Joonas dichte Haare sind immer noch klatschnass, als er die Tür zu Saal 11 öffnet, wo Nathan Pollock vor einer exklusiven Gruppe von Männern und Frauen, die eine Spezialausbildung für den Einsatz bei Geiselnahmen absolvieren, eine Vorlesung hält.
An die Wand hinter Pollock ist mithilfe eines Notebooks eine anatomische Tafel vom menschlichen Körper projiziert worden. Auf einem Tisch liegen sieben verschiedene Handfeuerwaffen aufgereiht, angefangen bei einer kleinen silbrigen Sig Sauer P238 bis zu einem mattschwarzen Sturmgewehr der Marke Heckler & Koch mit einem 40-Millimeter-Granatwerfer.
Einer der jungen Polizisten steht vor Pollock, der ein Messer zieht, es verdeckt am Körper hält, nach vorn eilt, einen Schnitt an der Kehle des Polizisten andeutet und sich anschließend an die Gruppe wendet.
»Der Nachteil eines solchen Schnitts besteht darin, dass der Feind unter Umständen schreit, dass die Bewegungen seines Körpers nicht kontrolliert werden können und das Verbluten eine gewisse Zeit dauert, weil nur eine Arterie geöffnet wird«, erläutert Pollock.
Er tritt erneut zu dem jungen Polizisten und legt den Arm so um sein Gesicht, dass sich die Armbeuge um den Mund des Mannes schließt.
»Wenn ich dagegen so vorgehe, kann ich einen möglichen Schrei ersticken, den Kopf kontrollieren und beide Arterien mit einem einzigen Schnitt öffnen«, erklärt er.
Pollock lässt den jungen Polizisten los und sieht, dass Joona Linna an der Tür steht. Er muss hereingekommen sein, als er den Griff demonstriert hat. Der junge Polizist streicht sich über den Mund und kehrt zu seinem Platz zurück. Pollock lächelt breit und winkt Joona zu, weil er möchte, dass dieser nach vorne kommt, aber Joona schüttelt den Kopf.
»Ich müsste mal kurz mit dir reden, Nathan«, sagt er leise.
Einige Polizisten drehen sich um und sehen ihn an. Pollock geht zu ihm, und sie geben sich die Hand. Joonas Jackett ist von dem Wasser, das ihm in den Nacken gelaufen ist, dunkel verfärbt.
»Tommy Kofoed hat bei Palmcrona Fußabdrücke gesichert«, sagt Joona. »Ich muss wissen, ob er dabei etwas Unerwartetes gefunden hat.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass es so eilig ist«, antwortet Nathan mit gedämpfter Stimme. »Wir haben natürlich alle Folienabdrücke fotografiert, sind aber noch nicht dazu gekommen, die Ergebnisse auszuwerten. Ich habe nicht den geringsten Überblick …«
»Aber du hast etwas gesehen.«
Als ich die Bilder auf dem Computer abgespeichert habe … Es könnte da ein Muster geben, aber es ist noch zu früh, um …«
»Sag es einfach – ich muss los.«
»Es gibt anscheinend Abdrücke von zwei verschiedenen Schuhpaaren in zwei Kreisen rund um den Körper.«
»Begleite mich zu Åhlén«, bittet Joona ihn.
»Jetzt?«
»Ich muss in zwanzig Minuten da sein.«
»Mist, ich kann nicht«, erwidert Nathan und macht eine Geste in den Raum hinein. »Aber mein Handy ist an, falls du mich etwas fragen musst.«
»Danke«, sagt Joona, dreht sich zur Tür um und will gehen.
»Du möchtest dieser Truppe hier nicht kurz Guten Tag sagen?«, erkundigt sich Nathan.
Alle haben sich bereits umgedreht, und Joona winkt den Beamten kurz zu.
»Das hier ist Joona Linna, von dem ich euch schon erzählt habe«, sagt Nathan Pollock mit erhobener Stimme. »Ich versuche, ihn zu überreden, eine Gastvorlesung über Nahkampf zu halten.«
Es wird still, alle sehen Joona an.
»Die meisten von euch wissen wahrscheinlich deutlich mehr über Kampfsport als ich«, sagt Joona schmunzelnd. »Aber eins habe ich immerhin gelernt … wenn es ernst wird, gelten plötzlich völlig andere Regeln, dann ist es nur noch Kampf und kein Sport.«
»Hört gut zu«, sagt Pollock.
