Göran Stone lächelt Joona an und zieht einen Umschlag aus seiner Tasche, öffnet ihn und schüttelt den beschlagnahmten Schlüssel in seine hohle Hand. Saga Bauer steht noch mit gesenktem Blick vor der Aufzugtür. Die drei befinden sich vor Carl Palmcronas Wohnung in der Grevgatan 2.
»Unsere Kriminaltechniker kommen morgen«, sagt Göran.
»Weißt du, um wie viel Uhr?«, erkundigt sich Joona.
»Um wie viel Uhr, Saga?«, fragt Göran.
»Ich glaube, dass wir …«
»Du glaubst?«, unterbricht er sie. »Du musst doch wissen, wann.«
»Um zehn«, antwortet sie leise.
»Du hast ihnen doch hoffentlich gesagt, dass ich will, dass sie mit dem Computer und dem Telefon anfangen?«
»Ja, ich habe ihnen gesagt, dass …«
Als sein Handy klingelt, bringt Göran Stone sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er meldet sich und macht ein paar Schritte die Treppe hinunter, stellt sich in die Nische vor dem Fenster mit den rotbraunen Scheiben und spricht.
Joona wendet sich Saga zu und fragt mit gedämpfter Stimme:
»Leitest du nicht die Ermittlungen?«
Saga schüttelt den Kopf.
»Was ist passiert?«, fragt Joona.
»Ich weiß es nicht«, antwortet sie. »Es ist immer dasselbe, dabei ist es nicht einmal Görans Spezialgebiet, er hat noch nie im Bereich Terrorbekämpfung gearbeitet.«
»Und was gedenkst du dagegen zu tun?«
»Da gibt es nichts zu …«
Sie verstummt, als Göran Stone sein Gespräch beendet und wieder zu ihnen kommt. Saga streckt die Hand aus, um den Schlüssel zu Palmcronas Tür zu bekommen.
»Den Schlüssel«, sagt sie.
»Was?«
»Ich leite die Ermittlungen.«
»Was sagst du dazu?«, fragt Göran Stone lachend an Joona gewandt.
»Du bist sicher in Ordnung, Göran«, sagt Joona. »Aber ich habe kürzlich in einer Besprechung mit unseren Chefs zusammengesessen und zugestimmt, mit Saga Bauer zusammenzuarbeiten …«
»Sie darf ruhig mitkommen«, sagt Göran Stone hastig.
»Als Ermittlungsleiterin«, wirft Saga ein.
»Wollt ihr mich etwa loswerden – oder was soll das jetzt, verdammt noch mal?«
»Du darfst gerne mitkommen, wenn du willst«, antwortet Joona.
Saga nimmt Göran den Schlüssel aus der Hand.
»Ich rufe Verner an«, sagt der und geht die Treppe hinunter.
Sie hören seine Schritte im Treppenhaus, dass er mit seinem Chef telefoniert, seine Stimme immer aufgebrachter wird und er schließlich »Fotzen« brüllt, dass es nur so hallt.
Saga verkneift sich ein Lächeln, sammelt sich und steckt den Schlüssel ins Schloss, dreht ihn zweimal um und öffnet die schwere Tür.
Da keine Anhaltspunkte für ein Verbrechen gefunden werden konnten, wurde die Absperrung aufgehoben. Als Nils Åhléns Obduktionsbericht vorlag, wurden die Ermittlungen sofort eingestellt. Die Obduktion hatte in jedem Punkt Joona Linnas Annahmen zum Ablauf des Selbstmords bestätigt. Carl Palmcrona hatte sich das Leben genommen, indem er sich an einer Wäscheleine mit Schlinge erhängt hatte, die in seiner Wohnung vom Lampenhaken an der Decke herabhing. Man hatte die Untersuchung des Tatorts abgebrochen, und die Proben, die man an das Staatliche kriminaltechnische Labor in Linköping geschickt hatte, wurden niemals analysiert.
Mittlerweile war jedoch bekannt geworden, dass Björn Almskog Palmcrona, einen Tag bevor er erhängt aufgefunden wurde, einen Brief geschrieben hatte.
Am Abend desselben Tages wurde Viola Fernandez auf Björn Almskogs Boot ermordet.
Björn musste das Bindeglied zwischen den beiden Todesfällen sein. Zwei Todesfälle, die man als Selbstmord und Unfall abgeschrieben hätte, ohne jede Verbindung zueinander, wenn die Jacht gesunken wäre.
Saga und Joona betreten den Flur und stellen fest, dass keine Post gekommen ist. Putzmittelgeruch hängt in der Luft. Sie bewegen sich durch die großen Zimmer. Sonnenlicht strömt durch die Fenster herein, und es leuchtet auf dem roten Blechdach des Hauses auf der anderen Straßenseite der Grevgatan. Vom Erker aus kann man auf das glitzernde Wasser der Nybroviken hinausschauen.
Die Trittplatten der Kriminaltechniker sind entfernt und der Fußboden unter dem Lampenhaken in dem leeren Salon ist feucht geputzt worden.
