Ein einsamer Junge aus Bronze, ganze fünfzehn Zentimeter hoch, sitzt, die Arme um seine angezogenen Knie geschlungen, im Hinterhof der Finnischen Kirche in der Stockholmer Altstadt. Drei Meter von dem Jungen entfernt steht Axel Riessen an eine ockerfarbene Wand gelehnt und isst Nudeln aus einem Pappkarton. Er hat Essen im Mund und winkt mit den Essstäbchen, als Joona und Saga durch das Tor treten.
»Was haben Sie verstanden?«, fragt Joona.
Axel nickt, stellt das Essen auf das Fensterblech der Kirche, wischt sich den Mund mit einer Papierserviette ab und gibt Saga und Joona die Hand.
»Sie sagten, Sie hätten verstanden, worum es bei dem Foto geht«, wiederholt Joona.
Axel senkt den Blick, seufzt und schaut wieder auf.
»Kenia«, sagt er. »Die vier in der Loge stoßen mit Champagner an, weil sie eine Einigung über eine große Lieferung nach Kenia erzielt haben.«
Er verstummt einen Moment.
»Weiter«, sagt Joona.
»Kenia kauft 1,25 Millionen Einheiten in Lizenz hergestellter 5.56 x 45 mm Munition.
»Für Sturmgewehre«, bemerkt Saga.
»Die Ware wird nach Kenia geliefert«, fährt Axel fort, »aber die Munition ist nicht für Kenia bestimmt. Sie soll in den Sudan weitertransportiert werden, zur Miliz in Darfur. Plötzlich ging mir ein Licht auf. Es ist doch vollkommen klar, dass die Munition in den Sudan gehen soll, wenn man bedenkt, dass der Käufer von Agathe al-Haji repräsentiert wird.«
»Aber wie kommt Kenia ins Spiel?«, fragt Joona.
»Die vier in der Loge haben sich doch nach dem Haftbefehl gegen al-Bashir getroffen, nicht wahr? Bartóks zweites Streichquartett ist nur einmal gespielt worden. Es ist verboten, in den Sudan zu exportieren, nicht aber nach Kenia, Ausfuhren in das südliche Nachbarland sind weiterhin kein Problem.
»Wie können Sie sich so sicher sein?«, möchte Saga wissen.
»Nach Carl Palmcronas Selbstmord ist der Vorgang an mich übertragen worden. Es war sein letzter Auftrag, und er hat ihn nicht abgeschlossen. Ich habe versprochen, die Ausfuhrgenehmigung heute zu unterzeichnen«, antwortet Axel Riessen.
»Es ist die gleiche Munition, das gleiche Geschäft. Nach dem Haftbefehl gegen den Präsidenten haben sie bloß den Sudan gestrichen und stattdessen Kenia eingesetzt«, fasst Saga zusammen.
»Die Sache ist hieb- und stichfest gewesen«, sagt Axel.
»Bis jemand das Treffen fotografierte«, sagt Joona.
»Als Palmcrona sich das Leben nahm, waren die Vorbereitungen abgeschlossen, wahrscheinlich dachten alle, er hätte die Ausfuhrgenehmigung bereits unterschrieben«, sagt Axel Riessen.
»Es hat sie bestimmt ziemlich gestresst, als ihnen klar wurde, dass dies nicht der Fall war«, sagt Joona lächelnd.
»Das ganze Geschäft hing in der Luft«, bemerkt Saga.
»Ich bin sehr schnell angeworben worden«, erzählt Axel Riessen. »Man hat mir den Stift zum Unterschreiben förmlich in die Hand gedrückt.«
»Aber?«
»Ich wollte zu einer eigenen Einschätzung kommen.«
»Und das sind Sie.«
»Ja.«
»Und es sah alles gut aus?«, fragt Saga.
»Ja … und ich versprach zu unterzeichnen, und das hätte ich auch ohne zu zögern getan, wenn ich nicht dieses Foto gesehen und mit Kenia in Verbindung gebracht hätte.«
Sie schweigen alle und betrachten den kleinen Jungen aus Bronze, Stockholms kleinstes öffentliches Kunstwerk. Joona lehnt sich vor und tätschelt seinen blanken Kopf. Nach einem ganzen Tag in der Sonne strahlt das Metall Körperwärme ab.
»Sie sind zur Stunde dabei, den Frachter im Hafen von Göteborg zu beladen«, sagt Axel Riessen leise.
