30 Der Schmerz

Joona Linna und Nathan Pollock parken auf der Hornsgatan und werfen einen kurzen Blick auf den schlechten Computerausdruck des Fotos von Daniel Marklund. Sie steigen aus dem Wagen, überqueren rasch die stark befahrene Straße und treten durch die Eingangstür eines kleinen Theaters.

Das Theater »Tribunal« ist eine freie Theatergruppe mit einkommensabhängigen Eintrittspreisen, die von der »Orestie« bis zu »Das kommunistische Manifest« eine Reihe großer Inszenierungen auf die Bühne gebracht hat.

Joona und Nathan eilen die breite Treppe zur Bar und Theaterkasse hinunter. Eine Frau mit glatten schwarz gefärbten Haaren und einem silbernem Ring in der Nase lächelt sie an. Sie erwidern ihr Lächeln freundlich, gehen jedoch wortlos an ihr vorbei.

»Suchen Sie jemanden?«, ruft sie, als sie die ersten Stufen der Metalltreppe hinaufsteigen.

»Ja«, antwortet Nathan Pollock fast lautlos.

Sie gelangen in ein unaufgeräumtes Büro mit einem Kopierer, einem Schreibtisch und einer Pinnwand mit Zeitungsausschnitten. An einem Computer sitzt ein schlanker Mann mit verfilzten Haaren und einer noch nicht angezündeten Zigarette im Mundwinkel.

»Hallo Richard«, sagt Pollock.

»Wer sind Sie?«, fragt der Mann zerstreut und wendet den Blick anschließend wieder dem Computerbildschirm zu.

Sie setzen ihren Weg in die Garderoben der Schauspieler mit säuberlich aufgehängten Kleidern, Schminktischen und Waschgelegenheiten fort.

Auf einem Tisch steht in einer Vase ein Blumenstrauß.

Pollock schaut sich um und zeigt anschließend eine bestimmte Richtung an. Dann gehen sie zu einer Stahltür mit der Aufschrift »Stromzentrale«.

»Dahinter soll es sein«, meint Pollock.

»Im Stromkasten eines Theaters?«

Pollock antwortet ihm nicht, sondern bricht das Schloss auf. Sie blicken in einen engen Verschlag mit Stromzählern, Sicherungskästen und jeder Menge Umzugskartons. Die Deckenlampe funktioniert nicht, aber Joona klettert über die Kartons, trampelt auf Papptüten voller Lumpen und findet hinter aufgehängten Verlängerungskabeln eine weitere Tür. Sie führt in einen Gang mit nackten Betonwänden. Nathan Pollock folgt ihm. Die Luft ist stickig. Es riecht nach Müll und feuchter Erde. In der Ferne hört man Musik, einen schwer zu erfassenden Bassrhythmus. Auf dem Fußboden liegt ein Flugblatt, auf dem Che Guevara mit einer brennenden Zündschnur auf dem Kopf abgebildet ist.

»Die Brigade hält sich hier seit etwa zwei Jahren versteckt«, sagt Pollock leise.

»Ich hätte etwas Gebäck mitbringen sollen.«

»Versprich mir bitte, dass du vorsichtig bist.«

»Meine einzige Sorge ist, dass Daniel Marklund doch nicht hier sein könnte.«

»Das ist er, anscheinend ist er fast immer hier.«

»Danke für deine Hilfe, Nathan.«

»Soll ich nicht lieber doch mitkommen?«, fragt Pollock. »Dir bleiben nur ein paar Minuten, denn wenn der Staatsschutz die Räume stürmt, könnte es gefährlich werden.«

Joonas graue Augen werden schmal, aber seine Stimme ist sanft, als er sagt:

»Ich will sie nur besuchen.«

Nathan kehrt ins Theater zurück und hustet, als er die Tür hinter sich zuzieht. Joona bleibt kurz in dem leeren Gang stehen, zieht dann seine Pistole, überprüft, dass das Magazin voll ist, und steckt sie ins Halfter zurück. Er geht zur Stahltür am Ende des Korridors.