Gemächlich gehen sie über das knarrende Parkett. Seltsamerweise ist das Gefühl, das in Palmcronas Wohnung ein Selbstmord begangen wurde, nicht mehr gegenwärtig. Dieser Ort wirkt alles andere als unbewohnt. Joona und Saga empfinden das Gleiche. Die großen, fast vollständig unmöblierten Zimmer sind von einer Art gepflegter Stille erfüllt.
»Sie kommt immer noch hierher«, meint Saga plötzlich.
»Exakt«, erwidert Joona schnell und lächelt. »Die Haushälterin ist hier gewesen und hat geputzt, gelüftet, die Post hereingetragen, das Bett frisch bezogen und so weiter.«
Beide denken, dass dies bei einem plötzlichen Todesfall nicht weiter ungewöhnlich ist. Man leugnet, dass sich das eigene Leben verändert hat. Statt das Neue zu akzeptieren, behält man die alten Verhaltensmuster bei.
Es klingelt an der Tür. Saga wirkt besorgt, folgt Joona aber dennoch in den Flur.
Die Wohnungstür wird von einem Mann mit rasiertem Schädel geöffnet, der einen schwarzen schlabberigen Trainingsanzug trägt.
»Joona hat mir gesagt, dass ich den Hamburger wegwerfen und sofort herkommen soll«, sagt Johan.
»Darf ich vorstellen, Johan Jönson von der IT-Abteilung«, stellt Joona ihn Saga vor.
»Joona furr Auutto«, sagt der mit übertrieben finnischem Akzent. »Die Straße machte eine Kurve, Joona aber nicht.«
»Saga Bauer ist Kommissarin beim Staatsschutz«, sagt Joona.
»Sollen wir lapern oder joppen?«, fragt Johan Jönson.
»Hör auf mit dem Quatsch«, befiehlt Saga.
»Wir müssen uns Zugang zu Palmcronas Computer verschaffen«, erläutert Joona. »Wie lange wirst du dafür brauchen?«
Sie gehen ins Arbeitszimmer.
»Wird er eventuell noch als Beweis benötigt?«, erkundigt sich Johan Jönson.
»Ja«, antwortet Joona.
»Ihr wollt also, dass ich den Computer klone?«, fragt Johan Jönson.
»Wie lange dauert das?«
»Du hast genug Zeit, um ein paar Witze über den Staatsschutz zu reißen«, antwortet Johan, ohne sich von der Stelle zu rühren.
»Was ist eigentlich los mit dir?«, fragt Saga gereizt.
»Darf man fragen, ob du mit jemandem zusammen bist?«, fragt Johan Jönson mit einem verlegenen Lächeln.
Sie sieht ihm in die Augen und nickt ernst. Er senkt den Blick, murmelt etwas und verschwindet anschließend in Carl Palmcronas Arbeitszimmer.
Sie kehren in das Zimmer zurück, in dem die Musik lief, als Palmcrona tot aufgefunden wurde. Joona setzt sich auf eins der Carl-Mamsten-Sofas und hält die Hand in den eisblauen, dünnen Lichtstrahl, der von der Musikanlage ausgeht. Aus den Boxen ertönt plötzlich Musik von einer einzelnen Geige. Ein Virtuose zaubert eine zarte Melodie in den höchsten Tönen, aber mit einem Temperament wie ein nervöser Vogel.
Joona sieht auf die Uhr, lässt Saga bei der Musikanlage sitzen und geht ins Arbeitszimmer. Johan Jönson ist nicht dort, sondern sitzt mit seinem dünnen Notebook auf dem Küchentisch.
»Hat es geklappt?«
»Hä?«
»Konntest du Palmcronas Computer kopieren?«
»Klar, das hier ist ein exakter Klon«, antwortet Johan Jönson, als würde er die Frage nicht richtig verstehen.
Joona geht um den Tisch herum und sieht auf den Bildschirm.
»Kommst du an seine Mails heran?«
Johan Jönson öffnet das Programm.
»Ta da«, sagt er.
»Wir gehen seine Korrespondenz der letzten Woche durch«, fährt Joona fort.
»Sollen wir mit dem Posteingang anfangen?«
»Ja, tu das, tu das.«
»Meinst du, Saga mag mich?«, fragt Johan Jönson plötzlich.
»Nein«, antwortet Joona.
»Was sich liebt, das neckt sich.«
»Du kannst ja mal versuchen, an ihrem Zopf zu ziehen«, sagt Joona und zeigt auf den Computerbildschirm.
Johan Jönson öffnet den Posteingang und verzieht den Mund.
»Jackpot-voitto«, sagt Johan.
Joona sieht drei Mails von skunk@hotmail.com.
»Mach sie auf«, flüstert Joona.
Johan Jönson klickt die erste an, und im selben Moment füllt Björn Almskogs Nachricht den ganzen Bildschirm.
»Jesus Christ Superstar«, flüstert Johan und tritt zur Seite.