Sonnabend, 17. 2. 90


Lieber Jo!


Jetzt habe ich wieder Deinen Namen getippt, doch jener Mensch, der den letzten Brief an Dich geschrieben hat, selbst derjenige, der vor zweieinhalb Tagen mit den Zeitungsbündeln auf den Markt gezogen ist, erscheint mir heute fremd und kindlich. Erwarte keine Epiphanien! Alles verlief höchst profan. Die Zeitung, die mich beim Korrekturlesen noch so fern und geheimnisvoll anmutete, blätterte ich nun durch, erleichtert allein darüber, daß es keine weißen Stellen gab. Es mußte schnell gehen. Die Fahrer standen sich seit Mittag die Beine in den Bauch. Die Freiwilligen aus der» klartext«-Zeit hatten die Kaufhallen unter sich aufgeteilt. Das Telephon klingelte unentwegt. Nicht mal den Sekt, auf dem Jörg bestanden hatte, habe ich ausgetrunken. Von Georg bekam Robert eine Schaffnertasche samt einem Vorrat an Groschen überreicht. Ich hängte mir eine alte Knautschlackledertasche um, den Schulterriemen quer über der Brust. Dann hasteten wir, jeder mit zwei Bündeln zu je 250 Exemplaren, durch den Nieselregen.

Auf dem Markt, nahe der Sporenstraße, setzten wir die Bündel ab und massierten die betäubten, von blauroten Striemen gezeichneten Finger. Fünf Verkaufsstände drängten sich aneinander, als ängstigten sie sich vor der Weite des Marktes. Uns am nächsten siedelte ein Obst- und Gemüsehändler. Das D-Mark-Schild über der paradiesischen Pracht war so groß wie überflüssig. Die Namen der exotischen Früchte, die er ausrief, hätten ebensogut orientalische Gewürze bezeichnen können. Das eigentlich Märchenhafte aber waren die Tomaten und Gurken, die Birnen und Weintrauben. Die wenigen über den Platz verstreuten Leute konnten kaum der Anlaß seines Rufens sein. Die Geschultheit seiner Stimme trieb die Künstlichkeit der Szene auf die Spitze. Er hätte auch Arien schmettern können.

Ich versuchte, den Knoten an meinem Paket zu öffnen, ließ aber niemanden, der sich uns näherte, aus den Augen. Ich erwartete, jede und jeder würde stehenbleiben und fragen, ob wir die neue Zeitung, das» Altenburger Wochenblatt«, verkauften. Robert starrte auf meine Hände. Er war bereits so unsicher geworden, daß er gar nicht auf die Idee kam, mir sein Taschenmesser zu geben. Bereitwillig ließ er sich dann einen Packen über den Unterarm legen. Ich stellte mich neben ihn und entfaltete die Zeitung, den Titel auf Augenhöhe.

Nachdem die ersten an uns vorübergelaufen waren, ohne sich nach dem Blatt zu erkundigen, riet ich Robert, die Leute anzusprechen. Er müsse schon sagen, was er da hätte. Statt den Mund aufzumachen, spreizte er nun, sobald sich jemand näherte, wie ein ungeschickter Kellner seinen Zeitungsarm weiter ab. Michaela hatte es unverantwortlich gefunden, ihn» zur Kinderarbeit zu verführen«. Um ihn jetzt wegzuschicken, war es zu spät, er mußte einfach durchhalten.

Schließlich blieb mir nichts anderes übrig, als ihm zu zeigen, wie er es machen sollte. Ich ließ niemanden aus. Ich fixierte die Leute, lächelte und sprach sie an. Auch wer weiter entfernt vorüberging, entkam mir nicht.»Kennen Sie schon das neue ›Altenburger Wochenblatt‹?«rief ich. Niemand blieb stehen, niemand kaufte. Sie sahen mich nicht mal an. Erst am Vortag war ein großer Artikel über uns auf der Kreisseite der LVZ52 erschienen. Selbst die fanden uns wichtig.

Ab und zu wurde ein Fischbrötchen gekauft. Ich weiß nicht, wie mir allein zumute gewesen wäre. Roberts Gegenwart quälte mich.

Plötzlich kam eine ältere Frau, ihren Einkaufsbeutel hin und her schlenkernd, auf uns zu und fragte, was wir denn da hätten.

«Na ja«, sagte sie und betrachtete die Titelseite. Ihr Mantel war falsch geknöpft und hing schief.»Dann geben Sie mal her. «Ihr Arm tauchte bis zum Ellbogen in den Einkaufsbeutel. Ich verlangte neunzig Pfennig und überreichte ihr eine Zeitung aus der Mitte des Stapels. Ihr Zeigefinger stocherte im Kleingeld, bis sie ein Markstück fand. Ich ließ einen Groschen in ihre ausgestreckte Hand fallen. Nachdem sie die Zeitung gefaltet und in ihrem Beutel verstaut hatte, sah sie mich an, als wollte sie sich vergewissern, mit wem sie es zu tun gehabt hatte, und ging nach einem lauten» Wiedersehen «weiter.