»Das habe ich schon verstanden«, meint Saga. »Aber ohne Ausfuhrgenehmigung …«
»Diese Munition wird Schweden niemals verlassen«, konstatiert Axel.
»Sie haben gesagt, es wird von Ihnen erwartet, dass Sie die Ausfuhrgenehmigung heute noch unterzeichnen«, sagt Joona. »Können Sie das irgendwie hinauszögern? Es ist für unsere Ermittlungen sehr wichtig, dass Sie denen keinen Bescheid geben.«
»Sie werden nicht Däumchen drehen und warten.«
»Sagen Sie ihnen, Sie wären noch nicht ganz durch«, schlägt Joona vor.
»Okay, aber das wird schwierig. Das Geschäft hat sich meinetwegen bereits verzögert, aber gut, ich werde es versuchen«, erwidert Axel Riessen.
»Es geht mir dabei nicht nur um unsere Ermittlungen, sondern auch um Ihre Sicherheit«, sagt Joona.
Axel lächelt.
»Sie meinen, die könnten mir drohen?«
Joona erwidert das Lächeln.
»Solange diese Leute von einer positiven Entscheidung ausgehen, besteht keine Gefahr«, antwortet er. »Aber wenn Sie Nein sagen, werden einige Menschen immense Investitionen verlieren. Ich habe keine Ahnung, wie viel Schmiergelder in Kenia geflossen sind, um dort dafür zu sorgen, dass die richtigen Leute beide Augen zudrücken.«
»Ich werde meine Unterschrift nicht ewig hinauszögern können, Pontus Salman versucht schon den ganzen Tag, mich zu erreichen. Diese Leute kennen die Branche, die lassen sich nicht hinters Licht führen«, sagt Axel Riessen, und im selben Moment klingelt sein Handy.
Er wirft einen kurzen Blick auf das Display und erstarrt.
»Ich glaube, das ist wieder Pontus Salman …«
»Gehen Sie ran«, sagt Joona.
»Okay«, erwidert Axel und meldet sich.
»Ich habe schon mehrfach versucht, Sie zu erreichen«, sagt Salman mit seiner schleppenden Stimme. »Sie wissen doch … das Containerschiff ist beladen, und es kostet Geld, länger als geplant im Hafen zu liegen, der Reeder hat versucht, Sie zu erreichen, er scheint noch keine Ausfuhrgenehmigung bekommen zu haben.«
»Es tut mir sehr leid«, erwidert Axel und sieht Joona und Saga an. »Ich habe leider keine Zeit gehabt, die letzten Unterlagen zu bearbeiten, um …«
»Ich habe mit der Kanzlei des Premierministers gesprochen, Sie wollten doch heute unterschreiben.«
Axel zögert, seine Gedanken gehen in verschiedene Richtungen, am liebsten würde er das Gespräch abbrechen, stattdessen räuspert er sich jedoch leise, entschuldigt sich und lügt.
»Ein anderes Geschäft ist dazwischengekommen.«
Axel hört den falschen Klang in seiner Stimme, die Antwort kam ein wenig zu spät. Er war kurz davor, die Wahrheit zu sagen, dass es keine Ausfuhrgenehmigung geben wird, weil die Munition nach Darfur geschmuggelt werden soll.
»Ich hatte den Eindruck gewonnen, dass die Angelegenheit spätestens heute erledigt sein würde«, erklärt Salman, ohne seinen Ärger zu verbergen.
»Sie sind ein Risiko eingegangen«, sagt Axel.
»Wie meinen Sie das?«
»Ohne Ausfuhrgenehmigung wird es keinen Export …«
»Aber wir haben doch … Entschuldigen Sie.«
»Sie haben die Erlaubnis bekommen, die Munition herzustellen, Sie haben einen positiven vorläufigen Bescheid erhalten, und ich habe wohlwollend reagiert, aber das ist auch alles.«
»Es steht viel auf dem Spiel«, sagt Salman gefügiger. »Kann ich dem Reeder irgendetwas ausrichten? Können Sie in etwa abschätzen, wie lange es noch dauern wird? Er muss wissen, wie lange sein Schiff noch im Hafen liegen muss, es geht um die ganze Logistik.«
»Ich stehe dem Export nach wie vor positiv gegenüber, werde aber alles noch ein letztes Mal durchsehen und Ihnen danach Bescheid geben«, sagt Axel.