Die Tür ist abgeschlossen, und es verstreichen kostbare Sekunden, als er das Schloss aufbricht. In den blauen Lack hat jemand in sehr kleinen Buchstaben »Die Brigade« geritzt, beide Worte kaum größer als zwei Zentimeter.

Joona drückt die Klinke herunter, öffnet vorsichtig die Tür und wird von lauter, kreischender Musik empfangen, die wie eine elektronisch bearbeitete Version von Jimi Hendrix’ »Machine Gun« klingt. Die Musik übertönt alle anderen Geräusche, die kreischenden Gitarrentöne haben einen träumerischen, wogenden Rhythmus.

Joona schließt die Tür hinter sich und eilt im Laufschritt durch einen Raum voller Gerümpel, Bücher- und Zeitungsstapel reichen bis zur Decke. Es ist fast dunkel, aber Joona ahnt, dass die Haufen in dem Raum ein System aus Gängen bilden, ein Labyrinth, das zu neuen Türen führt.

Er eilt durch diese Passage, tritt in bleiches Licht und geht weiter geradeaus, bis der Gang sich teilt und er sich für rechts entscheidet, dann aber rasch wieder kehrtmacht.

Er glaubt, etwas gesehen zu haben, eine hastige Bewegung, einen Schatten,der sofort wieder aus dem Augenwinkel verschwand.

Er ist sich nicht sicher.

Joona geht weiter, bleibt an einer Ecke jedoch stehen und versucht, etwas zu sehen. Eine nackte Glühbirne baumelt an ihrem Kabel von der Decke herab.

Durch die Musik hindurch hört Joona plötzlich einen Schrei, einen Menschen, der hinter schalldämpfenden Wänden brüllt. Er bleibt stehen, geht ein Stück zurück und blickt in einen engen Gang, in dem ein Stapel Illustrierte seitlich umgekippt ist und auf dem Fußboden verstreut liegt.

Joona spürt die Kopfschmerzen, er hätte etwas essen sollen, ein paar Stücke dunkle Schokolade würden schon reichen. Er steigt über die heruntergefallenen Zeitschriften und erreicht eine Wendeltreppe, die zum unteren Stockwerk hinabführt. Es riecht nach süßlichem Rauch. Er hält sich am Geländer fest und versucht, möglichst schnell hinunterzuschleichen, hört aber, dass die Metalltreppe trotzdem Geräusche macht. Auf der untersten Stufe bleibt er vor einem schwarzen Samtvorhang stehen und legt seine Hand auf die Pistole im Halfter.

Hier ist die Musik leiser.

Durch einen Spalt im Vorhang dringt zusammen mit dem schweren Geruch von Hasch und Schweiß rotes Licht zu ihm hinaus. Joona versucht, etwas zu sehen, aber sein Blickfeld ist begrenzt. In einer Ecke steht ein Plastikclown mit einer roten Glühbirne als Nase. Joona zögert zwei Sekunden und betritt den Raum durch den schwarzen Samtvorhang. Sein Puls geht schneller, die Kopfschmerzen werden stärker. Er schaut sich um. Auf dem glatten Betonboden liegen eine doppelläufige Schrotflinte und ein offener Karton mit Flintenlaufgeschossen – schwere, solide Bleikugeln, die große Fleischwunden hinterlassen. Auf einem Bürostuhl sitzt ein nackter Mann. Er raucht mit geschlossenen Augen. Es ist nicht Daniel Marklund. Eine blonde Frau mit entblößten Brüsten lehnt halb aufgerichtet an der Wand, um die Hüfte hat sie eine Militärdecke geschlungen. Sie begegnet Joonas Blick, wirft ihm eine Kusshand zu und trinkt unbeeindruckt einen Schluck Bier aus einer Büchse.

Durch die einzige Türöffnung schallt ihm ein neuerlicher Schrei entgegen.

Joona lässt die beiden nicht aus den Augen, als er die Schrotflinte nimmt, die Mündung auf den Boden richtet und so auf den Lauf tritt, dass dieser einen Knick bekommt.