Es funktioniert, dachte ich. Schon dieser eine Erfolg machte mich süchtig. Ich brauchte mehr davon. Die Mark gab ich Robert.

Kurz darauf hatte ich erneut Glück. Ein schlanker Mann mit glatten schwarzen Haaren hielt mir ein Markstück entgegen, winkte ab, als ich den Groschen hochhielt, und lächelte derart herzlich, daß seine Augen wie bei einem Kater hinter schrägen Schlitzen verschwanden.

Danach verlor ich alle Bedenken, trat auf zwei Frauen zu und fragte, ob sie das» Altenburger Wochenblatt«, die neue Zeitung für das Altenburger Land, schon hätten. Ich hielt mich an die jüngere. Erst als ich unmittelbar vor ihr stand, bemerkte ich die unzähligen Fältchen in ihrem Gesicht, unter denen ihre mädchenhaften Züge verschwammen. Sie griff bereits nach dem Portemonnaie, als mich ihre ganz in Schwarz gekleidete Begleiterin anfuhr, was das denn sei.»Ist doch nicht wichtig!«unterbrach mich die Schwarze.»Ist nicht wichtig!«Mit dem Handrücken schlug sie gegen die Zeitung und rief:»Neunzig Pfennig? Neunzig Pfennig!«

«Neunzig Pfennig«, beharrte ich und hätte in diesem Moment nur die Mark vom Handteller der Sanften nehmen müssen.

«Ist doch nicht wichtig! Nicht wichtig!«

Die Hand schloß sich langsam, und ich starrte auf die kleine Faust, die zart, ja porzellanhaft wirkte.

Wut und Verzweiflung stiegen in mir auf.»›Altenburger Wochenblatt‹!«schrie ich den beiden Frauen nach.»›Altenburger Wochenblatt‹!«Man muß mich noch an der Martin-Luther-Kirche53 gehört haben.

Ach, Jo! Du wirst nicht verstehen, wie ich mich wegen einer Lappalie so gebärden konnte. Doch auf einmal war alles wieder da, das letzte halbe Jahr, die Angst, die Verzweiflung, die Vorwürfe, der Horror des Theaters, der Horror meines Krankenzimmers, meine Mutter, Michaela, Vera, die ganze Bodenlosigkeit. Und neben mir Robert, der sich auf die Bündel, auf eintausend Zeitungen gesetzt hatte!

Ich verlor alle Scheu! Ich verstand erst gar nicht, woher der Rhythmus kam, in dem ich AL-TEN-BUR-GER-WO-CHEN-BLATT skandierte! Ich hämmerte, klopfte, schlug der Schwarzen jede Silbe meines Trochäus mit gleicher Kraft ins Kreuz, AL-TEN-BUR-GER-WO-CHEN-BLATT. Ich tat es für Robert, für mich, für Michaela, für Georg und Jörg, für Mutter, für Vera, für die Stadt, für das ganze Land. Nach jedem Vers atmete ich freier. Jemand hielt mir ein Zweimarkstück vor die Nase, er verlangte tatsächlich zwei Zeitungen und kein Wechselgeld. Und auch Robert wurde sein erstes Exemplar los. Zusammen verkauften wir kurz hintereinander fünf Zeitungen. Als würde ich nun nachholen, was ich im Herbst versäumt hatte, rief ich ALTEN-BUR-GER-WO-CHEN-BLATT auf die Hammerschläge von NEU-ES-FO-RUM-ZU-LAS-SEN! Das war jetzt meine Revolution!

Der Obsthändler fühlte sich offenbar herausgefordert und antwortete mit einem sirenenartigen Geheul.

Zehn Minuten später bezog ich mit zwei Bündeln auf Höhe des Rathauses Posten. Von dort aus erschienen mir die Marktstände wie die heimatliche Küste. Ich weiß nicht, woran es lag, war ich erschöpft, hatte ich mich erkältet, fehlte mir Robert, jedenfalls verloren meine Rufe an Kraft. Nach jedem Vers hielt ich inne, um zu sehen, was geschah.