»In der Realität überlebt man nur, wenn man in der Lage ist, sich neuen Gegebenheiten anzupassen und sie zum eigenen Vorteil zu nutzen«, fährt Joona ruhig fort. »Trainiert, diese Gegebenheiten auszunutzen. Ihr befindet euch beispielsweise in einem Auto oder auch auf einem Balkon. Der Raum könnte voller Tränengas sein, der Fußboden ist vielleicht von Glasscherben übersät. Verschiedene Waffen könnten im Spiel sein. Vielleicht befindet ihr euch am Anfang einer Ereigniskette, vielleicht an deren Ende. Vermutlich muss man mit seinen Kräften haushalten, um weiterarbeiten zu können, unter Umständen eine ganze Nacht lang … Sprungtritte oder coole Roundkicks kommen da nicht infrage.«
Einige der Polizisten lachen.
»Bei einem Nahkampf ohne Waffen«, fährt Joona fort, »geht es oft darum, ein gewisses Maß an Schmerz zu akzeptieren, um den Kampf schnell zu beenden, aber … so gut kenne ich mich da auch wieder nicht aus.«
Joona verlässt den Hörsaal. Zwei Polizisten klatschen. Die Tür schließt sich und es wird still im Raum. Nathan Pollock lächelt in sich hinein, als er zum Tisch zurückkehrt.
»Ich hatte eigentlich vorgehabt, den folgenden Filmausschnitt für eine spätere Gelegenheit aufzuheben«, sagt er und klickt etwas auf dem Bildschirm seines Computers an. »Diese Aufnahme ist heute schon ein Klassiker. Sie stammt von der Geiselnahme in der Nordea-Bankfiliale in der Hamngatan vor neun Jahren. Zwei Bankräuber. Joona Linna hat die Geiseln bereits befreit und einen der Täter, der mit einer Uzi bewaffnet war, unschädlich gemacht. Es war ein ziemlich heftiger Schusswechsel. Der zweite Täter hat sich versteckt, ist aber nur mit einem Messer bewaffnet. Die Täter haben alle Überwachungskameras zugesprayt, diese jedoch übersehen … Wir sehen uns das Ganze in Zeitlupe an, denn es geht nur um ein paar Sekunden.«
Pollock startet den Film in Zeitlupe. Eine körnige Videoaufnahme, von schräg oben gefilmt. Man sieht eine Bankfiliale. Am unteren Rand des Bilds laufen die Sekunden mit. Möbel sind umgekippt, Papiere und Formulare liegen auf dem Boden. Joona schiebt sich geschmeidig seitwärts, hat die Pistole erhoben, den Arm gestreckt. Seine Bewegungen sind langsam, als befände er sich unter Wasser. Der Bankräuber versteckt sich hinter der weit geöffneten Tür zum Tresorraum und hält ein Messer in der Hand. Plötzlich rennt er mit großen, fließenden Sätzen los. Joona richtet die Pistole auf ihn, zielt auf den Brustkorb und drückt ab.
»Die Pistole klemmt«, kommentiert Pollock. »Eine beschädigte Patrone hängt im Lauf fest.«
Die körnige Videoaufnahme flimmert. Joona weicht zurück, während der Mann mit dem Messer auf ihn zuläuft. Das Ganze ist gespenstisch still, alles scheint zu schweben. Joona löst das Magazin, es fällt zu Boden. Er sucht nach einem neuen, merkt aber, dass ihm dazu keine Zeit mehr bleibt. Stattdessen dreht er die unbrauchbar gewordene Pistole in der Hand so, dass der Lauf in einer Linie mit den kräftigen Knochen des Unterarms liegt.
»Ich verstehe nicht«, sagt eine Frau.
»Er verwandelt die Pistole in einen Tonfa«, erklärt Pollock.
»In einen was?«
»Das ist eine Art Schlagstock, wie ihn amerikanische Polizisten häufig benutzen, er verlängert die Reichweite und verstärkt die Kraft des Schlags, indem er die Trefferfläche verkleinert.«
Der Mann mit dem Messer hat Joona erreicht. Er macht einen großen, zögernden Schritt. Die Klinge glänzt auf ihrer halbkreisförmigen Bahn zu Joonas Rumpf. Die zweite Hand ist erhoben und folgt der Körperdrehung. Joona beachtet das Messer gar nicht und macht stattdessen einen großen Satz nach vorn und schlägt in derselben Bewegung eine Gerade. Er trifft den Bankräuber mit der Mündung der Pistole direkt unter dem Adamsapfel am Hals.
Das Messer fliegt träumerisch wirbelnd zu Boden, und der Mann fällt auf die Knie, reißt den Mund auf, hält sich den Hals und kippt nach vorn.