in der LVZ lesen.

Und schließlich, in Anspielung auf unsere Premierenfeier:»Seid ihr wieder die Knechte der Obrigkeit, die Knechte jener Bonzen, die uns vierzig Jahre lang schikaniert haben?«

Natürlich hatte ich gehofft, daß einer unserer Gäste uns verteidigen würde. Sie lauschten dem Propheten etwas zu bereitwillig, während sie an unserem Wein und Sekt nippten. Nur Wolfgang, der Hüne, und seine Frau schüttelten tapfer den Kopf, aber laut zu protestieren wagten auch sie nicht.

Wahrscheinlich hielten sie Widerspruch für überflüssig und glaubten, durch eine Entgegnung würde man dieser Farce zuviel Bedeutung beimessen.»Was gedenkt ihr zu tun?«hatte der Prophet zum Schluß getönt und war, nach einem Blick in die Runde, schnurstracks zur offenen Tür hinausmarschiert.

Nun amüsierte man sich über ihn, äffte ihn nach und benahm sich ausgelassener als zuvor, ja es wurde sogar getanzt, nachdem Fred im angrenzenden Flur ein Klavier entdeckt und den Deckel» geknackt «hatte. Eben noch froh, daß Barrista der Auftritt dieses Verrückten erspart geblieben war, bedauerte ich jetzt, daß ihn unsere Einladung offenbar nicht mehr rechtzeitig erreicht hatte.

Am Freitag, als Georg bekannte, früher wäre es ihm nie eingefallen, mit den Bonzen Sekt zu trinken, begriff ich erst gar nicht, worauf er hinauswollte. Doch Marion stimmte in die Selbstgeißelung ein. Plötzlich war ihnen wieder kein Artikel gut genug. Es war völlig absurd. Sogar Jörg streute sich Asche aufs Haupt und konnte nicht mehr verstehen, warum sie die Alt-Offiziellen eingeladen hatten. Als ich fragte, wem diese Einladungen denn geschadet hätten, war es erst einmal still.»Unserem Ansehen«, sagte Georg schließlich, und Marion fügte hinzu:»Unserer Würde!«

«Meiner nicht«, antwortete ich, worauf das große Schweigen ausbrach, das wir erst gestern wieder los wurden.

Sei umarmt, Enrico


PS: Am Sonntag sollen wir angeblich von einer protestantischen Kanzel herab als Götzendiener gescholten worden sein — wegen des Horoskops auf der vorletzten Seite!

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