Ich verlegte meinen Standort erneut, diesmal etwas höher, an die Ecke zum Weibermarkt. Dort gab es mehr Leute. Und ich sah Robert, wie er den Vorübergehenden die Zeitungen auf seinem Arm entgegenhielt. Ich war für dieses Trauerspiel verantwortlich. Es gehörte nicht viel dazu, sich vorzustellen, wie sein Stolz auf meinen Namen im Impressum, seine Begeisterung für die Landfahrten, seine Bewunderung für die Kunst, eine Zeitung zu machen, wie all das gerade in sich zusammenbrach. Immer hatte ich Angst gehabt, die ganze Sache könnte noch scheitern, an der Genehmigung, an der Druckerei, am Transport, an unserer Unfähigkeit. Nie aber hatte ich einen Gedanken an den Verkauf verschwendet! Wenn ich mich schon bei solchen Dingen irrte, mußte ich da nicht an allem zweifeln, an meinem ganzen Kalkül? Am liebsten hätte ich aller Welt erzählt, daß wir den Erbprinzen nach Altenburg bringen werden. Ja, plötzlich wünschte ich mir den wunderlichen Clemens von Barrista her. Aus irgendeinem Grund fand ich es trostreich, an ihn zu denken. Aber ich blieb stumm, und die Leute gingen vorüber, als wäre ich unsichtbar. Doch dann …

Ich hatte mich bereits so an die Obstsirene gewöhnt, daß ich zunächst gar nichts bemerkte. Etwas allerdings war anders. Sie rief das» Wochenblatt «aus! Was heißt ausrufen!» Woochnblaaaht, Woochnblaaaht, Aaaltnburger Woochnblaaaht!«— er betonte die erste Silbe, verschluckte die zweite, stieg mit dem» aaah «sirenenartig aus dem Abgrund hinauf, um sich dann mit weit aufgerissenem Mund auf das A von Altenburg zu stürzen. Unmißverständlich folgte darauf der Imperativ:»Kauft, Leute, kauft!«und das sogleich beflissen hinzugefügte» Nur neunzig Pfennig! Neunzig Pfennig für das Aaaltnburger Wooochnblaaaht …«Der Schluß war zugleich der Anfang, ein A — O — A, das sich über dem Altenburger Markt in die Lüfte erhob.

Langsam begann sich die Stadt zu beleben, als wäre der Ruf des Obsthändlers bis nach Nord und Süd-Ost54 gedrungen.

Eine Gruppe von Frauen umringte mich — sie alle kauften und wollten keinen Groschen zurück. Zur Unterstützung, wie sie sagten. Eine von ihnen hatte mich als den Herrn Türmer vom Theater identifiziert, der doch in der Kirche geredet hatte.

Meine Glückssträhne hielt an. In wenigen Minuten wurde ich etwa dreißig Exemplare los. Und so ging es weiter! Ich mußte nur die Zeitung hochhalten und nach dem» Wochnblaaaht «der Obstsirene den Begriff wiederholen, als erklärte ich den Umstehenden: Wochenblatt, er meint unser» Wochenblatt«. Und dann — zuerst glaubte ich, eine Frau zu hören — erkannte ich in dem» Wochnblaat, Wochnblaat!«Roberts Stimme.

Ich brauchte nichts mehr zu sagen, von nun an kauften die Leute von selbst.

Zum Schluß war es so dunkel, daß ich kaum noch die Gesichter unterschied. Das Wechselgeld konnte ich bereits blind herausgeben, die Scheine stopfte ich in die Hosentasche. Meine Füße waren eiskalt, die Zehen spürte ich gar nicht mehr. Die Knautschlackledertasche hing mir schwer am Hals. Und was glaubst Du, an wen ich mein letztes Exemplar verkaufte? Ja, an Clemens von Barrista. Aber er und sein Wolf schienen mich in der Dunkelheit nicht wiederzuerkennen. Oder sollte ich mich geirrt haben?

Robert war noch beschäftigt. Nur an seinem Lächeln, das er nicht unterdrücken konnte, merkte ich, daß er mich gesehen hatte. Erwin, die Obstsirene, wollte nichts von Dank wissen. Er gab mir einen Zettel, eine Annonce. Die sollten wir jede Woche bringen — und überreichte mir einen D-Mark-Hunderter! Roberts restliche Zeitungen überließen wir ihm, die wollte er zu Hause in Fürth verteilen.

Mit leeren Händen traten wir den Heimweg an, die prallvollen Taschen schlugen uns bei jedem Schritt gegen die Hüfte. Tausend war Rekord, ein Zwanzigstel der Auflage. In vier Stunden hat Robert neunzig Mark verdient (20 Pfennig pro Exemplar), dazu das Trinkgeld.

Jo, mein Lieber! Es ist solch ein Glück, wenn man etwas Selbstgemachtes verkauft! Mein Lorbeerkranz ist das Eichenlaub auf jeder Münze!

Dein E.


PS: Euer Exemplar kommt mit Streifband. Die Photos sind leider sehr dunkel.

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