31 Die Mitteilung

Joona lehnt an der Wand, blinzelt, um wieder etwas sehen zu können, und merkt, dass jemand bei ihm steht, nach ihm aus dem Zimmer mit den nackten jungen Leuten gekommen sein muss. Er spürt eine Hand auf seinem Rücken und erahnt durch die schwarzen Schmerzschleier hindurch ein Gesicht.

»Was ist passiert?«, fragt Saga Bauer leise. »Bist du verletzt?«

Er versucht, den Kopf zu schütteln, hat aber zu starke Schmerzen, um sprechen zu können. Es kommt ihm vor, als würde mitten durch Haut, Kranium, Gehirnstamm und die zähe Gehirnflüssigkeit ein Haken gezogen.

Joona fällt auf die Knie.

»Du musst hier raus«, sagt sie.

Er spürt, dass Saga sein Gesicht anhebt, kann aber nichts sehen. Sein ganzer Körper ist in Schweiß gebadet, er fühlt ihn aus den Achselhöhlen und von Nacken und Rücken herablaufen, spürt ihn in seinem Gesicht, am Haaransatz und auf der Stirn.

Saga tastet in seinen Kleidern, weil sie annimmt, dass es sich um einen epileptischen Anfall handelt, weshalb sie in seinen Taschen nach Medikamenten sucht. Er nimmt vage wahr, dass sie sein Portemonnaie nimmt und in ihm nach einem Epilepsieausweis sucht.

Nach einer Weile lässt der Schmerz nach, Joona befeuchtet mit der Zunge seinen Mund und blickt auf. Seine Kiefer sind angespannt, und der ganze Körper schmerzt nach dem Mirgräneanfall.

»Ihr dürft noch nicht kommen«, flüstert er. »Ich muss …«

»Was zum Teufel ist passiert?«

»Nichts«, antwortet Joona und hebt seine Pistole vom Boden auf.

Er steht auf und geht, so schnell er kann, an den herabhängenden Plastiklamellen vorbei in den Raum. Er ist leer. An der gegenüberliegenden Wand leuchtet ein Notausgangsschild. Saga folgt ihm und wirft ihm einen fragenden Blick zu. Joona öffnet die Tür des Notausgangs und sieht eine steile Treppe, die zu einer weiteren Stahltreppe zur Straße führt.

»Perkele«, murmelt er.

»Rede mit mir«, sagt Saga wütend.

Joona hat die Ursache seiner Krankheit dauerhaft verdrängt, er weigert sich, daran zu denken, was vor vielen Jahren geschehen ist und zur Folge hat, dass manchmal ein solcher Schmerz durch sein Gehirn pulsiert, dass er für ein oder zwei Minuten völlig außer Gefecht gesetzt ist. Seinem Arzt zufolge handelt es sich um eine extreme Form körperlich verursachter Migräne. Es hat sich gezeigt, dass bei ihm nur das vorbeugende Epilepsiemedikament Topiramat wirkt. Eigentlich soll Joona das Medikament regelmäßig nehmen, aber wenn er arbeiten und klar denken muss, weigert er sich, weil es ihn müde macht und er das Gefühl hat, dass es sein Denken beeinträchtigt. Er weiß, dass er ein Risiko eingeht. Manchmal kann er wochenlang auf das Medikament verzichten, ohne einen Migräneanfall zu bekommen, dann wieder bekommt er schon wenige Tage nach dem Absetzen einen Anfall.

»Sie haben hier einen Typen gefoltert, einen Neonazi, glaube ich, aber …«

»Gefoltert?«

»Ja, mit einer Zigarre«, antwortet er und geht durch den Gang zurück.

»Was ist passiert?«

»Ich konnte nicht …«

»Also ich bitte dich«, unterbricht sie ihn. »Du solltest vielleicht nicht, ich meine … operativ arbeiten, wenn du krank bist.«

Sie streicht sich über das Gesicht.

»Was für eine verdammte Scheiße«, flüstert sie.

Joona durchquert das Zimmer mit der Clownlampe und hört, dass Saga ihm folgt.