Die Frau stellt ihre Bierbüchse ab und kratzt sich geistesabwesend unter den Achseln.

Joona legt vorsichtig das Gewehr ab, durchquert an der Frau auf der Matratze vorbei den Raum und gelangt in einen Gang mit einer niedrigen Decke aus Kaninchendraht vor gelber Glaswolle. Der schwere Rauch einer Zigarre hängt in der Luft. Eine helle Lampe ist auf ihn gerichtet und er versucht, das Licht mit einer Hand abzuschirmen. Am Ende des Gangs hängen breite Plastiklamellen. Joona ist geblendet und kann nicht richtig sehen, was dort vorgeht. Er erahnt Bewegungen und hört eine eingeschüchterte, hallende Stimme. Plötzlich schreit in seiner Nähe jemand laut auf. Es ist ein tiefer, kehliger Laut, gefolgt von schnellen keuchenden Atemzügen. Joona schleicht schnell weiter, lässt die Lampe hinter sich und kann plötzlich in das Zimmer hinter den dicken Plastiklamellen sehen.

Der Raum ist verraucht, träge Schleier bewegen sich durch die stehende Luft.

Eine kleine, muskulöse Frau in einer schwarzen Jeans und einem braunen T-Shirt steht vor einem Mann in Unterhose und Strümpfen. Das Gesicht der Frau wird von einer Kapuze verdeckt. Der Schädel des Mannes ist kahl rasiert und auf seine Stirn sind die Worte »Weiße Macht« tätowiert. Er hat sich in die Zunge gebissen. Blut rinnt über sein Kinn, den Hals und den dicken Bauch.

»Bitte«, flüstert er und schüttelt den Kopf.

Joona sieht die qualmende Zigarre in der herabhängenden Hand der Frau. Ohne Vorwarnung geht sie zu dem Mann und presst die Glut gegen das Tattoo auf seiner Stirn, sodass er losbrüllt. Der dicke Bauch und die hängenden Brüste zittern. Er bepinkelt sich, ein dunkler Fleck breitet sich auf der blauen Unterhose aus und Urin läuft an seinem nackten Bein herab.

Joona hat seine Pistole gezogen, nähert sich dem Spalt zwischen den dicken Plastiklamellen und versucht herauszubekommen, ob sich weitere Personen im Raum aufhalten. Er kann niemanden entdecken, öffnet den Mund, um zu rufen, und sieht plötzlich seine Pistole zu Boden fallen.

Klirrend fällt sie auf den nackten Beton und bleibt vor den Plastiklamellen liegen. Erstaunt betrachtet er seine Hand und sieht sie zittern, und im nächsten Moment kommt der wütende Schmerz. Joona sieht nichts mehr, spürt nur eine schwere, zerstörerische Bewegung hinter seiner Stirn. Ungewollt entfährt ihm ein Stöhnen, und er muss sich mit einer Hand an der Wand abstützen. Er spürt, dass er kurz davor ist, das Bewusstsein zu verlieren, aber noch hört er die Stimmen der Menschen hinter dem Plastik.

»Verdammt noch mal«, schreit die Frau mit der Zigarre. »Sag mir einfach, was zum Teufel du gemacht hast.«

»Ich weiß es nicht mehr«, antwortet der Neonazi unter Tränen.

»Was hast du gemacht?«

»Ich war gemein zu einem Jungen.«

»Genauer!«

»Ich habe ihm das Auge verbrannt.«

»Mit einer Zigarette«, sagt sie. »Einem zehnjährigen Jungen …«

»Ja, aber ich …«

»Warum? Was hat er getan?«

»Wir sind ihm von der Synagoge aus gefolgt und …«

Joona merkt nicht, dass er einen schweren Feuerlöscher von der Wand reißt. Er verliert jegliches Zeitgefühl. Der ganze Ort wird ausgelöscht. Außer dem Schmerz in seinem Kopf und einem hohen, klingelnden Ton im Ohr existiert nichts mehr.

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