»Was treibst du hier überhaupt?«, fragt sie. »Die Einsatztruppe des Staatsschutzes wird diese Räume jeden Moment stürmen. Wenn sie sehen, dass du bewaffnet bist, schießen sie, das weißt du genau, es wird dunkel sein, sie werden Tränengas einsetzen und …«

»Ich muss mit Daniel Marklund sprechen«, unterbricht Joona sie.

»Eigentlich dürftest du nicht einmal wissen, wer das ist«, erwidert sie und folgt ihm die Wendeltreppe hinauf. »Wer hat dir das erzählt?«

Joona geht in einen der Gänge, bleibt jedoch stehen, als er bemerkt, dass Saga in eine andere Richtung zeigt. Er folgt ihr, sieht, dass sie losläuft, zieht seine Waffe, rennt um eine Ecke und hört sie rufen.

Saga ist im Türrahmen zu einem Raum mit fünf Computern stehen geblieben. In einer Ecke des Zimmers steht ein junger Mann mit Bart und schmutzigen Haaren. Es ist Daniel Marklund. In der Hand hält er ein russisches Bajonettmesser.

»Wir sind Polizisten und möchten Sie bitten, das Messer wegzulegen.« Saga hält ruhig ihren Dienstausweis hoch.

Der junge Mann schüttelt den Kopf und bewegt das Messer vor seinem Körper, dreht die Klinge schnell in verschiedenen Winkeln.

»Wir wollen nur mit Ihnen reden«, sagt Joona und steckt seine Pistole ins Halfter zurück.

»Dann redet.« Daniels Stimme ist angespannt.

Joona geht auf ihn zu und begegnet Marklunds gestresstem Blick. Er beachtet das Messer nicht, das auf ihn gerichtet wird, die Klinge, die geschliffene Spitze.

»Daniel, das können Sie wirklich nicht besonders gut«, erklärt Joona lächelnd.

Die glänzende Klinge riecht nach Waffenfett. Daniel Marklund lässt das Bajonettmesser schneller kreiseln, und als er antwortet, ist sein Blick konzentriert.

»Nicht nur Finnen können mit einem Messer um- …«

Joona macht einen schnellen Ausfallschritt, packt das Handgelenk des jungen Mannes, entwindet ihm mit einer sanften Bewegung das Messer und legt es auf den Tisch.

Es wird still, die beiden Männer sehen sich an, und schließlich zuckt Daniel Marklund mit den Schultern.

»Ich kümmere mich vor allem um die Computer«, sagt er entschuldigend.

»Man wird uns bald unterbrechen«, sagt Joona. »Erzählen Sie uns, was Sie bei Penelope Fernandez zu suchen hatten.«

»Ich wollte sie besuchen.«

»Herr Marklund«, sagt Joona finster. »Für die Sache mit dem Messer kämen sie garantiert ins Gefängnis, aber ich habe Wichtigeres zu tun, als Sie zu verhaften, und deshalb gebe ich Ihnen die Möglichkeit, mir etwas Zeit zu sparen.«

»Gehört Penelope Fernandez zur Brigade?«, fragt Saga schnell.

»Penelope Fernandez?« Daniel Marklund lächelt. »Sie ist eine entschiedene Gegnerin von uns.«

»Was haben Sie dann mit ihr zu tun?«, will Joona wissen.

»Was meinen Sie damit, dass sie eine Gegnerin ist?«, fragt Saga. »Geht es um einen Machtkampf zwischen …«

»Weiß der Staatsschutz denn wirklich gar nichts?«, fragt Daniel mit einem müden Lächeln. »Penelope Fernandez ist Pazifistin und überzeugte Demokratin. Also mag sie unsere Methoden nicht … aber wir mögen sie.«

Er setzt sich auf einen Stuhl vor zwei Computer.

»Mögen?«

»Wir respektieren sie«, erklärt er.

»Aber warum?«, fragt Saga erstaunt. »Warum sollten …«

»Sie haben ja keine Ahnung, wie sehr sie gehasst wird … ich meine, googeln Sie mal ihren Namen, es ist ziemlich brutal, was da alles gesagt wird … und jetzt hat offenbar irgendwer eine Grenze überschritten.«

»Was meinen Sie mit ›eine Grenze überschritten‹?«

Daniel wirft ihnen einen leidgeprüften Blick zu.

»Sie wissen, dass sie verschwunden ist?«

»Ja«, antwortet Saga.

»Gut«, sagt er. »Das ist gut, aber aus irgendeinem Grund mag ich mich nicht darauf verlassen, dass die Polizei wirklich alles tun wird, um sie zu finden. Deshalb bin ich zu ihrer Wohnung, ich musste an ihren Computer, um zu erfahren, was dahintersteckt. Sehen Sie, die sogenannte Schwedische Widerstandsbewegung hat in ihrem Rundbrief im April, natürlich inoffiziell, dazu aufgefordert, die kommunistische Hure Penelope Fernandez zu kidnappen und zu einer Sexsklavin für die ganze Bewegung zu machen. Sehen Sie sich das mal an …«

Daniel Marklund tippt auf einer der Computertastaturen und dreht den Bildschirm anschließend in Joonas Richtung.

»Jetzt sind wir bei der Arischen Bruderschaft eingeloggt«, sagt er.

Joonas Augen überfliegen einen entsetzlich vulgären Chat über arische Schwänze und wie man Penelope umbringen wird.

»Diese Gruppen haben aber nichts mit Penelopes Verschwinden zu tun«, wendet Joona ein.

»Haben sie nicht? Wer denn dann? Der Nordische Bund?«, fragt Daniel aufgebracht. »Jetzt kommen Sie! Es ist noch nicht zu spät.«

»Was meinen Sie damit, dass es noch nicht zu spät ist?«, fragt Joona.

»Sonst ist es doch immer so, dass es schon zu spät ist, wenn man endlich reagiert. Aber diesmal habe ich eine Nachricht auf dem AB ihrer Mutter aufgeschnappt … Ich meine, die Zeit war anscheinend verdammt knapp, aber es war noch nicht zu spät, und deshalb musste ich einfach an ihren Computer herankommen und …«

»Aufgeschnappt?«, unterbricht Joona ihn.

»Sie hat heute Morgen versucht, ihre Mutter anzurufen«, antwortet der junge Mann, wobei er sich nervös in den schmutzigen Haaren kratzt.

»Penelope Fernandez?«

»Ja.«

»Was hat sie gesagt?«, fragt Saga.

»Dass nicht nur der Staatsschutz weiß, wie man Telefone abhört«, sagt er mit einem breiten Grinsen.

»Was hat Penelope gesagt?«, wiederholt Joona mit erhobener Stimme.

»Dass sie verfolgt wird.«

»Was hat sie genau gesagt?«

Daniel wirft Saga Bauer einen kurzen Blick zu und fragt:

»Wie viel Zeit bleibt uns noch, bis unsere Räume gestürmt werden?«

Saga sieht auf die Uhr:

»Drei bis vier Minuten«, antwortet sie.

»Dann können wir es uns noch anhören«, erklärt Daniel Marklund, tippt auf der zweiten Tastatur einige schnelle Kommandos ein und dreht anschließend den Ton laut.

Es rauscht in den Boxen, und dann klickt es und der Ansagetext von Claudia Fernandez’ Anrufbeantworter wird abgespielt. Drei kurze Töne erklingen, und dann knistert und kracht es heftig, weil der Empfang so schlecht ist. Irgendwo im Hintergrund, überlagert von den Störungen, hört man eine schwache Stimme. Es ist eine Frau, aber ihre Worte sind nicht zu verstehen. Einige Sekunden später hört man einen Mann »Suchen Sie sich einen Job« sagen, und dann klickt es und wird still.

»Entschuldigung«, murmelt Daniel. »Ich muss noch ein paar Filter dazwischenschalten.«

»Die Zeit läuft ab«, flüstert Saga.

Er verschiebt einen Regler auf dem Bildschirm, betrachtet sich kreuzende Frequenzkurven, ändert einige Zahlen und spielt die Tonaufnahme anschließend noch einmal ab:

»Dies ist der Anschluss von Claudia Fernandez – ich bin zurzeit leider nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht, ich rufe Sie dann so schnell wie möglich zurück.«

Die drei Töne klingen anders, und das Knistern erinnert nun an ein schwaches metallisches Klirren.

Plötzlich hört man Penelope Fernandez’ Stimme.

»Mama, ich brauche Hilfe, ich werde verfolgt von …«

»Suchen Sie sich einen Job«, sagt ein Mann, und daraufhin wird es still.

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